Schäuble würdigt Stenografen: „Sie schreiben Parlamentsgeschichte“
Fast ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Dr. Wolfgang Schäuble den Stenografinnen und Stenografen des Deutschen Bundestages zum ersten Mal – wie er selbst sagt – „Arbeit gemacht“ hat. Am 10. Mai 1973 dokumentieren flinke Hände den allerersten Wortbeitrag des jungen Abgeordneten, halten seine Zwischenfrage aus dem Plenum in Bonn für die Geschichtsschreibung fest. Dass er ihnen viele Jahre später vom Podium des Bundestagspräsidenten aus über die Schultern schauen würde, ahnt der Dreißigjährige zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Wenige Meter vom Plenarsaal entfernt erinnerte sich Schäuble am Wochenende vom 9. und 10. Oktober 2021 an dieses erste Plenarprotokoll mit seinem Namen, während er den Blick über die Stuhlreihen im Raum gleiten ließ: Einige Dutzend Stenografinnen und Stenografen aus ganz Deutschland waren im Europasaal des Paul-Löbe-Hauses versammelt, weitere 20 per Video zugeschaltet. Der Anlass: Auf Einladung des Bundestagspräsidenten feierten die Mitglieder des Verbands der Verhandlungs- und Parlamentsstenografen ihren jährlichen Verbandstag im Bundestag in Berlin.
Lebhafte Debattenkultur
Aus Sicht des Bundestagspräsidenten sind Stenografen immer auch Chronisten: „Sie schreiben buchstäblich Parlamentsgeschichte“, sagte Schäuble und fügte hinzu: „in Höchstgeschwindigkeit.“ Ihre Protokolle ermöglichten nachfolgenden Generationen Einblick in die „hellen und dunklen Stunden“ des Parlamentarismus. Dabei fange das Plenarprotokoll die Debatte „in ihrer ganzen Dynamik und Lebendigkeit“ ein. Es erfasse, was Kameras entgehe. „Beifall und Heiterkeit, Unruhe und Tumult.“ Nach den Worten des Bundestagspräsidenten bringen Stenografen so maximale Transparenz mit einem Minimum an Zeichen und zugleich größter Genauigkeit.
Schließlich dokumentiert das Team von Dr. Bärbel Heising, Vorsitzende des Verbandes der Parlaments- und Verhandlungsstenografen e.V. und Leiterin des stenografischen Dienstes, nicht nur alle Reden. Auch jeder Zwischenruf wird in Sekundenschnelle zu Papier gebracht. Jeder Applaus aus den Reihen, jeder Widerspruch. Selbst Nonverbales, sofern es die Atmosphäre im Saal prägt. „Die Debattenkultur in unserem Haus ist ausgesprochen lebhaft“, sagte Heising. Manchmal gebe es auf Redebeiträge fünf oder sechs Reaktionen gleichzeitig. Ton- und Videoaufnahmen könnten dann vielleicht noch festhalten, dass es Zurufe gegeben habe, was genau gesagt wurde und vor allem von wem jedoch nicht.
Dokumentation und schnelle Information
Die Stenografischen Berichte sorgen dafür, dass all das nachgelesen werden kann. Im Grundgesetz heißt es: Der Bundestag verhandelt öffentlich. Diese Öffentlichkeit werde über verschiedene Wege hergestellt, meinte Heising. Etwa über das Parlamentsfernsehen, die Online-Dienste – und über die Plenarprotokolle. Sie dienen sowohl der Dokumentation, als auch der raschen Information, wobei letzteres aus Sicht der Verbandsvorsitzenden zunehmend wichtiger wird.
Dabei hat Deutschland einen der schnellsten Protokollierungsdienste der Welt: Die Plenarprotokolle liegen zum großen Teil bereits am nächsten Werktag vor. Die protokollierten Debattenpunkte des Vormittags werden sogar parallel zum laufenden Plenarbetrieb veröffentlicht. Um 22 Uhr startet ein Spätdienstteam mit seiner Arbeit, dessen Niederschrift jedoch erst am darauffolgenden Dienstag veröffentlicht wird. Eine Reaktion auf immer längere Sitzungstage, erklärte Heising.
Wechsel im Zehn-Minuten-Turnus
Das Geschehen im Plenarsaal dokumentieren die Stenografinnen und Stenografen an ihrem Tisch zwischen Rednerpult und Plenum. Eine „außergewöhnlich anspruchsvolle Tätigkeit und Fertigkeit“, sagte Bundestagspräsident Schäuble. Vor allem eine, die höchste Konzentration verlangt. Alle zehn Minuten wird deshalb gewechselt.
Nach ihrer Zeit im Plenarsaal eilen die Stenografinnen und Stenografen in ihr Büro, wo sie den in Redeschrift verfassten Text einer Schreibkraft diktieren. Diese Kurzschrift ermöglicht eine Schreibgeschwindigkeit von bis zu 500 Silben je Minute. Zum Vergleich: Mit einer durchschnittlichen Handschrift lassen sich etwa 40 Silben je Minute mitschreiben. Revisoren, die das Geschehen im Plenarsaal für jeweils 30 Minuten dokumentieren, lesen die Protokolle gegen und nehmen, wenn nötig, Korrekturen vor. Auch jede Rednerin und jeder Redner hat vor der Veröffentlichung das Recht, die Niederschrift zu prüfen.
Dabei sind die Schreibkünste der Stenografinnen und Stenografen auch außerhalb des Plenarsaals gefragt: So protokolliert Heisings Team zum Beispiel Beweiserhebungen in Untersuchungsausschüssen oder Anhörungen in den Fachausschüssen.
Erschwerte Bedingungen
Was für Otto-Normal-Schreiber schon unter gewöhnlichen Bedingungen wie eine unlösbare Aufgabe klingen mag, wird angesichts eines Bundestages in Rekordgröße und der Coronapandemie auch für erfahrene Stenografinnen und Stenografen zur Herausforderung, weiß Volker Görg, Leiter der Unterabteilung Parlamentsdienste. Schließlich muss Heisings Team alle 735 Abgeordneten kennen, wenn das neue Parlament Ende Oktober zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommt. Auch jene, die zum ersten Mal im Bundestag sitzen. Masken, die das halbe Gesicht verdecken, erhöhen den Schwierigkeitsgrad zusätzlich.
Bereits der 19. Deutsche Bundestag startete 2017 mit einer Rekordgröße: 709 Abgeordnete, darunter 289 Bundestagsneulinge. Er habe „einen riesen Respekt vor jedem, der diesen Namen ein Gesicht zuordnen kann“, sagte Görg. Dabei war die Zahl der Abgeordneten aus Sicht des Unterabteilungsleiters bei weitem nicht die einzige Herausforderung: Untersuchungsausschüsse, immer länger werdende Sitzungstage und eine massive Zunahme an Zwischenrufen aus dem Plenum, schließlich Corona. All das habe Heisings Team „ganz hervorragend gemeistert“.
Stenografie im Zeichen der Digitalisierung
Wie stark die vergangene Wahlperiode von Wandel geprägt war, unterstrich auch Heising. Ihr Eindruck: „Die Veränderungen, die wir erlebt haben, werden sich fortsetzen.“ Es werde vieles anders – auch wegen der zunehmenden Digitalisierung. Dabei habe sich der Berufsstand der Stenografen stets als „innovationsfreudig“ gezeigt, meinte Bundestagspräsident Schäuble. Um mit der Gegenwart schritthalten zu können, müsse er auch weiterhin offen für den Fortschritt sein.
Aus Sicht der Verbandsvorsitzenden ergeben sich durch die Digitalisierung auch neue Möglichkeiten. Als Beispiel nannte Heising ein Projekt, das Plenarprotokolle und Videoaufzeichnungen synchronisiert: „Videos sind nicht durchsuchbar, unsere Plenarprotokolle schon“, erklärte sie. Für die stenografischen Berichte sei dies ein ganz neuer Verwendungszweck.
150-jähriges Jubiläum
Außer auf die aktuellen Arbeitsbedingungen und eine Zukunft im Zeichen der Digitalisierung richteten die Verbandsmitglieder ihren Blick auch in die Vergangenheit. Genauer gesagt auf die vergangenen 150 Jahre, so alt ist der stenografische Dienst in Reichstag und Bundestag.
Aus Anlass des Jubiläums nahm Dr. Detlef Peitz die Anwesenden mit auf eine Zeitreise: angefangen 1871 im Preußischen Abgeordnetenhaus während des Kaiserreichs über die Weimarer Republik und die NS-Zeit bis hin zu den stenografischen Diensten im Bundestag in Berlin. Dass die Protokolle nach dem Zweiten Weltkrieg als Beweismittel zum Beispiel bei den Nürnberger Prozessen dienten, unterstreicht die Bedeutung der Stenografie. Sie ist eine „Quelle der parlamentarischen Geschichtsschreibung“, sagte Unterabteilungsleiter Görg.
Und so werden die Stenografinnen und Stenografen des Deutschen Bundestages Ende Oktober auch nach 150 Jahren dabei sein, wenn das neu gewählte Parlament zu seiner ersten Sitzung zusammenkommt. „Ihre Handschrift“, sagte Schäuble, „wird unsere Demokratie auch weiterhin prägen.“ (irs/11.10.2021)