Auswärtiges

Experten rekapitulieren „Licht und Schatten“ der Geschichte der Uno

Die Vereinten Nationen werden, in welcher Form auch immer, auch noch ihren 100. oder 150. Geburtstag feiern, waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der öffentlichen Anhörung des Unterausschusses Vereinte Nationen, Internationale Organisationen und Globalisierung am Mittwoch, 7. Oktober 2020, zum Thema „75 Jahre Vereinte Nationen“ sicher. 

Denn: „Die Probleme“ der Welt, die heute globalisierter sei denn je, „bleiben ja“, selbst wenn man die Türen in New York von heute auf morgen schließen würde. Zahlreiche Organisationen des Systems der Vereinten Nationen seien zudem schon viel älter und lebten fort, eben weil sie mit sich wandelnden Aufgabenstellungen noch gebraucht würden – wie die 1865 als Internationaler Telegraphenverein gegründete Internationale Fernmeldeunion (ITU). 

Die Wirksamkeit des VN-Systems

75 Jahre nach 1945 – das wollte der Unterausschuss zum Anlass nehmen, die Wirksamkeit des Systems der Vereinten Nationen aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven unter die Lupe zu nehmen und „Schlussfolgerungen für die Zukunft“ zu ziehen, so der Vorsitzende Ulrich Lechte (FDP)

Es gebe keine andere internationale Organisation von vergleichbarer Universalität und mit einer derartigen thematischen Bandbreite an Arbeitsfeldern und weltweiten Reichweite. Potenziell jedes Land könne Mitglied sein, sagte Hannah Birkenkötter von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) und unterstrich als Errungenschaften der Uno deren normative Wirkung, angefangen von der Gründungscharta, zu deren Meilensteinen das zwischenstaatliche Gewaltverbot gehöre, über die Charta der Menschenrechte bis hin zu den aktuellen Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030.

„Uno stärker als Gesamtsystem betrachten“

Mit all dem habe die Weltorganisation global verbindliche Standards gesetzt und wirke in die Mitgliedstaaten hinein, so die Völkerrechtlerin. Das sei ein wichtiger Punkt in einer Zeit zunehmender Fragmentierung der Welt. Es sei vor allem Aufgabe der Legislative, dieses Erbe zu bewahren und zu stärken. Von der überkommenen Struktur des Sicherheitsrates bis zum Demokratiedefizit gebe es gleichwohl zahlreiche Reformbaustellen bei der Uno (United Nations Organization)

Birkenkötter warb dafür, dem operativen Geschäft der vielen Fachleute der Uno-Verwaltung sowie Bereichen, in denen Erfolge vorzuweisen seien, wie der Entwicklungszusammenarbeit, mehr Beachtung zu schenken und die Uno stärker als Gesamtsystem zu betrachten. Dem verbreiteten Satz, die Vereinten Nationen könnten nur so gut sein wie die Summe ihrer Mitgliedstaaten setze sie entgegen: „Vielleicht sind die Vereinten Nationen auch ein bisschen besser als die Mitgliedstaaten.“ 

Dominanz der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder

Die Uno könne aber „nur so stark sein, wie die Mitgliedstaaten sie sein lasse“, sagte Prof. Dr. Nicole Deitelhoff von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Weiterhin dominierten die sogenannten fünf ständigen Mitglieder, die USA, Russland, China, das Vereinigte Königreich und Frankreich, den Sicherheitsrat. Die in diesem Gremium ausgetragenen Großmachtkonflikte, vor allem zwischen den USA, Russland und China, überschatteten immer wieder all die anderen Arbeitsbereiche der Vereinten Nationen und führten regelmäßig zu Blockaden. Die Vereinten Nationen seien in ihren Möglichkeiten durch ihre Bindung an die Großmächte behindert.

Immer wenn die sich allerdings einig gewesen seien, habe die Uno Aktivitäten entfalten und ihren Aufgaben nachkommen können. Man solle sich auf keinen Fall in einer Debatte um neue Sitze im Sicherheitsrat „verkämpfen“, mahnte Deitelhoff. „Das lohnt sich nicht.“ Den Reformprozess der Uno könne man am besten unterstützen, indem man dem Haushalt der Organisation „mehr Programm-ungebundene Mittel“ zukommen lasse. 

Sowohl fachlich als auch bei nötigen Reformschritten solle man die Uno „in Ruhe arbeiten lassen.“ Statt mit medienwirksamen zweckgebundenen Leuchtturmprojekten ihre Unabhängigkeit in Frage zu stellen. Die Organisation müsse sich ohne Zweifel wandeln, um auch die kommenden 25 Jahre zu überstehen. Aufgabenbereiche müssten ergänzt werden. Dabei solle die Uno stärker auf Partnerschaften mit regionalen Organisationen wie der Afrikanischen Union (AU) setzen.

„Das greift das Betriebssystem der Uno an“

Als „besondere Herausforderung“, vor der die Vereinten Nationen im Jahr 2020 stünden, nannte Prof. Dr. Manuel Fröhlich, Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Außenpolitik der Universität Trier, die „Ressourcenkrise“ der Organisation. Viele Mitglieder zahlten einfach ihre Beiträge nicht. „Ein Drittel des Regelhaushaltes geht nicht in der Kasse ein.“

Die Lähmung des Sicherheitsrates durch Großmachtkonflikte dauere an. Eine zerstörerische ideologische Auseinandersetzung tobe um den Anspruch nationaler Souveränität, verbunden mit einer grundsätzlichen Infragestellung von Globalismus und Universalität, so Fröhlich. „Das greift das Betriebssystem der Uno an.“

52 Resolutionen des Sicherheitsrates 2019

Eine Welt „frei von Furcht und Not“ zu schaffen, wie die Verfasser der Atlantic Charta, der amerikanische Präsident Roosevelt und der britische Premier Churchill, es im August 1941 formulierten, auf dieser Idee habe der Grundkonsens der vier Jahre später gegründeten Vereinten Nationen gefußt. Das sei der globale „New Deal“, um den es bei der Gründung der Vereinten Nationen gehe.

Wenn dieser Konsens nicht mehr trage, nicht aktualisiert werde, dann sei das Konzept der Vereinten Nationen in Gefahr, sagte Fröhlich. Die Vereinten Nationen seien wandlungsfähig. Heute gebe es einen enormen öffentlichen und politischen Erwartungsdruck, „eine beträchtliche Erhöhung dessen, was man der Uno zutraut“. So habe der Sicherheitsrat im Jahr 2019 52 Resolutionen verabschiedet, während es in der achtjährigen Amtszeit des Generalsekretärs Dag Hammarskjöld (1953 bis1961) insgesamt 65 gewesen seien. 

„Licht und Schatten“ der Geschichte der Vereinten Nationen

Auch im Bereich der globalen Friedenssicherung seien die Erwartungen an die Uno überzogen, stellte Prof. Dr. Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München fest. Für die Friedenssicherung gebe es nur ein geringes Engagement und für eine Reform sei man von einem Konsens weit entfernt. Im Peacekeeping sei in der momentanen Phase der Auseinandersetzung zwischen den USA und den Vereinten Nationen und dem „Aushandlungsprozess einer neuen globalen Ordnung zwischen den USA und China“ nur wenig möglich, so der Politikwissenschaftler.

Die Geschichte der Vereinten Nationen sei insgesamt von Licht und Schatten gleichermaßen geprägt. Während die Arbeit der Organisation bei der weltweiten Armutsbekämpfung „ganz gut funktioniert“ habe, liege im Bereich der Sicherheitspolitik der Non-Proliferationsvertrag, der Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, „in Trümmern“. Mit der Folge einer unkontrollierten Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Um die Vereinten Nationen zu erhalten und zu stärken dürften deren Unterstützer diese nicht weiter als „Grundpfeiler der liberalen Welt“ anpreisen. Das verprelle Länder jenseits des Westens und sei ohnehin ein Mythos, hätten doch viele Mitglieder bereits die vergangenen Jahrzehnte ganz anders erlebt. 

Kritik an veralteten institutionellen Strukturen

Bei allen Reformbemühungen müsse man sich bewusst machen, dass es sich bei den Vereinten Nationen um ein riesiges Netzwerk handele und es bei einem Eingreifen in Teilbereiche immer die Interaktionen mit dem Gesamtsystem im Blick zu behalten gelte, gab Dr. Ronny Patz von der Hertie School of Governance in Berlin zu bedenken. 

Viele Reformen seien aus wissenschaftlicher Sicht zum Scheitern verurteilt, weil die Uno sich auf institutionelle Strukturen gründe, die teilweise bereits 100 Jahre oder älter seien, und, aufgrund staatlicher Interessenkollisionen. Die Reform brauche die synchronisierte Anstrengung einer großen Zahl an Staaten. Stattdessen finanzierten die Mitgliedsländer lieber in einzelne Vorzeigeprojekte und verlören sich so im „Minilateralismus“. 

„Die Welt ist größer als Fünf“

Insgesamt 32 Jahre, 1968 bis 2000, war Dr. Hans-Christof von Sponeck, der Leiter der Uno-Büros in Botswana, Pakistan und Indien. Die Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1945 werde den Bedürfnissen der Welt von heute nicht mehr gerecht, mahnte er. Gebraucht werde eine grundsätzliche Reform. Dabei sei das Unternehmen „Neubau“ in der heutigen turbulenten Zeit eigentlich nicht möglich. 

Über die Jahrzehnte hätten sich neue geopolitische Dynamiken entwickelt. Die Uno sei heute vier mal größer als in ihrer Gründungszeit, aus 51 seien fast 200 Mitglieder geworden. Aber noch immer immer beherrschten die „P5“ den Sicherheitsrat. Noch gebe es im Westen eine koloniale Attitüde. Aber der Westen stehe nur noch für acht Prozent der Weltbevölkerung: „Die Welt ist größer als Fünf.“

30 Reformberichte gebe es mittlerweile. Alle Generalsekretäre hätten Reformanläufe gemacht. Es gebe darin Antworten auf sämtliche Fragen. „Aber der politische Wille zur Umsetzung fehlt.“ Von Sponeck warb für eine stärkere Vernetzung zwischen der Arbeit der Organisation und der Forschung.

Angesichts der neuen Herausforderungen müsse man einfach weiter kommen. Momentan gebe es eine solche Fülle von Konflikten, „die wir uns gar nicht leisten können“, von kriegerischen Auseinandersetzungen, über den Klimawandel bis zur Corona-Pandemie. Eine neue Uno, die wir angesichts dieser Herausforderungen bräuchten, werde möglich werden. Dazu bedürfe es vor allem wieder mehr von einer Ressource: Vertrauen. 

Gründungsgeschichte der Uno

Am 25. Juni 1945 nahmen 50 Staaten in San Francisco die Charta der Vereinten Nationen (United Nations, UN) einstimmig an. Polen folgte als 51. Gründungsmitglied am 15. Oktober 1945. Am 24. Oktober 1945 trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. (ll/08.10.2020)

Zeit: Mittwoch, 7. Oktober 2020, 15 Uhr bis 17 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 2.600

Marginalspalte