Parlament

Bundestag erhebt sich zu Ehren von Michail Gorbatschow

Der Bundestag hat am Mittwoch, 7. September 2022, dem früheren sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow gedacht und sich zu einer Schweigeminute erhoben. Zuvor würdigte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas den verstorbenen Friedensnobelpreisträger als einen Mann, der die Welt zum Besseren verändert habe und der als großer Freiheitsgeber in Erinnerung bleiben werde. An der Gedenkminute im Parlament nahm auch Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier teil. Das Reichstagsgebäude wurde halbmast beflaggt.

Die Bundestagsabgeordenten stehen in Gedenken im Plenarsaal

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages erheben sich zu einer Gedenkminute an Michail Gorbatschow. (© DBT/Thomas Imo/photothek)

Gorbatschow starb am 30. August 2022 in einem Moskauer Krankenhaus im Alter von 91 Jahren. Er wurde am 3. September in der russischen Hauptstadt beigesetzt. 

„Der Wegbereiter der Wiedervereinigung“ 

Indem er den Kalten Krieg friedlich beendete und die Teilung Deutschlands und Europas zu überwinden half, habe Gorbatschow möglich gemacht, was über Jahrzehnte undenkbar schien, sagte Bas über den früheren Staatsmann, der gut 23 Jahre zuvor, am 9. November 1999, in einer Feierstunde zum 10. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer vor dem Deutschen Bundestages gesprochen hatte. „Sein Mut und seine Haltung waren entscheidend für die Wiedererlangung unserer staatlichen Einheit – diesen einzigartigen und großen Moment unserer Geschichte. Das werden wir nicht vergessen“, betonte die Bundestagspräsidentin. 

Mit seinem „unverhofften Aufbruch in eine neue Politik“ habe der „Wegbereiter der Wiedervereinigung“ den Menschen in der DDR Mut gemacht, sich selbst zu ermächtigen. So habe etwa sein Besuch in Ost-Berlin im Oktober 1989 zum 40. Staatsjubiläum der DDR dazu beigetragen, dass die Deutschen in der DDR gegen die SED-Diktatur aufbegehrten, sagte Bas. Seine Politik des erklärten Gewaltverzichts habe zur Freiheit von Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa geführt. 

Bas: Gorbatschow war ein Vertrauensstifter

„Für mich war er einer der großen Vertrauensstifter des vergangenen Jahrhunderts“, gab sich Bas persönlich und erinnerte etwa an das Treffen Gorbatschows mit US-Präsident George Bush vor Malta 1989, bei dem er das Ende des Kalten Krieges verkündete, sowie an das Gipfeltreffen mit Helmut Kohl im Nordkaukasus im Sommer 1990, bei dem er der Nato-Mitgliedschaft des künftigen wiedervereinigten Deutschlands zustimmte. 

„Mit seiner Versöhnungsbereitschaft leistete er Unschätzbares für die historische Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen“, unterstrich Bas und drückte zugleich ihr Bedauern darüber aus, „dass eine Partnerschaft mit Russland derzeit nicht möglich“ sei.

Das „neue Denken“ im Kreml

Gorbatschow habe ein „neues Denken“ in den Kreml gebracht und die Abkehr vom Gleichgewicht des nuklearen Schreckens gesucht. Mit dem INF-Vertrag über die Vernichtung der atomaren Mittelstreckenwaffen hätten Gorbatschow und Ronald Reagan 1987 das Ende des nuklearen Wettrüstens zwischen den Großmächten eingeläutet, rief die Bundestagspräsidentin in Erinnerung. 

Bärbel Bas steht am Platz des Präsidiums im Plenarsaal und spricht

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas während ihrer Gedenkrede vor dem Plenum des Bundestages. (© DBT/Thomas Imo/photothek)

Im Inland habe Gorbatschow versucht, das Leben der Sowjetbürger mit Reformen zu verbessern und dem Sozialismus ein menschliches Antlitz zu geben. „Er wollte die Angst in der Beziehung zwischen dem Volk und der Staatsführung durch Dialog ersetzen“, so Bas. Mit einem Mal habe man in der Sowjetunion frei sprechen können, ohne Haft befürchten zu müssen. Sogar über die Verbrechen des Stalinismus oder den Gulag. Aber, so Bas mit Blick etwa auf den Putsch gegen Gorbatschow im August 1991 und das Freiheitsstreben der Sowjetvölker: „Die Sowjetunion war nicht mehr reformierbar“. Nach ihrem Zusammenbruch sei Gorbatschow teils einsam im eigenen Land geworden, sagte Bas. In Russland – das zeige sich auch in den unterschiedlichen Reaktionen auf seinen Tod – würden ihm der „Zerfall des Imperiums und die Not der 1990er Jahre“ teils schwer angelastet. 

„Zwischen Russland und Europa klafft ein tiefer Graben“

Mit Blick auf die deutsch-russischen Beziehungen gab sich Bas in ihrer Rede auch selbstkritisch: „Gerade wir Deutschen haben zu lange Gorbatschows Streben nach Verständigung, Frieden und Partnerschaft als Grundlage unserer Beziehungen mit Russland vorausgesetzt. Dabei haben wir übersehen oder vielleicht auch nicht wahrhaben wollen, dass sich Russland unter Putin längst und radikal von Gorbatschows Zielen abgewandt hatte.“ 

Zwischen Russland und Europa klaffe heute ein tiefer Graben: „Dort, wo nach Gorbatschows Vision ein gemeinsames Europäisches Haus entstehen sollte.“ Dass alles, wofür Gorbatschow stand, heute auf so eklatante Weise verletzt und zerstört werde, schmerze sie zutiefst, sagte Bas. In einem Brief an Helmut Kohl 1990, habe Gorbatschow sich überzeugt gezeigt, dass die Überwindung des Blocksystems und die Gestaltung neuer Sicherheitsstrukturen im gesamteuropäischen Geiste zu suchen sei. Heute aber sei es „Russland, das unter Putin mit diesem Geist gebrochen hat. Das ist ein tragischer Fehler. Es ist Russland, das die Ukraine angreift und mit Waffengewalt die europäische Friedensordnung zerstört“, sagte Bas.

„Man kann, wenn man will“

Aber auch in solchen „dunklen Stunden“ könne Gorbatschows Mut Zuversicht für die „großen Herausforderungen, vor denen wir stehen“, vermitteln, gab sich Bundestagspräsidentin Bas überzeugt. „Er war ein Humanist. Er glaubte an die Menschen und ihre Möglichkeiten.“  

„Man kann, wenn man will!“, zitierte die Parlamentspräsidentin den früheren sowjetischen Präsidenten. Die Welt müsse nicht bleiben, wie sie ist. „Auch nicht nach diesem brutalen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt“, fügte sie hinzu. Aber für ein „besseres Morgen und Übermorgen“ brauche es mutige Menschen, die für eine friedliche, gerechte und nachhaltige Welt bereit seien, Risiken einzugehen und eingetretene Pfade zu verlassen: „Politiker und Persönlichkeiten wie Michail Sergejewitsch Gorbatschow“ (ste/07.09.2022)