Teils massive Folgen durch eingeschränkte Jugendsozialarbeit während Corona
Wie stand es um die Angebote der Schul- und Jugendsozialarbeit während des Lockdowns? Auf diese Frage, die sich die Kinderkommission des Bundestages (Kiko) im Rahmen eines Expertengesprächs am Mittwoch, 7. Oktober 2020, stellte, antworteten die drei geladenen Sachverständigen einhellig: Mit viel Kreativität sei es gelungen, die Angebote trotz der Schulschließungen und anderer Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus so gut es ging aufrechtzuerhalten. Zu vielen jungen Menschen, die auf enge Betreuung angewiesen waren, sei der Kontakt aber auch gänzlich abgerissen.
„Schließung ist keine Lösung!“
Auf circa zehn Prozent bezifferte Hans Steimle von der Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit den Anteil derer, die infolge des Corona-Lockdowns den Anschluss an die verschiedenen sozialen Betreuungsangebote verloren hätten und folgerte mit Blick auf mögliche neue Einschränkungen im öffentlichen und schulischen Leben: „Schließung ist keine Lösung, Streichung ist keine Option!“
Viele Jugendliche würden noch heute unter den Folgen des Lockdowns und dem Wegbrechen der professionellen Kontakte zu Jugendsozialarbeitern leiden, sagte Steimle in der von Norbert Müller (Die Linke) geleiteten Sitzung. Dies betreffe insbesondere die, die ohnehin schon eine besonders intensive Begleitung benötigten. Zu beobachten sei außerdem ein Anstieg von Fallzahlen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie – eine Erkenntnis, die dringend in die politischen Erwägungen zum Gesundheitsschutz in Pandemie-Zeiten Einzug finden müsse.
Die digitale Spaltung
Von „Fällen, an die wir nicht mehr herangekommen sind“, berichtete auch Julia Schad-Heim von der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit. Viele Jugendliche hätten gar nicht erst die digitalen Endgeräte zur Hand gehabt oder über das nötige Datenvolumen verfügt, um im Kontakt mit ihren Vertrauenspersonen bleiben zu können, berichtete sie rückblickend auf den Lockdown und die Zeit danach. Neben der sozialen Spaltung sei die digitale Spaltung in der Gesellschaft ein ernstzunehmendes Problem. So hätte der Adressatenkreis der Jugendsozialarbeit auch beim digitalen Lernen deutlich größere Schwierigkeiten als andere, sagte Schad-Heim.
An die Adresse der Abgeordneten formulierte sie den dringenden Appell, die Schulsozialarbeit zu stärken. Es sei schon etwas gewonnen, wenn sich alleine das Wort im achten Sozialgesetzbuch (SGB VIII) fände. Außerdem müssten die Mittel aus dem beschlossenen Digitalpakt Schule zeitnah bei den jungen Menschen ankommen. Nicht zuletzt deshalb, weil in näherer Zukunft mit etwa 1,2 Millionen mehr Haushalten zu rechnen sei, die auf Grundsicherung angewiesen sein werden, rechnete sie vor.
„Versagen auf kommunaler Ebene“
Mit nochmals dramatischeren Worten schilderte Georg Grohmann vom Landesarbeitskreis Mobile Jugendarbeit Sachsen die Situation vieler Jugendlicher während und im Nachgang des Lockdowns. Als Streetworker berichtete er unter anderem über einen Anstieg an Gewalt auf der Straße und von der Vertreibung wohnungsloser Menschen aus dem öffentlichen Raum. Behörden seien durch die Corona-Schließungen nicht mehr erreichbar gewesen und vielerorts sei auch die Notversorgung mit Lebensmitteln oder Hygieneartikeln zusammengebrochen, beklagte er und sprach von einem „Versagen auf kommunaler Ebene – nicht überall und in jedem Landkreis, aber in allen Teilen Deutschlands“.
Politisch sei es höchst geboten, endlich die Perspektiven marginalisierter Gruppen in der Gesellschaft mit einzubeziehen. Dazu brauche es Mechanismen der Beteiligung etwa für Wohnungslose, Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen in Armut, sagte Grohmann. Hinzu komme die Einrichtung von genügend Schlafplätzen und die Anerkennung der Arbeit von Streetworkern als systemrelevant. „Die Abschaffung von Armut ist möglich, sie ist eine Frage des politischen Willens“, schloss der Jugendsozialarbeiter. (ste/08.10.2020)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Georg Grohmann, Landesarbeitskreis Mobile Jugendarbeit Sachsen e. V.
- Julia Schad-Heim, IN VIA Deutschland/Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS)
- Hans Steimle, Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit e. V.