Der Bundestag hat die Pläne der Bundesregierung gebilligt, Menschen mit Behinderungen die Teilhabe im Alltag sowie im Arbeitsleben zu erleichtern. Mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und AfD und bei Enthaltung von FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen nahmen die Parlamentarier am Donnerstag, 22. April 2021, den Entwurf der Bundesregierung für ein Teilhabestärkungsgesetz (19/27400) in der vom Ausschuss für Arbeit und Soziales geänderten Fassung (19/28834) mehrheitlich an.
Der Debatte lagen außerdem die Stellungnahme des Bundesrates mit der Gegenäußerung der Bundesregierung (19/28395, 19/28605 Nr. 1.13) und ein Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Paragraf 96 der Geschäftsordnung des Bundestages zur Finanzierbarkeit (19/28874) zugrunde.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung (19/27400) bündelt eine Reihe von Neuregelungen, die die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen erleichtern sollen: So sollen Assistenzhunde künftig auch Zutritt zu der Allgemeinheit zugänglichen Anlagen und Einrichtungen haben, wenn Hunde sonst verboten sind. Geplant ist auch, das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) um eine Gewaltschutzregelung zu ergänzen. Leistungserbringer von Reha- und Teilhabeleistungen sollen geeignete Maßnahmen treffen, um den Schutz vor Gewalt, insbesondere für Frauen, zu gewährleisten. Damit soll die Verpflichtung aus Artikel 16 der UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt werden.
Weitere Regelungen betreffen den Bereich von Ausbildung und Arbeit: So soll das Budget für Ausbildung erweitert werden. Künftig sollen auch Menschen, die schon in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten, über das Budget für Ausbildung gefördert werden können. So soll eine weitere Möglichkeit geschaffen werden, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig zu werden. Jobcenter sollen zudem Rehabilitanden so fördern können wie alle anderen erwerbsfähigen Leistungsberechtigten auch.
Entschließung angenommen
Mit den Stimmen der Koalition hat der Bundestag bei Enthaltung der AfD und gegen die Stimmen der drei übrigen Oppositionsfraktionen eine Entschließung angenommen, wonach die Bundesregierung unter anderem dazu aufgefordert wird, darauf hinzuwirken, dass die Rehabilitationsträger die Jobcenter stärker in die Teilhabeplanung einbinden. Bei Bedarf sollen sie dafür das Instrument der Teilhabeplankonferenz zur Bedarfsfeststellung nutzen können.
Die Bundesregierung soll zudem dafür Sorge tragen, dass die Bundesagentur für Arbeit
„rechtzeitig vor dem Inkrafttreten der neuen Regelungen“ zum 1. Januar 2022 Informations- und Schulungsangebote zur Teilhabeplanung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den gemeinsamen Einrichtungen aktualisiert, entwickelt und anbietet, heißt es weiter. Dabei sei auf die Informationsangebote der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation zurückzugreifen. Auch die Schulung von Führungskräften gelte es, mitzubedenken. Außerdem solle eine Gleichstellung von Assistenzhunden als Hilfsmittel nach dem Vorbild der Blindenführhunde im Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung als Option geprüft werden, heißt es in der Entschließung.
Änderungsanträge der Grünen abgelehnt
Vor der Entscheidung über den Gesetzentwurf wurden zwei Änderungsanträge der Grünen abgestimmt, die allerdings beide eine Mehrheit verfehlten. Im ersten (19/28846) wurde ein allgemeiner Anspruch auf Assistenzleistungen bei Aufenthalten in Krankenhäusern, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen verlangt, wenn der Unterstützungsbedarf der Person den Bedarf übersteigt, den Menschen ohne Beeinträchtigung bei vergleichbaren Aufenthalten haben.
Im zweiten Änderungsantrag (19/28847) wollten die Grünen erreichen, dass private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen Menschen mit Behinderungen bei privaten Rechtsgeschäften nicht benachteiligen dürfen. Eine solche Benachteiligung sollte nicht vorliegen, wenn die Beseitigung von Bedingungen, die eine Benachteiligung begründen, vor allem von Barrieren, rechtswidrig oder wegen unverhältnismäßiger Belastungen unzumutbar wäre. Für den ersten Antrag stimmte neben den Grünen auch Die Linke, während die Koalitionsmehrheit ihn ablehnte. AfD und FDP enthielten sich. Der zweite Änderungsantrag scheiterte, mit der Ausnahme, dass die AfD bei dieser Vorlage mit Nein votierte, an denselben Mehrheitsverhältnissen.
Anträge der Opposition abgelehnt
Ebenfalls keine Mehrheit fanden im Anschluss an die Debatte insgesamt sechs Anträge der Opposition. So stieß etwa ein Antrag der AfD mit dem Titel „Kein Ausschluss der Teilhabe von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung in Krankenhäusern und Reha-Einrichtungen“ (19/22929) bei allen anderen Fraktionen auf Gegenwind. Zwei Anträge der Fraktion Die Linke zur Verbesserung der gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (19/27299) und für eine Garantie auf Assistenzhunde (19/27316) konnten sich gegen die Stimmen der Koalition und der AfD trotz Zustimmung durch die Grünen nicht durchsetzen. Die Liberalen lehnten die erste Vorlage ab, unterstützten aber die zweite.
Ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Sozialstaat auf Augenhöhe – Zugang zu Teilhabeleistungen verbessern“ (19/24437) fand nur in der Linksfraktion eine Fürsprecherin, der Rest des Hauses lehnte den Antrag ab. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hatte zu den Abstimmungen Beschlussempfehlungen vorgelegt (19/28834).
Mit allen weiteren Stimmen des Hauses abgelehnt wurde darüber hinaus ein zweiter Antrag der AfD für die „Beseitigung von Teilhabebeeinträchtigungen aufgrund von Sehschwächen durch Erweiterung der Versorgung Versicherter mit Sehhilfen“ (19/4316). Dazu lag eine Beschlussempfehlung des Gesundheitsausschusses (19/28687 Buchstabe a) vor. Darüber hinaus lehnten die Abgeordneten mit der Mehrheit von Koalition, FDP und AfD und bei Enthaltung der Grünen einen dritten Antrag der Linksfraktion ab, in dem diese forderte, „gute Arbeit für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen“ (19/24690). Damit folgte der Bundestag einer Beschlussempfehlung des Arbeits- und Sozialausschusses (19/27334 Buchstabe a).
Erstmals beraten wurde außerdem der Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen 2021 (19/27890). Dieser wurde anschließend in den federführenden Ausschuss für Arbeit und Soziales überwiesen.
Erster Antrag der AfD
Für eine bessere Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Krankenhäusern oder Reha-Einrichtungen setzte sich die AfD-Fraktion in ihrem ersten abgelehnten Antrag (19/22929) ein. Sie verwies darin auf die schwierige Situation eines Krankenhausaufenthaltes durch mögliche Kommunikationsbarrieren und nicht ausreichend geschultem beziehungsweise unter Zeitdruck arbeitendem Personal. Viele Betroffene und deren Angehörige hätten deshalb die Sorge, ob die im regulären Alltag erforderlichen Hilfestellungen im Krankenhaus erbracht werden könnten.
Die Fraktion forderte deshalb von der Bundesregierung, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die soziale Assistenz für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung im Krankenhaus sowie in stationären Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen als Leistungen der Eingliederungshilfe durch eine Regelung in den Sozialgesetzbüchern V, IX, XI und XII sicherstellt. Die Liste der Leistungen zur sozialen Teilhabe in Paragraf 113 des SGB IX solle um eine Ziffer 10 „Assistenz im Krankenhaus sowie in stationären Vorsorge-Rehabilitationseinrichtungen“ ergänzt werden.
Zweiter Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion forderte außerdem eine erweiterte Versorgung von Patienten in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit Sehhilfen. Alle erwachsenen gesetzlich Versicherten mit Sehschwächen sollten die Kosten für ärztlich verordnete Brillengläser und Brillengestelle von der Krankenkasse erstattet bekommen, hieß es in ihrem zweiten abgelehnten Antrag (19/4316). Dabei müsse der Grundsatz einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung gelten. Ferner sollte auch für Sehbeeinträchtigte mit einem Grad der Behinderung unter 30 Prozent ein Teilhabeanspruch anerkannt werden.
In Deutschland seien rund 41 Millionen Menschen sehbeeinträchtigt. Sie hätten als Erwachsene nur Anspruch auf Sehhilfen, wenn sie eine erhebliche Beeinträchtigung nachweisen könnten. Personen, die mit Sehhilfen eine Sehschärfe von 30 Prozent erreichten, müssten die hohen Kosten für Brillengläser und Brillengestelle selber tragen, hieß es zur Begründung.
Erster Antrag der Linken
Die Fraktion Die Linke forderte in ihrem ersten abgelehnten Antrag (19/27299), die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen deutlich zu verbessern. Sie begründete ihre Initiative unter anderem damit, dass das Bundesteilhabegesetz (BTHG) für die Koalitionsfraktionen von Beginn an unter Kostenvorbehalt gestanden habe. Neu geschaffene Teilhabeleistungen sollten nicht zu höheren Kosten führen, entsprechend sei der leistungsberechtigte Personenkreis nicht ausgeweitet worden.
Die Fraktion verlangte, das gesamte Teilhaberecht zu überarbeiten, die Teilhabeleistungen menschenrechtskonform auszugestalten und die Leistungen bedarfsdeckend und solidarisch zu finanzieren. Voraussetzung dafür müssten unter anderem eine flächendeckende, inklusiv ausgestaltete barrierefreie Infrastruktur und bundesweit einheitliche Kriterien für die Ansprüche und Bedarfe der Leistungsberechtigten sein. Anspruch auf Leistungen sollten alle Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten, unabhängig von Art und Ursache der Behinderung.
Zweiter Antrag der Linken
Die Fraktion Die Linke forderte die Bundesregierung in ihrem zweiten abgelehnten Antrag (19/27316) auf, einen Rechtsanspruch für die Nutzung von Assistenzhunden zu schaffen. Dazu sollte die Nutzung von Assistenzhunden „prioritär als Teilhabeleistung im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) festgeschrieben sowie in das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) und in das Hilfsmittelverzeichnis aufgenommen“ werden, hieß es im Antrag.
Auch Ausbildung, laufende Kosten und Betreuung von anerkannten Assistenzhundeteams sollten von den Sozialleistungsträgern im Rahmen des SGB IX vollständig finanziert werde, forderte die Fraktion.
Dritter Antrag der Linken
Die Linke verlangte außerdem, gute Arbeit für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen und zu sichern. In ihrem dritten abgelehnten Antrag (19/24690) schrieb sie, dass bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen am Arbeitsleben zwar einige positive Entwicklungen festzustellen seien. „Aber es überwiegen Fehlentwicklungen und Stillstand“, hieß es im Antrag.
So liege die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderungen immer noch deutlich über jener von Menschen ohne Behinderungen. Dieser Abstand habe sich in den vergangenen Jahren nicht verringert, argumentierten die Abgeordneten.
Antrag der Grünen
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen forderte in ihrem abgelehnten Antrag (19/24437) einen besseren Zugang zu Teilhabeleistungen. Sie verlangte unter anderem, im Bundesteilhabegesetz und in den Sozialgesetzbüchern IX und XII ein uneingeschränktes Wunsch- und Wahlrecht bezüglich der Form und des Ortes der Leistungserbringung zu verankern. Der Bund sollte ferner eine Strategie für eine bessere und niedrigschwellige Beratung entwickeln.
Der Zugang zu Teilhabeleistungen sollte unbürokratischer und barrierefrei geregelt werden, indem unter anderem die Möglichkeit einer vorläufigen Leistungsgewährung geprüft wird und im Zivilrecht eine rechtliche Assistenz einführt wird, die die Entscheidungsfindung unterstützt und dadurch die rechtliche Betreuung überflüssig macht, hieß es.
Teilhabebericht der Bundesregierung
Der dritte Teilhabebericht zeige an einigen wichtigen Stellen positive Entwicklungen in den Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Beeinträchtigungen auf, schreibt die Bundesregierung in ihrem Bericht (19/27890). So sei etwa die Arbeitslosenquote bei Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung kontinuierlich von 13,4 Prozent im Jahr 2015 auf 11,2 Prozent im Jahr 2019 gesunken. Die Zahl der Leistungsbeziehenden des ambulant betreuten Wohnens hingegen sei zwischen 2014 und 2018 um 22 Prozent angewachsen. Das sei ein Anteil von 50,4 Prozent an allen Hilfebeziehenden im ambulant betreuten oder stationären Wohnen, so die Bundesregierung.
Zudem gebe es Verbesserungen im öffentlichen Personenverkehr sowie die steigende Wahlbeteiligung der Menschen mit Beeinträchtigungen. Auf der anderen Seite gebe es aber auch Bereiche, in denen die Entwicklung stagniere oder sogar leicht rückläufige Tendenzen festzustellen seien, räumt die Regierung ein. Dies betreffe zum Beispiel die soziale Teilhabe am familiären und außerfamiliären Leben, die Ausbildung und berufliche Bildung sowie die Selbsteinschätzung von Menschen mit Beeinträchtigungen hinsichtlich ihres Gesundheitszustands, heißt es im Bericht. (che/sas/ste/22.04.2021)