Experten: Jugendämter und allgemeine soziale Dienste besser ausstatten
Unter den Belastungen der Pandemie und den beschränkenden Maßnahmen des Gesundheitsschutzes haben es Familien mit Kindern verdient, als Adressaten von Unterstützungsleistungen angesprochen zu werden statt einseitig als Orte möglicher Gewalt und Vernachlässigung wahrgenommen zu werden. Darin waren sich Experten und Mitglieder im öffentlichen Fachgespräch der Kinderkommission des Bundestages über die Arbeit mit familiären Krisen im Ausnahmezustand am Mittwoch, 18. November 2020, unter Leitung von Norbert Müller (Die Linke) einig.
Aber um ihrem umfassenden Auftrag gerecht zu werden, zu dem auch präventive persönliche Betreuungsleistungen gehörten – und mehr als nur der nicht infrage stehenden Priorität Schutz des Kindeswohls nachkommen zu können – müssten Jugendämter und allgemeine soziale Dienste besser ausgestattet werden: personell, räumlich, mit zeitgemäßer IT-Infrastruktur und Gesundheitsschutzausrüstung.
„Familien in Schwierigkeiten immer wieder angerufen“
Über die Schwierigkeiten, hilfsbedürftige Kinder und Jugendliche überhaupt ausfindig zu machen, wenn Schulen und Kitas geschlossen haben oder Kontakte auf das Nötigste reduziert werden sollen, und wie die Kommunikation aufrechterhalten werden kann: durch Hausbesuche, einen Termin in der Dienststelle, Gesprächsspaziergänge im Freien oder doch nur ein Telefonat, berichtete Heike Schlizio-Jahnke von der „Arbeitsgemeinschaft Weiße Fahnen“ vom Jugendamt Berlin-Mitte.
„Die Mitarbeiter haben Unglaubliches geleistet“, und „Familien in Schwierigkeiten immer wieder angerufen“, sagte sie. Aber bei einem Telefonat mit der Familie, mit einem Elternteil, sei es oft schwer, bis zu den Kindern vorzudringen.
Jugendämter: schlechte Ausstattung
Für den fachlichen Austausch so wichtige Treffen mit Kolleginnen und Kollegen auch aus anderen Behörden seien sämtlich abgesagt worden. Es gebe schlicht „keine Räume für größere Mitarbeiterrunden“, oder „um mal eine Fallkonferenz mit fünf, sechs Leuten durchzuführen“. Und: „Solange das Jugendamt so ausgestattet ist wie es ist“, sei auch „keine Videokonferenz durchführbar“.
Dass viele Kollegen wegen der Distanzregeln und geteilten Teams aus dem häuslichen Wohnzimmer mit privaten Geräten arbeiteten, „ohne jede Technik von der Dienststelle“, sei sehr schwierig und eine „absolute Grauzone“.
„Wir können nicht mehr präventiv arbeiten“
„Wir können nicht mehr präventiv arbeiten. Das fällt uns irgendwann auf die Füße und wird viel teurer.“ Man müsse dringend wieder im gesamten Leistungsspektrum für Kinder und Familien tätig werden, damit es erst gar nicht zu Fällen von Kinderschutz komme. Aber gerade habe man eben nicht genug Personal, Masken, Räume, Technik.
Das Dilemma zwischen fachlich und emotional wichtigem Kontakt und medizinisch gebotenem Abstand ziehe sich im Corona-Alltag durch die gesamte Arbeit. „Inzwischen haben wir alle eine komplette Schutzausrüstung“, wie im Krankenhaus, für Hausbesuche. „Aber wie kommt das in den Familien an“, wenn zwei Kolleginnen derart gekleidet vor der Tür stünden und so mit den Familien reden wollten, fragte die Sachverständige.
„Wir sind systemrelevant“ und das brauche Anerkennung. Man hege hohe Erwartungen an die Novellierung des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII), dass die Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendarbeit darin entsprechende Berücksichtigung finden.
„Kein richtiger Austausch“ mit den Kindern mehr
In die Krise hätte man eigentlich personell und technisch gut ausstattet gehen müssen, kritisierte auch Philipp Heinze, Sprecher der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi beim Sozialreferat München, die personelle Unterbesetzung und stellte bei der mangelhaften IT-Ausstattung und mit Räumen Parallelen zur Situation in Berlin fest. Erschwerend komme hinzu: Klienten und Maßnahmenträger seien auch nicht ausgestattet: „Alle müssen dringend nachjustieren.“
Während der harten Lockdown-Phase im Frühjahr seien die meisten Kontakte nur noch übers Telefon gelaufen und hätten sich auf betreuerische und Kindeswohlfragen beschränkt. „Kein richtiger Austausch“ sei das. Und das auch nicht flächendeckend.
Die Wiederaufnahme des Schulbetriebs habe dann eine Trendwende gebracht, man habe einen leichten Anstieg der Kontakte verzeichnet, Gespräche seien nachgeholt worden, aber das Level von 2019 sei noch nicht wieder erreicht.
„Wir brauchen Masken, Handys, Laptops“
Man habe allerdings „die Vorgabe, nur die notwendigen persönlichen Kontakte wahrzunehmen und das muss fachlich begründet sein“. Möglichst rasch müsse man „wieder in den Normalbetrieb kommen“, unter Einhaltung der notwendigen Hygienemaßnahmen. Es gelte jetzt, den Rahmen dafür zu schaffen, dass „wir wieder gute und tragfähige Beziehungen zu Kindern und ihren Eltern herstellen können“.
Seine Forderungen: „Wir brauchen mehr FFP-2-Masken, Diensthandys, Laptops.“ Das schultere zwar die Stadt München „peu à peu“. Aber man habe sogar noch weiteren Personalabbau vor sich. Da brauche man „von Bund und Land Unterstützung“.
„Corona schränkt eine gute Kindheit ein“
Prof. Dr. Holger Ziegler von der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld thematisierte die „erhöhte Belastung durch psychischen und emotionalen Stress in den Familien“. Aus wissenschaftlicher Perspektive sei ein Anstieg von Gewalt und Missbrauch in Familien in Zeiten von Corona „noch nicht empirisch validiert“. Wenngleich eine Studie der Technischen Universität München generell ein bemerkenswert hohes Ausmaß von Gewalt an Kindern feststelle.
„Corona schränkt vieles von dem ein, was eine gute Kindheit ausmacht“, gab der Wissenschaftler zu bedenken. Er wies darauf hin, dass die Sozialdienste in der Corona-Krise ihre Aufgaben im Bereich des Kinderschutzes erfüllten: „Die Aufrechterhaltung des Kinderschutzes wurde nirgendwo infrage gestellt.“
„Familien haben verdient, dass man anders auf sie zugeht“
Aufgaben und Anspruch der Sozialdienste reichten allerdings weit darüber hinaus, nur Gefährdungslagen zu erkennen und dagegen ambulante Maßnahmen oder Inobhutnahmen gegenüber den Eltern einzuleiten. Jedoch habe Corona Ämter und Dienste dazu gezwungen, Prioritäten beim Kinderschutz zu setzen und dafür andere Leistungen einzuschränken.
Ziegler sprach sich dafür aus, die Rolle der Familie, die Sorgefunktion der Eltern, unter den Herausforderungen von Corona viel stärker anzuerkennen und vertrat ein Familienbild, das an „gelingender Familiarität“ orientiert sei und deren Bedarf an Unterstützung sehe, „statt Eltern dem Verdacht auszusetzen, dass sie ihre Aufgaben nicht wahrnehmen“. Familien hätten verdient, dass man anders auf sie zugeht, sagte Ziegler. (ll/18.11.2020)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Philipp Heinze, Vorsitzender ver.di, Sprecher Sozialreferat München
- Heike Schlizio-Jahnke, AG Weiße Fahnen
- Prof. Dr. Holger Ziegler, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld