Der Bundestag hat grünes Licht gegeben für die Pläne der Bundesregierung, Kinder und Jugendliche aus einem belastenden Lebensumfeld besser zu schützen und ihnen mehr Chancen auf Teilhabe zu geben. Mit den Stimmen der Koalition und der Grünen, bei Stimmenthaltung der FDP und gegen die Stimmen von Linksfraktion und AfD billigten die Abgeordneten am Donnerstag, 22. April 2021, mehrheitlich den Entwurf für ein modernisiertes Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG, 19/26107). Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte zuvor noch Änderungen am Entwurf vorgenommen (19/28870).
Der Debatte lagen auch die Stellungnahme des Bundesrates und die Gegenäußerung der Bundesregierung zugrunde (19/27481, 19/28005 Nr. 5). Der Haushaltsausschuss legte zudem einen Bericht gemäß Paragraf 96 der Geschäftsordnung des Bundestages zur Finanzierbarkeit (19/28871) vor.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Das Gesetz sieht umfassende Änderungen am Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) vor, um Kinder und Jugendliche in Heimen und Pflegefamilien oder in schwierigen Lebensverhältnissen besser zu schützen und zu unterstützen. So werden Heime und ähnliche Einrichtungen einer strengeren Aufsicht und Kontrolle unterstellt. Kinder in Pflegefamilien verbleiben auf Anordnung des Familiengerichts dauerhaft in diesen, wenn dies zum Schutz und Wohl des Kindes erforderlich ist.
Die Kostenbeteiligung von jungen Menschen in Pflegefamilien und Einrichtungen der Erziehungshilfe wurde von 75 Prozent auf 25 Prozent ihres Einkommens aus Schülerjobs, Praktika oder einer Ausbildung gesenkt. Aufgrund von Änderungen, die der Familienausschuss am Regierungsentwurf vorgenommen hatte, wird zudem ein Freibetrag von 150 Euro des Einkommens von der Kostenbeteiligung ausgenommen. Einkommen aus kurzfristigen Ferienjobs und ehrenamtlicher Tätigkeit wrden gänzlich freigestellt.
Kooperation soll besser werden
Zudem soll die Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendhilfe, dem Gesundheitswesen, den Strafverfolgungsbehörden und den Familien- und Jugendgerichten verbessert werden. So sollen beispielsweise Ärzte, die sich bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung an das Jugendamt wenden, in Zukunft auch eine Rückmeldung über die anschließende Gefährdungseinschätzung erhalten. Darüber hinaus soll die Prävention vor Ort und die Beteiligung von jungen Menschen, Eltern und Familien verbessert werden.
In Notsituationen sollen sie sich an eine Erziehungsberatungsstelle in ihrer Umgebung wenden können und dort unbürokratisch Hilfe erhalten. In den Ländern soll eine bedarfsgerechte Struktur von unabhängigen Ombudsstellen eingerichtet werden. Die Beschwerdemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche in Heimen und Pflegefamilien wurden erweitert.
Mit der Gesetzesnovelle sollen die staatlichen Leistungen und Hilfen für Kinder- und Jugendliche mit Behinderungen in den kommenden Jahren im SGB VIII gebündelt werden. Prinzipiell soll die Inklusion als Leitgedanke in der Kinder- und Jugendhilfe und die grundsätzlich gemeinsame Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung verankert werden. Ab 2024 soll die Funktion eines Verfahrenslotsen beim Jugendamt eingerichtet werden, der als Ansprechpartner für Eltern und andere Erziehungsberechtigte fungiert.
Sechs Entschließungsanträge abgelehnt
In dritter Beratung lehnte der Bundestag mehrheitlich vier Entschließungsanträge der FDP sowie je ein Entschließungsantrag der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen ab. Die FDP stellten im ersten Entschließungsantrag (19/28879) fest, dass ein Hilfeplan des Jugendamtes nur bei einem Vertrauensverhältnis funktioniert. Grüne und Linke unterstützten den Antrag, die übrigen Fraktionen stimmten gegen ihn. Im zweiten Entschließungsantrag (19/28880), für den auch die Grünen stimmten, schlugen sie eine Reihe von Änderungen am Gesetzentwurf vor. Die Linke enthielt sich, AfD und Koalition stimmten gegen die Vorlage. An denselben Mehrheitsverhältnissen scheiterte auch ein dritter Entschließungsantrag, in dem empfohlen wurde, den Paragrafen 77 des SGB VIII aufzuheben (19/28881), sowie ein vierter Entschließungsantrag (19/28882), mit dem sichergestellt werden sollte, dass sich junge Menschen und ihre Familien an eine externe Ombudsstelle wenden können.
Die Linke forderte die Bundesregierung in ihrem Entschließungsantrag (19/28883) unter anderem auf, die Kinder- und Jugendhilfe strukturell zu stärken. Die Initiative stieß bei allen anderen Fraktionen auf Gegenwind. Trotz der Unterstützung durch die FDP und der Stimmenthaltung der Linken, verfehlte auch ein Entschließungsantrag der Grünen eine Mehrheit. Die Fraktion hatte unter anderem verlangt, in das Gesetz eine Experimentierklausel aufzunehmen, um frühzeitig den Weg in eine inklusive Jugendhilfe zu beschreiten (19/28884).
Initiativen der Opposition abgelehnt
Im Anschluss an die Debatte stimmten die Abgeordneten auch über eine Reihe von Vorlagen aus den Reihen der Opposition ab, die allesamt ebenfalls eine Mehrheit verfehlten. So scheiterte ein Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Abschaffung des Kostenbeitrags junger Menschen in stationären Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen (19/17091) trotz Zustimmung durch die FDP und bei Stimmenthaltung der AfD und der Grünen an den Stimmen der Koalition. Der Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte zur Abstimmung eine Beschlussempfehlung abgegeben (19/20127 Buchstabe a).
Abgelehnt wurden auch zwei Anträge der Linken zum Thema Schulsozialarbeit (19/9053) sowie für eine Reform der Kinder- und Jugendhilfe (19/70909). Dabei folgten die Abgeordneten zwei Beschlussempfehlungen des Familienausschusses (19/24726, 19/26553) und lehnten die Vorlagen jeweils bei Enthaltung der FDP mit den Stimmen der Koalition und der AfD ab. Die Grünen stimmten zwar für den ersten Antrag, enthielten sich aber bei der Abstimmung über den zweiten.
Abgelehnt wurden auch zwei Anträge, mit denen sich Linksfraktion und Grüne für mehr Perspektiven für Straßenkinder und wohnungslose junge Menschen einsetzten (19/24642, 19/20785 neu). Während sich die Grünen bei der Abstimmung über den Linken-Antrag enthielten, stimmte die Linksfraktion für den Antrag der Grünen. Die übrigen Fraktionen lehnten beide Vorlagen geschlossen ab. Auch zu diesen Abstimmungen lagen Beschlussempfehlungen des Familienausschusses vor (19/26213).
Weitere Anträge verfehlen Mehrheit
Schließlich lehnte der Bundestag mit den Stimmen der Koalition und der AfD bei Enthaltung von Grünen und FDP auch einen Antrag der Linksfraktion für mehr Fachkräfte in Kitas und eine starke Kinder- und Jugendhilfe ab (19/6421). Dazu sowie zu einem Antrag der FDP, in der die Fraktion „bessere Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben auch für Pflegekinder“ (19/26158) forderte, lagen ebenfalls Beschlussempfehlungen des Familienausschusses vor (19/28870). Für die Vorlage der Liberalen stimmten neben den Antragstellern auch AfD und Grüne; die Linke enthielt sich und die Koalitionsfraktionen stimmten dagegen.
Ein weiterer Antrag der Liberalen mit dem Titel „Modellregionen und -projekte einführen – Kinder- und Jugendstärkungsgesetz qualitativ hochwertig und praxiserprobt umsetzen“ (19/28769) wurde erstmals erörtert und im Anschluss an den federführenden Familienausschuss überwiesen.
Gesetzentwurf der Linken
Die Linke forderte in ihrem Gesetzentwurf (19/17091), dass bei jungen Volljährigen in stationärer Unterbringung deren eigenes Vermögen nicht länger zur Finanzierung des Aufenthalts herangezogen wird. Die derzeit bestehenden Regelungen erschwerten es jungen Menschen, die auf die besondere Unterstützung der Kinder- und Jugendhilfe angewiesen seien und somit über schlechtere Startchancen ins Erwachsenenleben verfügten, finanzielle Rücklagen zu bilden, argumentierte die Fraktion.
Junge Menschen in stationären Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe oder in Pflegefamilien müssten bis zu 75 Prozent ihres bereinigten Einkommens als Kostenbeitrag an das Jugendamt abführen. Dies mindere den Anreiz, eine Berufsausbildung auf- oder einen Schülerjob anzunehmen. Zudem führten die Regelungen zu einem unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand in den Jugendämtern.
Die Linksfraktion verwies zudem darauf, dass der Paragraf 94 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) in den Bundesländern vor allem im Hinblick auf die Öffnungsklausel, auf Kostenheranziehung zu verzichten oder diese zu reduzieren, nicht einheitlich umgesetzt werde. Dies sei angesichts des Verfassungsziels gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfassungsrechtlich problematisch.
Erster abgelehnter Antrag der Linken
In ihrem ersten abgelehnten Antrag (29/9053) verlangten die Abgeordneten, Schulsozialarbeit als Regelleistung in das SGB VIII aufzunehmen und dazu einen neuen Paragrafen (Angebote der Schulsozialarbeit) zu verankern. Es sei sicherzustellen, dass die Schulsozialarbeit auf den in Paragraf 11 Absatz 1 und 2 des SGB VIII formulierten Grundsätzen der Jugendarbeit aufbaut, schrieb die Linksfraktion.
Darüber hinaus sollte sichergestellt werden, dass die neue Regelleistung ausschließlich zusätzlich und nicht zulasten der bestehenden Angebote der Jugendhilfe nach Paragraf 11 Absatz 3 und Paragraf 13 des SGB VIII eingeführt wird und sich der Bund angemessen an der Finanzierung beteiligt.
Zweiter abgelehnter Antrag der Linken
Die Linksfraktion forderte außerdem eine umfassende Reform der Kinder- und Jugendhilfe. In ihrem zweiten abgelehnten Antrag (19/7909) forderte sie die Bundesregierung auf, das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) unter Berücksichtigung der Ergebnisse einer einzurichtenden Enquete-Kommission neu zu fassen. Die armutsbedingten Benachteiligungen von Kindern und Jugendlichen müssten abgebaut werden, um ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben umfassend zu gewährleisten.
Zudem sollte rechtlich klargestellt werden, dass die im SGB VIII verankerten Leistungen nicht auf Freiwilligkeit der öffentlichen Träger beruhen. Die Kommunen sollten finanziell in die Lage versetzt werden, die Umsetzung des SGB VIII zu gewährleisten.
Dritter abgelehnter Antrag der Linken
Die Linke forderte in ihrem dritten abgelehnten Antrag (19/24642) deutlich bessere Unterstützung für Straßenkinder und wohnungslose junge Menschen. Sie sprach sie sich unter anderem dafür aus, im Rahmen der anstehenden Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Altersgrenzen für individuelle Unterstützung nach Paragraf 41 im SGB VIII deutlich anzuheben, die Rechtsstellung der Jugendsozialarbeit nach Paragraf 13 des SGB VIII deutlich zu stärken und die Leistung Jugendwohnen in Paragraf 13 des SGB VIII als gesetzliche Pflichtaufgabe festzuschreiben.
Außerdem sollten ein entsprechendes Bundesprogramm aufgelegt, Beschwerdestellen für Kinder und Jugendliche gesetzlich verankert und das Vorrangprinzip des SGB VIII gegenüber anderen Sozialgesetzbüchern klar definiert werden. Zudem sollte der Bund Länder und Kommunen für die Bereitstellung von Wohnungen für Wohnungslose durch ein öffentliches Bauprogramm von zehn Milliarden Euro jährlich unterstützen. Ebenso plädierte die Fraktion für die Einführung einer Kindergrundsicherung und die ersatzlose Streichung der Sanktionen im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die Linksfraktion verwies darauf, dass nach Angaben des Deutschen Jugendinstituts etwa 37.000 junge Menschen im Alter von bis zu 27 Jahren in Deutschland ohne Zuhause, ohne Wohnung oder Obdach leben. Mehr als 6.000 davon seien minderjährig, einige Hundert nicht einmal 14 Jahre alt. Nach geltendem Recht dürfe es in Deutschland aber eigentlich keine obdachlosen Kinder und Jugendliche geben. Jugendliche unter 18 Jahren seien nach dem SGB VIII durch die Jugendämter in Obhut zu nehmen. Doch lediglich 64 Prozent der minderjährigen Straßenkinder hätten Kontakt zu den Jugendämtern.
Vierter abgelehnter Antrag der Linken
Im vierten abgelehnten Antrag der Fraktion (19/6421) wurde die Bundesregierung unter anderem aufgefordert, im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe „umfassende Maßnahmen einzuleiten, die auf eine bessere Qualität in der Arbeit hinwirken und damit auch die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten verbessern“. Erreicht werden sollte das nach Ansicht der Antragsteller etwa dadurch, dass „Lösungen für eine bessere finanzielle Ausstattung der Kinder- und Jugendhilfe“ gefunden werden und die Stellung der Landesjugendämter gestärkt wird.
Außerdem gelte es im Bereich der Hochschulausbildung die „Tendenz der Deprofessionalisierung“ zu stoppen, indem etwa darauf hingewirkt wird, unbezahlte Pflichtpraktika durch ein begleitetes Anerkennungsjahr abzulösen, schrieben die Abgeordneten.
Abgelehnter Antrag der Grünen
Die Grünen forderten in ihrem abgelehnten Antrag (19/20785 neu), ein nationales Aktionsprogramm zur Vermeidung und Bewältigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu entwickeln und dabei eine angemessene Beteiligung der Sozialverbände und (ehemals) Betroffener zu gewährleisten, um die strukturellen Ursachen herauszuarbeiten und auf deren Basis ein nationales Reformprogramm auf den Weg zu bringen. Dabei sollten spezielle Strategien zur Verhinderung und Bekämpfung von Wohnungslosigkeit bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen erarbeitet und einbezogen werden.
Die Fraktion trat ferner für eine Kindergrundsicherung ein und wollte Kinder- und Jugendarmut nachhaltig bekämpfen. Auch sei eine Ausbildungsgarantie zu schaffen und für mehr Chancengerechtigkeit in der Bildung zu sorgen, damit möglichst alle jungen Menschen einen Schulabschluss und somit sichere Berufsperspektiven erhalten, hieß es. Darüber hinaus verlangte die Fraktion, dass ein bundesweites Netz an Wohnangeboten und Notschlafstellen für obdach- und wohnungslose junge Menschen bis 27 Jahren geschaffen und ausgebaut wird.
Abgelehnter Antrag der FDP
Nach dem Willen der FDP-Fraktion sollten Pflegekinder in vollstationärer Betreuung keinen eigenen Kostenbeitrag mehr zahlen müssen. In ihrem abgelehnten Antrag (19/26158) forderte sie die Bundesregierung auf, den entsprechenden Paragrafen 94 Absatz 5 im Achten Sozialgesetzbuch ersatzlos zu streichen. Nach der aktuellen Gesetzeslage müssten junge Menschen in einer vollstationären Betreuung bei einer Pflegefamilie oder in einer Einrichtung 75 Prozent ihres Nettoeinkommens aus einer Ausbildung oder einem Nebenjob für die Kosten ihrer Betreuung an das Jugendamt zahlen.
Nach Ansicht der FDP reicht die von der Bundesregierung im Entwurf für das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz geplante Senkung des Kostenbeitrags auf höchstens 25 Prozent des Nettoeinkommens nicht aus. Für viele Kinder und Jugendliche, die einen Teil ihres Einkommens als Kostenbeitrag einsetzen müssten, gehe nach wie vor der Anreiz zur Selbstständigkeit verloren. Umgekehrt bringe eine Senkung des Kostenbeitrags bei gleichem bürokratischem Verwaltungsaufwand für die Jugendämter keinen finanziellen Vorteil mehr.
Neuer Antrag der FDP
In ihrem neuen Antrag (19/28769) lenken die Liberalen den Blick auf die Änderungen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG). Damit diese in der Praxis eine positive Wirkung entfalten könnten, gelte es Best-Practice-Beispiele zu entwickeln.
Die Bundesregierung solle deshalb unter anderem 50 Modellregionen ausschreiben, „in denen ab Inkrafttreten des KJSG mit zusätzlichen Bundesmitteln Verfahrenslotsen eingeführt werden, um gemeinsam mit öffentlichen und freien Trägern die genauen Inhalte, Ziele und Organisation der Verfahrenslotsen zu entwickelt und in der Praxis bis 2024 zu erproben“, heißt es in dem Antrag. (sas/aw/hau/22.04.2021)