Zeit:
Montag, 5. Oktober 2020,
10 Uhr
Ort: Berlin, Reichstagsgebäude, Sitzungssaal 2 M 001
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion zur Begrenzung der Abgeordnetenzahl bei künftigen Bundestagswahlen (19/22504) ist am Montag, 5. Oktober 2020, bei einer Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat bei der Mehrheit der Sachverständigen auf Kritik gestoßen. Bei der Veranstaltung unter Leitung von Andrea Lindholz (CDU/CSU) stand zugleich ein Vorstoß der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für ein aktives Wahlrecht ab 16 Jahren (19/13512) auf der Tagesordnung.
Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD
Laut Gesetzentwurf will die Koalition am Wahlsystem der personalisierten Verhältniswahl festhalten, „bei dem die Personenwahl von Wahlkreisbewerbern nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl mit der Verhältniswahl von Landeslisten der Parteien kombiniert ist und durch Anrechnung der gewonnenen Direktmandate auf die Listenmandate der Grundcharakter der Verhältniswahl gewahrt wird“.
Auch an der mit der Wahlrechtsänderung von 2013 eingeführten Sitzzahlerhöhung zum Ausgleich von Überhangmandaten soll festgehalten werden und „weiterhin eine erste Verteilung der Sitze nach festen Sitzkontingenten der Länder mit bundesweiter Verteilung der Sitze in der zweiten Verteilung“ vorgenommen werden, um eine föderal ausgewogene Verteilung der Bundestagsmandate zu gewährleisten.
„Bundestagsvergrößerung vermindern“
Zur „Verminderung der Bundestagsvergrößerung“ soll nach dem Willen der Koalition „mit dem Ausgleich von Überhangmandaten erst nach dem dritten Überhangmandat begonnen“ und ein weiterer Aufwuchs „auch durch Anrechnung von Wahlkreismandaten auf Listenmandate der gleichen Partei in anderen Ländern“ vermieden werden.
Dabei soll der erste Zuteilungsschritt so modifiziert werden, „dass weiterhin eine föderal ausgewogene Verteilung der Bundestagsmandate gewährleistet bleibt“. Ferner soll die Zahl der Wahlkreise mit Wirkung zum 1. Januar 2024 – also nach der nächsten Bundestagswahl – von 299 auf künftig 280 reduziert werden.
„Reformkommission einsetzen“
Zudem soll der Bundestag dem Gesetzentwurf zufolge „unverzüglich“ die Einsetzung einer Reformkommission beschließen, „die sich mit Fragen des Wahlrechts befasst und Empfehlungen erarbeitet“. Dabei soll sie sich laut Vorlage auch mit der Frage des Wahlrechts ab 16 Jahren sowie mit der Dauer der Legislaturperiode befassen und Vorschläge zur Modernisierung der Parlamentsarbeit erarbeiten. Darüber hinaus wird das Gremium nach dem Willen der beiden Koalitionsfraktionen „Maßnahmen empfehlen, um eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern auf den Kandidatenlisten und im Bundestag zu erreichen“. Seine Ergebnisse soll es spätestens Mitte 2023 vorlegen.
In der Begründung verweisen die zwei Fraktionen darauf, dass der Bundestag „aufgrund der Veränderung des Wählerverhaltens und der Parteienlandschaft auf der Grundlage des bisherigen Wahlrechts“ bei der Wahl 2017 eine Größe von 709 Abgeordneten angenommen habe und eine weitere Erhöhung der Sitzzahl nicht ausgeschlossen sei. „Dies könnte den Deutschen Bundestag an die Grenzen seiner Arbeits- und Handlungsfähigkeit bringen und die Akzeptanz des Parlaments in der Bevölkerung beeinträchtigen“, heißt es in der Vorlage weiter.
Koalitionsvorlage „gut vertretbar“
Prof. Dr. Bernd Grzeszick, Staatsrechtler an der Universität Heidelberg, wertete die Koalitionsvorlage als „gut vertretbar“. Die von der Koalition geplante Reduzierung der Wahlkreise sei ebenso wie die Anrechnung auf Listenmandate verfassungsrechtlich unproblematisch.
Bei der Frage der unausgeglichenen Überhangmandate müsse man auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verweisen, wonach der Gesetzgeber bei einer personalisierten Verhältniswahl „bei einer Hausgröße von 598 bis zu 15 Überhangmandate zulassen kann“.
„Reduktion der Wahlkreise von 299 auf 280 viel zu gering“
Prof. Dr. Joachim Behnke, Friedrichshafener Professor für Politikwissenschaft, kritisierte dagegen, der Koalitionsentwurf sei nicht in der Lage, seinen Zweck einer „deutlichen Reduktion der Vergrößerung des Bundestages“ zu erfüllen. Es sei nicht davon auszugehen, dass eine Vergrößerung des Bundestages mit einer hinreichend großen Wahrscheinlichkeit vermieden wird.
So sei eine Verrechnung von Überhang- mit Listenmandaten „nicht besonders hilfreich“, weil dafür gerade bei einer besonders starken Vergrößerung gar keine Listenmandate zur Verfügung stünden. Unausgeglichene Überhangmandate seien seiner Ansicht nach verfassungswidrig und die vorgesehene Reduktion der Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 sei viel zu gering.
„Verfassungsrechtlich prekär“
Der Augsburger Mathematikprofessor Prof. Dr. Friedrich Pukelsheim betonte, es verstoße gegen die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen, wenn Wahlkreissieger wie vorgesehen durch „Mindestsitze“ ersetzt werden sollten. Auch habe ein Gesetz ein „massives Defizit“, wenn darin vorne eine bestimmte Sollstärke für die Abgeordnetenzahl festgeschrieben wird, dann aber Bestimmungen folgen, „die nie dazu führen, dass man die Sollgröße umsetzt“.
Dr. Robert Vehrkamp von der Bertelsmann Stiftung sagte, es gehe bei dem Koalitionsentwurf gar nicht mehr um die derzeitige gesetzliche Regelgröße von 598 Abgeordneten. Vielmehr wolle die Koalition lediglich nicht über den derzeitigen Stand von 709 Parlamentariern hinausgehen. Doch auch dieses „eher bescheidene Ziel“ erreiche ihr Gesetzentwurf offensichtlich nicht. Bei Simulationen auf Grundlage aktueller Umfragen und dem Koalitionsentwurf, bei denen man das Stimmensplitting neutralisiere, komme man zu einer Abgeordnetenzahl von 750. Auch sei der Gesetzentwurf der Koalition „verfassungsrechtlich zumindest prekär“ und würde nicht zu einer Verbesserung der geltenden Rechtslage führen.
„Von Bürgerverständlichkeit kann keine Rede sein“
Prof. Dr. Sophie Schönberger, Rechtswissenschaftlerin an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität, bemängelte, auch wenn man sich schon sehr lange mit dem Wahlrecht befasse, sei es „kaum noch möglich“ zu durchdringen, was mit dem Koalitionsentwurf geregelt werden soll. „Von Bürgerverständlichkeit kann da überhaupt gar keine Rede sein“, betonte sie. Auch könne damit ein weiteres Anwachsen des Bundestages nicht verhindert werden.
Der Rechtswissenschaftler Dr. Ulrich Vosgerau sagte, „der Minimierungseffekt“ des Koalitionsentwurfs hinsichtlich der Bundestagsgröße wäre bis zur Verringerung der Zahl der Wahlkreise „absolut minimal, wahrscheinlich gar nicht vorhanden“, und auch danach „absehbarerweise sehr gering“. Zudem sei die Koalitionsvorlage „verfassungsrechtlich mehr als zweifelhaft“.
Gesetzentwurf der Grünen
In dem ebenfalls mitberatenen Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen setzt sich die Fraktion dafür ein, bei künftigen Bundestagswahlen auch 16- und 17-Jährigen das aktive Wahlrecht einzuräumen. Danach soll im Grundgesetz-Artikel 38 Absatz 2 die Altersgrenze für das aktive Wahlrecht vom vollendeten 18. auf das vollendete 16. Lebensjahr gesenkt werden.
In der Begründung bezeichnet die Fraktion die Ermöglichung des aktiven Wahlrechts auch für 16- und 17-Jährige bei Bundestagswahlen als „unverzichtbare Voraussetzung für eine stärkere Partizipation von Jugendlichen“. Das Ausschließen jugendlicher Staatsbürger unter 18 Jahren von den Bundestagswahlen stelle einen Eingriff in den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl dar. Auch sei die mit dem derzeitigen Ausschluss der 16- und 17-Jährigen vom aktiven Wahlrecht verbundene Ungleichbehandlung nicht hinreichend gerechtfertigt. Sie besäßen „die zur aktiven Teilnahme an der Wahl zum Deutschen Bundestag notwendige Reife und Vernunft“. (sto/05.10.2020)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Professor Dr. rer. pol. Joachim Behnke, Zeppelin Universität Friedrichshafen
- Professor Dr. Bernd Grzeszick, LL.M. (Cambridge), Universität Heidelberg
- Professor (em.) Dr. Friedrich Pukelsheim, Universität Augsburg
- Professorin Dr. Sophie Schönberger, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
- Dr. Robert Vehrkamp, Bertelsmann Stiftung; Berlin
- Dr. iur. habil. Ulrich Vosgerau, Privatdozent