Experten: Bildungsangebote und Räume für Kinder offenhalten
Bildungsangebote und Räume offenhalten, Schutzmaßnahmen nach dem Alter der Kinder differenzieren, Kinder, Eltern und Fachkräfte im Bildungs- und Erziehungsbereich stärker in die „Pandemie-Planung“ einbeziehen und sich die psychischen und physischen Folgen für die kindliche Entwicklung vor Augen führen, je länger der Ausnahmezustand der Pandemie dauere: Das haben Sachverständige aus den Bereichen der Sozialarbeit und Sozialwissenschaft in einem öffentlichen Expertengespräch der Kinderkommission des Deutschen Bundestages am Mittwoch, 4. November 2020, unter der Leitung von Norbert Müller (Die Linke) zum Thema „Förderung und Unterstützung der Familien sowie der Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe während der Corona-Krise“ gefordert.
„Gefühlte Belastung der Beschäftigten gestiegen“
Die „gefühlte Belastung der Beschäftigten“ in der Kinder- und Jugendarbeit sei infolge der Corona-Pandemie und der Maßnahmen laut einer Umfrage vom April deutlich gestiegen, sagte Prof. Dr. Nikolaus Meyer vom Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Fulda. Die Lücke zwischen den Vorgaben von außen und den eigenen Berufsstandards „überbrücken die Beschäftigten durch gesteigerten Einsatz, sodass bei den Adressaten nichts ankommt“. Es bestehe die „Gefahr der Zerreißens“. Dabei könnten fachliche Standards nicht mehr eingehalten werden, hätten 75 Prozent der Befragten angegeben.
Die Bedingungen der Sozialarbeit müssten gerade jetzt verbessert werden, forderte Meyer. „Was vorher nicht gut war, ist noch schlechter geworden.“ Außerdem müsse der Absenkung von Standards, beispielsweise im Kinderschutz, Einhalt geboten werden. Er mahnte auch, die psychischen Folgen der nun schon fast ein Jahr dauernden Pandemie für Kinder in den Blick zu nehmen.
Der Wissenschaftler machte sich zudem dafür stark, die „Sozialarbeit strukturell in die Pandemieplanung einzubinden“, beispielsweise über die Landesjugendhilfeausschüsse. 1,1 Millionen Beschäftigte in dem Sektor sowie 4,8 Millionen Kinder und Jugendliche „brauchen eine stärkere Geltung“.
„Pädagogisches Angebot vom Normalzustand weit entfernt“
Wie wichtig Sicherheit und ein verlässlicher Alltag für Kinder sei, darauf wies Ayse Dalhoff von der Initiative „Familien in der Krise“ hin. Jetzt herrsche aber durch die neuen Maßnahmen wieder größere Verunsicherung. Zuhause erlebten die Kinder verzweifelte Eltern, weil Hilfsangebote wegfielen. Und dann die andere große Baustelle: „Die Kinder haben das Gefühl, die Öffnung der Schulen ist noch in der Probezeit.“
Das pädagogische Angebot sei vom Normalzustand weit entfernt. Wo kleinere Gruppen nötig wären, würden Angebote wieder eingeschränkt. So entfalle das Singen in der Kita ebenso wie der Schulsport. Die wochenlange Kontaktreduzierung bei einem Lockdown oder durch eine Quarantäne habe enorme negative Folgen für die Entwicklung der Kinder.
Die soziale und sprachliche Entwicklung der Kinder leide zudem unter dem Tragen des Mund-Nasen-Schutzes. „Wir sehen eine generelle Maskenpflicht an Schulen sehr kritisch“, betonte Dalhoff. Dies dürfe nur „das allerletzte Mittel“ sein. Wie auch die Teilnehmer dieser Ausschusssitzung müssten die Kinder an ihrem Sitzplatz ihre Maske ablegen dürfen, wenn die Abstandsregeln eingehalten würden.
Wie in der Arbeitsschutzgesetzgebung gelte es zunächst, alle technischen und organisatorischen Mittel auszuschöpfen, ehe man derartige einschränkende Maßnahmen wie das Tragen von Masken im persönlichen Bereich ergreife. Mittlerweile sei zudem klar, dass Kinder einen umso geringeren Beitrag zum Pandemiegeschehen leisteten, je jünger sie seien. Da brauche es dringend mehr Aufklärung in Politik und Gesellschaft.
„Kinder nicht stigmatisieren“
Zarah Abendschön-Sawall, ebenfalls von der Initiative „Familien in der Krise“, warnte davor, Kinder zu stigmatisieren. Ihnen dürfe weder die Verantwortung für die Ausbreitung der Pandemie in die Schuhe geschoben werden noch dürfe man sie mit Maßnahmen konfrontieren, die eigentlich für die Erwachsenen gedacht seien.
Es sei falsch, die Kinder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, wenn es um den Schutz der Gesamtbevölkerung gehe. Im Gegenteil: „Wir Erwachsene sind verantwortlich für den Schutz der Kinder. Kinder können keinen Abstand halten.“
Kinder nähmen zudem die Inkonsequenz vieler Regeln genau wahr, etwa wenn sie bei Regen wegen zu großem Gedränge nicht unter das Schutzdach auf dem Schulhof dürften, aber dafür täglich im überfüllten Schulbus fahren müssten. Die Kürzung von Angeboten, die mit einer Verringerung von Räumlichkeiten und Fläche einhergehe, sei zudem aus Sicht des Infektionsschutzes kontraproduktiv.
Jugendliche hätten einen hohen Bedarf an sozialer Interaktion, „lernen ganz viel über persönlichen Austausch“. Dazu brauche man, abgesehen von ergänzenden digitalen Formaten, vor allem den Präsenzunterricht. Viele der Kontaktbeschränkungen seien für Kinder nicht angemessen. Dagegen könnten, bei zweifelhaftem Nutzen einiger Maßnahmen, die Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, über die Pandemie hinaus, gravierend sein.
„Unerträglich und unverhältnismäßig“
Zahlreiche Kinder befänden sich gleich klassenweise zu Hause in Einzel-Quarantäne, weil es einen Fall in ihrem Jahrgang oder ihrer Gruppe gebe, aber seitens der Gesundheitsämter keine Einzelfallverfolgung. „Das ist unerträglich und unverhältnismäßig.“ Der Kinderschutzbund habe das bereits als „psychische Gewalt“ bezeichnet. „14 Tage zu Hause isoliert ist für Kinder eine lange Zeit.“ Die Kinder hätten mittlerweile oft „mehr Angst vor einer Einsperrung als vor der Krankheit“ selbst.
Je länger der Ausnahmezustand andauere, desto schlimmer werde es. Defizite bei geistiger, sprachlicher, körperlicher und sozialer Entwicklung, die bei Kindern in einem bestimmten Zeitfenster ablaufen müsse, stellten sich ein, die später nicht mehr zu kompensieren seien. Psychosen entwickelten sich: Panik komme auf, wenn jemand sich nähere oder „wenn jemand singt“.
„Man hat ihnen ihre gewohnten Räume genommen“
Prof. Dr. Gunda Voigts vom Department Soziale Arbeit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, erinnerte an den „15. Kinder- und Jugendbericht“ des Bundestages, dessen drei „Kernherausforderungen“ für das Kinder- und Jugendalter man auch im Corona-Alltag hochhalten müsse, nämlich: Kinder und Jugendliche zu qualifizieren, also beruflich und sozial handlungsfähig zu machen, ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit und ihre Selbstpositionierung zu fördern, sodass sie eine Haltung zu sich selbst und gegenüber Mitmenschen entwickelten.
Auch in Corona-Zeiten gelte es, den Kindern „Handlungs-, Erfahrungs- und Gestaltungsräume“ offenzuhalten und sie nicht nur als zu qualifizierende Schülerinnen und Schüler zu sehen. Es sei zudem völlig fehl am Platz, Jugendliche in Beiträgen „zur besten Sendezeit als Virenschleudern“ zu bezeichnen und somit die „gesamte Altersphase zu stigmatisieren“. Man habe den „Kindern und Jugendlichen ihre gewohnten Räume genommen“. Ihre Stimme sei auch deswegen völlig aus dem öffentlichen Diskurs verschwunden.
Um den Jugendlichen auch während der Corona-Zeit Perspektiven zu geben, müsse die Politik „differenzierende Entscheidungen“ treffen, die sich „an den Herausforderungen des Heranwachsens orientierten“. Die Kinder und Jugendlichen brauchten die Erfahrungen und Begegnungen in ihrer Gruppe, um autonom mit Gleichaltrigen ihre Wege zu finden. Es sei eine Katastrophe, dass der Jugendsport schon wieder geschlossen habe. Echte Wiedereröffnungen habe es bei den Kinder- und Jugendeinrichtungen auch im Sommer nach dem Lockdown nicht gegeben. (ll/04.11.2020)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Prof. Dr. Nikolaus Meyer, Fachbereich Sozialwesen, Hochschule Fulda
- Prof. Dr. Gunda Voigts, Department Soziale Arbeit, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg
- Zarah Abendschön-Sawall und Ayse Dalhoff, Initiative „Familien in der Krise“