Kiesewetter: Signalisieren, dass Europa Konflikte im eigenen Umfeld lösen kann
Während die Beziehungen zu Russland auf einem neuen Tiefpunkt angelangt seien, könne Europa mit der neuen US-Regierung an einem Ausbau der transatlantischen Partnerschaft im Rahmen der Nato arbeiten, sagt Roderich Kiesewetter (CDU/CSU), stellvertretender Delegationsleiter der Bundestagsabgeordneten zur Interparlamentarischen Konferenz für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union (IPC GASP/GSVP) anlässlich des Frühjahrstreffens der Konferenz, das am Mittwoch, 3. März 2021, als Videokonferenz stattfand. Zwischen EU und Nato bestehe ein „enormes Potenzial für Synergieeffekte“. Um politisch relevant zu bleiben, brauche die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik weniger „komplizierte Abstimmungsverfahren“, sondern das Verfahren der qualifizierten Mehrheit und einen „europäischen Sicherheitsrat“, fordert der CDU-Außenpolitiker im Interview. Deutschland könne dabei als Mittler zwischen den Interessen Süd- und Osteuropas fungieren. Das Interview im Wortlaut:
Herr Kiesewetter, bei ihrem Frühjahrstreffen der IPC GASP/GSVP haben Sie sich mit den Beziehungen der Europäischen Union zur Nato befasst, als Gastredner war Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg geladen. Wie sehr ist die EU ein Partner der Nato oder sind dies weiterhin allein die einzelnen EU-Mitgliedstaaten? Wie wird die EU von der Nato und den USA wahrgenommen?
Die GASP/GSVP muss komplementär zu den Stärken und Erfordernissen der Nato gedacht werden und mittelfristig zum europäischen Pfeiler der gemeinsamen transatlantischen Sicherheitsarchitektur ausgebaut werden. Da die meisten europäischen Staaten Mitglied beider Organisationen sind, braucht es eine gezielte Angleichung von Ausrüstung, Verfahren und Prozessen, praktischen Fähigkeiten sowie einer Abstimmung in den jeweiligen Prioritäten. Wir brauchen eine tragfähige Architektur, die zugleich auch Angebote für diejenigen europäischen Partner schafft, die nicht Teil der Nato oder der EU sind. Dass die Biden-Administration sich wieder intensiv der transatlantischen Zusammenarbeit widmet, bietet uns jetzt die Gelegenheit, mit Nachdruck daran zu arbeiten, uns zukunftsfähig aufzustellen. Dafür braucht es gerade auch den verstärkten Dialog mit der Türkei, die weiterhin einen essenziellen Bestandteil der Nato bildet.
Muss die EU sicherheitspolitisch eigenständiger werden? Geht es dabei vor allem um das „burden sharing“ innerhalb der Nato, um die USA zu entlasten?
Es geht um glaubwürdige Lastenteilung zwischen den USA und Europa. Wenn die USA ihre Aufmerksamkeit darauf richten, freie Seewege im Indopazifik zu sichern, sollte die EU dies natürlich unterstützen. Schließlich ist der freie Handel auch für uns von herausragender Bedeutung. Zugleich müssen wir uns aber verstärkt auf den eigenen europäischen Verantwortungsbereich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft fokussieren. Wir müssen den Amerikanern signalisieren, dass Europa in der Lage ist, die Konflikte in unserem Umfeld zu lösen. Dass in Libyen auf Grundlage des Berliner Prozesses seit Monaten die Waffen ruhen und eine Übergangsregierung landesweite Wahlen vorbereitet, ist unser größter außenpolitischer Erfolg der letzten Jahre. Auch im Minsk-Prozess haben wir uns als Vermittler hervorgetan. Darauf müssen wir auch in Syrien, auf dem westlichen Balkan oder in der Zypernfrage aufbauen. Nur so haben wir den Rücken dafür frei, um im aufwachsenden systemischen Konflikt mit China – und zunehmend auch mit Russland – die regelbasierte internationale Ordnung gemeinsam mit den USA glaubwürdig und attraktiv zu verteidigen.
Was sind sicherheitspolitische Aufgaben, die vor allem die EU betreffen und eine stärkere Profilierung der Gemeinschaft erfordern?
Wir müssen weg von komplizierten Abstimmungsverfahren innerhalb der EU. Wir brauchen qualifizierte Mehrheitsverfahren und einen europäischen Sicherheitsrat. Wenn Entscheidungen zu lange brauchen, schränken wir unsere eigene Relevanz unnötig ein. Daneben brauchen wir militärische Anschlussfähigkeit und Interoperabilität, sei es mit Blick auf konkrete Beschaffungsmaßnahmen, gemeinsame logistische Basen oder Fähigkeitsentwicklung mit Blick auf Luftverteidigung, Aufklärung, Sanitätstruppen und vieles mehr. Schließlich brauchen wir größere Transparenz bei der Europäischen Kommission und eine Stärkung der parlamentarischen Kontrolle. Neben diesen eher technischen Aufgaben sind die Konflikte in fünf Bereichen zu bewältigen: Ostukraine/Krim, Syrien, Libyen, die EU-Aufnahme der Westbalkan-Staaten und das Verhältnis Griechenland/Zypern mit Türkei/Nordzypern.
Muss Brüssel in einigen Bereichen auch ohne die Nato handeln?
Die EU muss im Sinne transatlantischer Lastenteilung im Einvernehmen mit der Nato handeln. Da die EU eine zivile Institution mit militärischen Instrumenten ist, weist sie eine ganz andere „Toolbox“ auf als die Nato, die als Militärverbund weniger Möglichkeiten für ziviles Engagement hat. Insofern bietet sich mittels enger Abstimmung ein enormes Potenzial für Synergieeffekte. Mit Blick auf den Westbalkan und Afrika besitzt die EU die passenden Instrumente, um an kritischen Punkten anzusetzen.
Sie haben sich auch mit dem Hohen Vertreter der EU für die Außenpolitik, Josep Borrell, ausgetauscht. Konnte er einen überzeugenden Ausweg aus seiner missglückten Russland-Diplomatie skizzieren?
Der Besuch des Außenbeauftragten hat verdeutlicht, dass unsere bilateralen Beziehungen an einem neuen Tiefpunkt angelangt sind. Die russische Führung hat mit der zeitgleich verkündeten Ausweisung europäischer Diplomaten offen ihre Verachtung für uns Europäer inszeniert und deutlich gemacht, dass sie sich jedem ernsthaften Dialog über Menschenrechtsfragen verweigert. Borrell hat deutlich gemacht, dass es nun umso mehr auf eine geschlossene Antwort der Europäer ankommt. Die transatlantisch abgestimmten Sanktionen gegen Verantwortliche im Fall Nawalny senden das richtige Signal. Wir müssen russischen Versuchen, durch Bilateralisierung einzelner Fragen unsere gemeinsame Stimme zu schwächen, geschlossen entgegentreten. Die Herausforderung wird sein, einen richtigen Mittelweg zwischen der Wahrung roter Linien und einem notwendigen, selektiven Engagement zu finden.
Die Vorführung Borrells durch den Kreml wirft einmal mehr die Frage auf, wie sich die europäische Außenpolitik von der Struktur her stärken lässt. Wo sehen Sie Bereiche, in denen man vom Prinzip der Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidungen übergehen könnte?
In Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik müssen wir zum qualifizierten Mehrheitsverfahren kommen. Damit dies gelingt, kommt es stark darauf an, dass Deutschland als Mittler zwischen den Perspektiven und Interessen der süd- und osteuropäischen EU-Mitglieder fungiert und sich um einen angemessenen Ausgleich bemüht. Wir brauchen ein ganzheitliches Vorgehen und das volle außenpolitische Instrumentarium, bei dem auch der Europarat und Sanktionsregime zum Tragen kommen. Grundsätzlich darf der Gesprächsfaden nie ganz abreißen. Wir haben ein Interesse daran, zumindest bei Themen, die im beidseitigen Interesse sind, eine selektive Kooperation fortzusetzen.
Auch Afrika ist nah. Mit dem Nachbarkontinent will die EU die Zusammenarbeit neu ausrichten, auf dem nächsten Gipfeltreffen zwischen der EU und der Afrikanischen Union soll eine neue Strategie verabschiedet werden. Worauf kommt es dabei an?
Obwohl Afrika nur einen Anteil von vier Prozent der globalen Treibhausgase emittiert, ist es der am stärksten vom Klimawandel betroffene Kontinent. Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass der Klimawandel auch handfeste Auswirkungen auf Fragen der Sicherheit haben wird. Der European Green Deal ist ein essenzielles und ambitioniertes Vorhaben, dessen Auswirkungen auf unsere südliche Nachbarschaft wir nicht vernachlässigen dürfen. Derzeit machen fossile Brennstoffe noch 46,5 Prozent aller afrikanischen Exporte in die EU aus. Es braucht also kluge Instrumente, um diese Staaten bei der indirekt von uns auferlegten Notwendigkeit zur nachhaltigen Transformation ihrer Wirtschaft zu unterstützen. Zugleich stehen wir hier in direkter Konkurrenz mit China, das jedes Mittel im systemischen Wettbewerb strategisch nutzt. Der „Green Deal“ muss unsere Nachbarschaftsbeziehungen stärken und nicht Länder, die sich Dekarbonisierung absehbar nicht leisten können, ausschließen oder gar in für die EU ungünstige Wirtschafts- und Sicherheitsbeziehungen abdrängen.
Müssten nicht in der Afrika-Politik die EU-Mitgliedsländer ihre Aktivitäten noch stärker bündeln?
Ähnlich wie in den Bereichen Außenhandel und Energie müssen wir dazu kommen, auch die Entwicklungszusammenarbeit auf die gemeinschaftliche Ebene zu heben. Nachhaltig wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen, ist ein wichtiges Element vorausschauender Außenpolitik. Insofern ist es sinnvoll, auch hier stärker zu bündeln.
Wie könnte die Klimapolitik der EU einen Beitrag zu mehr politischer Stabilität und Sicherheit in Afrika leisten?
Wir müssen das uns zur Verfügung stehende Instrumentarium, bis hin zu Marktöffnungen und temporärer Ausbildungsmigration, klug nutzen. Die klimapolitischen Ambitionen der EU sind eine wichtige Voraussetzung für eine kluge Klimaaußenpolitik. Wir Europäer stoßen nur zehn Prozent der globalen Emissionen aus. Für einen spürbaren Effekt brauchen wir also eine Internationalisierung des Green Deals. Dazu müssen Handelsbarrieren reduziert, Anreize für eine nachhaltige Industriepolitik und Technologie-Anwendung geschaffen werden. Das Erfolgsmodell der dualen Ausbildung in Nordafrika hat gezeigt, wie wir attraktive Arbeitsplätze schaffen können.
(ll/05.03.2021)