Zeit, Geld und Infrastruktur entscheidend für erfolgreiche Familienpolitik
Zeit, Geld und Infrastruktur sind die entscheidenden Stellschrauben für eine erfolgreiche Familienpolitik. Dies war der einhellige Tenor in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter Vorsitz von Sabine Zimmermann (Die Linke) am Montag, 17. Mai 2021, über den Neunten Familienbericht der Bundesregierung mit dem Titel „Eltern sein in Deutschland – Ansprüche, Anforderungen und Angebote bei wachsender Vielfalt“ (19/27200).
„Sozialer Spaltung durch Ganztagsangebote vorbeugen“
Prof. Dr. Sabine Walper, Forschungsdirektorin beim Deutschen Jugendinstitut und Vorsitzende der Sachverständigenkommission des Neunten Familienberichts, führte aus, dass Familienpolitik als Querschnittsaufgabe aller Ressorts in Bund, Ländern und Kommunen verstanden werden müsse. Sie verwies auf die gravierenden Folgen der Corona-Pandemie auf die Familien. Der sich abzeichnenden verstärkten sozialen Spaltung müsse durch den Ausbau der Bildungsinfrastruktur, vor allem von Ganztagsangeboten, begegnet werden.
Die Zusammenarbeit von Schulen und Eltern müsse durch ein Bundesprogramm gefördert werden, forderte Walper. Zudem sprach sie sich für eine Ausweitung des Programms „Elternchancen“ auf den Grundschulbereich und für die Etablierung von Elternzentren an allen Schulen und den Ausbau digitaler Angebote aus.
„Leistungen für Kinder zu einer Kindergrundsicherung umbauen“
Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, wies darauf hin, dass in vielen Fällen gegen Kinderarmut auch keine „harte Arbeit“ der Eltern helfe. All zu oft seien die Löhne der berufstätigen Eltern zu gering oder allenfalls auf der Höhe des Existenzminimums. Ein Stundenlohn von zehn Euro reiche vielleicht für einen Single zum Leben, bei einem Kind werde aber bereits ein Stundenlohn von mindestens 13 Euro und beim zweiten Kind von mindestens 16 Euro benötigt.
Der Kinderschutzbund plädiert für einen Umbau der existierenden monetären Leistungen für Kinder zu einer Kindergrundsicherung. Dazu gehöre die Neuberechnung des kindlichen Existenzminimums, die Bündelung von Leistungen, eine sozial gerechte Ausgestaltung und die automatische Auszahlung.
„Erwerbstätigkeit beider Elternteile schützt vor Verarmung“
Prof. Dr. Axel Plünnecke vom Institut der deutschen Wirtschaft verwies darauf, dass die Erwerbstätigkeit beider Elternteile ein wirksamer Schutz vor Verarmung und ökonomischen Risiken darstelle – vor allem angesichts der gestiegenen Scheidungsrate und drohendem Arbeitsplatzverlust des Alleinverdieners.
Um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, sei deshalb ein weiterer Ausbau der Ganztagsbetreuung unverzichtbar, vor allem für Kinder unter drei Jahren und im Grundschulalter. So fehlten noch immer mehr als 340.000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren.
„Kinderbetreuung konsequent ausbauen“
Für den konsequenten Ausbau der Kinderbetreuung plädierten übereinstimmend auch Oliver Schmitz von der Beruf und Familie Service GmbH, Dr. Insa Schöningh von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie und Lisa Sommer vom Zukunftsforum Familie. Schmitz sprach sich zudem für eine Flexibilisierung von Arbeitszeiten aus. In Deutschland müsse man weg von der Präsenzkultur zu einer familienorientierten Unternehmenskultur. Er räumte zugleich aber ein, dass diese Flexibilität ein schwer zu regelnder Bereich sei. Es werde Zeit erfordern, damit sich eine Kultur in allen Unternehmen entwickeln könne.
Schöningh und Sommer monierten, dass der Familienbericht dem Thema Zeit für Familien zu wenig Raum eingeräumt habe, es fehle an neuen Impulsen. Übereinstimmend plädierten die Sachverständigen für eine Weiterentwicklung von Elternzeit und Elterngeld. Vor allem müsse der Aspekt der Partnerschaftlichkeit bei der Elternzeit stärker berücksichtigt werden.
„Vereinbarkeit von Familie und Beruf deutlich verbessert“
Regina Offer von der Bundesvereinigung kommunaler Spitzenverbände bestätigte, dass der Ausbau einer familienfreundlichen Infrastruktur und der Kinderbetreuung weiterhin zu den wichtigsten und größten Herausforderungen für die Kommunen gehöre.
Aber die Vereinbarkeit von Familie und Beruf habe sich deutlich verbessert. So sei die Erwerbsquote bei Frauen auf 73 Prozent gestiegen. Die Kommunen würden derzeit rund 37 Millionen Euro jährlich für die Kindertagesbetreuung aufbringen.
Neunter Familienbericht
Wie es im neunten Familienbericht heißt, ist die Förderung einer inklusiven, diskriminierungsfreien Gesellschaft ein wichtiger Kompass für die Ausrichtung wirkungsvollen Regierens. Hierzu gehöre es, Zuwanderung als Chance und Gestaltungsauftrag zu begreifen, der auch Belange von Familien mit Migrationshintergrund in den Blick nehmen müsse, umso mehr, als der Rückhalt der Familie Integration erleichtere. Gerade angesichts zunehmender rassistischer Tendenzen müsse dem Ausschluss und der Segregation einzelner Gruppen von Zugewanderten entgegengewirkt werden.
Beispielhaft für die Erreichung einer diskriminierungsfreien Gesellschaft sei auch auf die empfohlene Schaffung eines Reproduktionsmedizingesetzes verwiesen, das Frauen wie Männern, Alleinstehenden wie Paaren und gleich- wie gegengeschlechtlichen Paaren bei unerfülltem Kinderwunsch Zugang zu Samen- und Eizellspende sowie Fertilitätsbehandlung bietet. Hiermit könne bei begrenzten Kosten Diskriminierung abgebaut und Rechtssicherheit gewonnen werden. Zugleich müsse gewährleistet werden, dass die rechtliche Elternschaft derjenigen, die auf diesem Wege eine Familie gegründet haben im Interesse der Kinder rechtlich vollständig anerkannt wird.
„Teilhabemöglichkeiten stärken“
Nicht zuletzt die Stärkung der Teilhabemöglichkeiten von Familien mit Beeinträchtigung sei dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft verschrieben. Auch Familien, die von Beeinträchtigungen der Eltern oder Kinder betroffen sind, blieben vielfach im blinden Winkel der Forschung. Besseres Wissen über deren Situation sei jedoch für eine Verbesserung ihrer Rechte und bedarfsgerechter Unterstützungsangebote an der Schnittstelle unterschiedlicher Rechtskreise unabdingbar. Insgesamt werde es darauf ankommen, die Familienorientierung in vielen Bereichen der Gesellschaft zu stärken: im Bildungsbereich, in der Arbeitswelt, in der Gesundheitsversorgung, im Teilhaberecht und in der Forschung, heißt es in dem Bericht.
Eine solche Familienorientierung müsse Mütter, Väter und Kinder in ihrem Alltag in vielfältigen Familienstrukturen und heterogenen Lebenslagen gleichermaßen in den Blick nehmen. Der Aufbau und Erhalt tragfähiger, vertrauensvoller und kompetenter Partnerschaften mit Familien in der Kindertagesbetreuung, in Schulen und in Unternehmen sei für eine wirkungsvolle Stärkung von Familien unabdingbar. Und nicht zuletzt bräuchten Familien auch starke Partnerschaften aller Politikgestaltenden auf den Ebenen von Bund, Ländern und Kommunen unter Einbindung der Zivilgesellschaft – Partnerschaften für Familien, bei denen alle Akteure das Wohlergeben von Familien auch an den Nahtstellen ihrer Zuständigkeiten in den Vordergrund rücken. (aw/vom/19.05.2021)