Mathias Stein und Gero Storjohann über den Fahrradboom in Corona-Zeiten
Zu seiner Arbeit im Deutschen Bundestag ist Mathias Stein, Berichterstatter für Fahrradverkehr der SPD-Bundestagsfraktion, „eigentlich immer mit dem Fahrrad unterwegs“. „Die fünf Kilometer ins Büro genieße ich förmlich“, sagt sein Kollege Gero Storjohann von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion über seinen Dienstweg durch die Stadt. Um das Bewusstsein für das Verkehrsmittel Fahrrad zu stärken, sich über Neuigkeiten auszutauschen und ihren fahrradpolitischen Forderungen Nachdruck zu verleihen, laden die beiden Berichterstatter seit Jahren Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundestag, aus der Verwaltung sowie Vertreterinnen und Vertreter der Verbände der Fahrradwirtschaft zur „Parlamentarischen Fahrradtour“ in Berlin ein. Während die Tour dieses Jahr der Corona-Pandemie zum Opfer fiel, sorgte das Virus aber doch dafür, dass der Fahrradverkehr momentan einen Aufschwung erlebt. Im Interview berichten die beiden Abgeordneten aus Schleswig-Holstein, wie sich der aktuelle Hype rund ums Rad für die Fahrradpolitiker im Bundestag anfühlt, wie nachhaltig der Aufschwung ist und was für Sicherheit und Infrastruktur getan werden muss. Das Interview im Wortlaut:
Herr Stein, jährlich organisieren die fahrradpolitischen Sprecher der Großen Koalition die Parlamentarische Fahrradtour – die dieses Jahr coronabedingt ausfallen musste. Erklären Sie trotzdem kurz die Idee der Tour.
Stein: Zur Parlamentarischen Fahrradtour laden wir einmal jährlich alle Parlamentarier und die Mitarbeiter der Abgeordneten und der Verwaltung ein, um gemeinsam mit dem Rad unterwegs zu sein. Es gibt schon eine regelrechte Fangemeinde, die da immer wieder gerne mitfährt. Auch die Fahrradverbände machen mit, der Zweiradindustrieverband oder der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC), als wichtige Multiplikatoren. Insgesamt wollen wir an dem Tag ein sichtbares Event auf die Straße bringen. Wir schauen uns dann in Berlin an, wie sich die Fahrradinfrastruktur entwickelt hat. Es gibt eine fachliche Begleitveranstaltung.
Herr Storjohann, als ernst zu nehmender Verkehrsträger gewinnt das Fahrrad seit Jahren an Bedeutung. Nun hat das Radfahren durch die Corona-Pandemie nochmal tüchtig Schub bekommen. Wie nachhaltig ist das?
Storjohann: Der Lockdown und der Wegfall anderer Möglichkeiten, auch der Fortbewegung, hat vielen einen Anreiz gegeben, sich näher mit dem Fahrradfahren als Möglichkeit der eigenen Mobilität zu beschäftigen. In einigen Bundesländern waren die Fahrradgeschäfte während des Shutdowns ja durchgehend auf. Einerseits als Reparaturannahmestelle; andererseits hat das auch dazu beigetragen, dass viele Menschen sich dazu entschieden haben, erstmals ein Fahrrad zu kaufen und das Radfahren in ihren Tagesablauf einzubauen. Und sei es nur zur Erholung. Das macht den nachhaltigen Aufschwung. Ich schätze, dass das zehn, fünfzehn Prozent an Zuwachs für den Verkehrsträger Fahrrad ausmacht. Den Aufschwung haben wir ganz konkret an den Verkaufszahlen gemerkt. Die Fahrradgeschäfte sind sehr zufrieden und verzeichnen in dieser Saison ein starkes Umsatzplus.
Herr Stein, Auto und Fahrrad als Krisengewinner: Deren wachsende Anteile am Verkehrsgeschehen gehen zulasten des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Was tun?
Stein: Sicher leidet der ÖPNV unter der Pandemie. Verkehrspolitisch ist es wichtig, dass man Fußgängerverkehr, Radverkehr und ÖPNV als ein System betrachtet. Und möglichst dessen Anteil insgesamt nach oben bringt, da dessen CO2-Ausstoß am geringsten unter den Verkehrsträgern ist. Ich glaube, die richtige Mischung der Verkehrsträger wird es letztlich bringen. Wir müssen sicher nochmal einen Anlauf unternehmen, um die Attraktivität des ÖPNV zu erhöhen. Auch was Hygiene und Sauberkeit angeht. Dann haben wir gute Chancen, auch Autofahrerinnen und Autofahrer zu motivieren aufs Rad und den ÖPNV umzusteigen.
Wo hat denn das Fahrrad im Verkehrs-Mix den besten Platz?
Stein: Es sind im Wesentlichen die Strecken unter fünf Kilometern. Durch Fahrräder mit Elektroantrieb lässt sich der Horizont noch einmal ausweiten, sodass man leicht 15, 20 Kilometer zurücklegen kann. Es gibt mittlerweile auch Menschen, die täglich 30 Kilometer mit dem E-Bike pendeln. Das E-Bike macht also nochmal ganz andere Reichweiten möglich. Und das gibt einen Anreiz, vom Auto auf das E-Bike umzusteigen. Es gibt ja auch Städte, die bieten teilweise kostenlose Fahrradverleih-Systeme. Nehmen Sie die Kieler „Sprotten-Flotte“. Da ist beispielsweise die erste halbe Stunde kostenlos. Das hat in Kiel wahnsinnig geboomt.
Die Sicherheit ist das Top-Thema beim Fahrradverkehr. Wo liegen die Hauptprobleme, wo besteht vorrangig Handlungsbedarf?
Stein: Schwierigkeiten gibt es da, wo das Fahrrad auf andere Verkehrsträger wie den Lkw-Verkehr stößt. Da kommt es immer wieder zu Abbiege-Unfällen. Kreuzungssituationen sind ein Hauptgefahrenpunkt. Aber auch Ampelschaltungen, die dazu geschaffen wurden, den Autoverkehr zu optimieren. Da kommt es vor, dass Radfahrende sich mitunter denken: Die sind ja gar nicht auf mich abgestimmt, da muss ich nicht bei jeder roten Ampel halten, um dann wieder neu in Schwung zu kommen. Die Infrastruktur trägt oft nicht zu mehr Sicherheit bei, sondern führt eher zu unsicheren Situationen. So sind einige Radwege so gebaut, dass das Radfahren wie eine Ausnahme im Verkehrsgeschehen erscheint. Je mehr wir neue, breitere Radwege bauen, auch genuine Fahrradstraßen, Schnellwege nur fürs Rad, desto mehr wird sich die Situation entschärfen.
Ist das auch ein Arbeitsfeld für Sie, bei den Radfahrern das Bewusstsein dafür zu schärfen, sich in der Fülle der Verkehrsträger, in dem Mix, der ja nun mal vorhanden ist, regelgerecht zu bewegen?
Stein: Selbstverständlich. Die Straßenverkehrsordnung wurde dahingehend auch schon überarbeitet. Auch an unserem Koalitionsantrag zur Stärkung des Fahrradverkehrs haben wir in dieser Richtung Kritik erfahren. Da wurde gesagt: Es muss auch bei Radfahrenden kontrolliert werden, ob es zu Regelverstößen kommt. Man muss dabei sehen, dass die Bandbreite derjenigen, die Rad fahren, sehr groß ist. Die Leute, ob jung, ob alt, fahren aus den unterschiedlichsten Gründen: beruflich, privat, zum Einkaufen, zum Sport. Es gibt Menschen, die sind mit 18 Stundenkilometern unterwegs, genauso wie solche, die 40 km/h auf den Asphalt bringen.
Das heißt, es geht auch darum, die „Fahrrad-Polizei“ und den Bußgeldkatalog auszubauen? Nummernschilder für Fahrräder, um Räder und Fahrer klar zu identifizieren – ist das auch im Gespräch?
Stein: Genau. Bei sogenannten motorisierten, schnelleren „Speed-Pedelecs“ haben wir Nummernschilder ja eingeführt. Und ich glaube, das reicht auch aus. Wir sollten jetzt die Barrieren für die Leute nicht zu hoch schrauben. Wichtiger ist, das Bewusstsein zu schärfen für gegenseitige Rücksichtnahme. Und wir sollten uns als oberste Priorität das Ziel setzen: Null Verkehrstote. An dieser Vision sollten wir festhalten.
Herr Storjohann?
Storjohann: Es geht auch darum, eine Versicherung zu haben. Wenn ich kein Autofahrer bin und keine Haftpflichtversicherung habe, dann habe ich im Fall der Fälle ein Problem. Das gehört auch zum Thema Sicherheit. Und das müssen wir den Radfahrern deutlich sagen.
Um den Anteil des Fahrrads am Verkehrsgeschehen zu erhöhen, müsste kräftig in die Radinfrastruktur investiert werden. Was ist der Beitrag des Bundestages, Herr Storjohann?
Storjohann: Radverkehr ist ja grundsätzlich eine kommunale Aufgabe. Als Bundespolitik bringen wir uns auf diesem Feld mit Anregungen ein. Der Bund gibt den Ländern zudem pauschal Geld. Damit können Länder und Kommunen dann planen und bauen. Das Bundesministerium für Verkehr hat eine gewisse Kompetenz bei Radwegen an Bundesfernstraßen, die wir gerade erweitert haben, indem wir es dem Ministerium nun erlaubt haben, Radwege zu finanzieren, auch wenn sie nicht unmittelbar an der Bundesstraße liegen. Als Fahrradfernwege. Denn wir streben ja eine Entflechtung an von Güter- und Autoverkehr einerseits, und Fahrradverkehr andererseits. Da wird es demnächst Pilotprojekte geben.
Wo, wann und wie gebaut wird, entscheiden aber die Bundesländer…
Storjohann: Genau, sie kaufen das dafür nötige Land Parzelle für Parzelle zusammen und führen einen Planfeststellungsbeschluss herbei. Den Faktor Zeit darf man dabei nicht unterschätzen. Einen ganz normalen Radweg zu bauen, dauert 30 Jahre. In Schleswig-Holstein, einem Tourismus-Land, kennen wir das. Seit den 1970er- und 80er-Jahren planen und bauen wir dort Überland-Radwege.
Worauf kommt es beim Radwegebau an?
Wichtigster Punkt ist die Entflechtung der einzelnen Verkehre, des motorisierten und des Fahrradverkehrs. Wir haben ja jetzt erst einmal die Möglichkeit geschaffen, Fahrradstraßen zu konzipieren, auf denen sich dann der Autofahrer hinter dem Radfahrer einordnen muss. Die Niederlande sind da Vorreiter. „Das Auto ist hier nur Gast“ lautet dort das Motto. Das sind natürlich nur kleine Leuchtbeispiele. Generell haben wir in den Städten eine Fahrradinfrastruktur, die ist 30 bis 40 Jahre alt. Da gibt's noch Fahrradstreifen in Kombination mit Fußwegen, 50 bis 80 Zentimeter breit. Da besteht ein enormer Handlungsbedarf.
Schaffen die Kommunen das?
Storjohann: Die Kommunen haben ein Finanzproblem seit 2009. Das ist eigentlich seit zwei, drei Jahren gelöst. Und jetzt kommt durch die Corona-Krise das neue Finanzproblem, das auch wieder zehn Jahre in Anspruch nehmen wird. Da habe ich meine Zweifel, dass es den nötigen Push im Bereich der Radinfrastruktur geben werden.
Befindet sich auf Ihrer Route zur Arbeit schon ein „Pop-up-Radweg“, Herr Storjohann? Einige Städte experimentieren ja mit solchen zusätzlichen temporären Radwegen, die nun den zusätzlichen Radverkehr aufnehmen sollen …
Storjohann: Das ist ja keine Dauerlösung. Allerdings eine Maßnahme, die vom Marketing her ganz clever ist, um auf fehlende Radwege und die Bedeutung einer funktionierenden Radinfrastruktur hinzuweisen. Viele steigen ja deshalb nicht aufs Rad, weil die Infrastruktur unzureichend ist. Und sie wissen, dass diese Pop-up-lanes auch nicht lange vorhalten. Da kommt ja dann die Enttäuschung, wenn die Politik nach der Probephase nicht was Vernünftiges baut. Also ein zweischneidiges Schwert, aber ich finde es erst mal gut, dass die Radinfrastruktur im Fokus steht.
Herr Stein?
Stein: Die Pop-up-Wege sind gut, um ein Gefühl für die gesellschaftliche Akzeptanz zu bekommen. Sowohl bei den Autofahrenden als auch bei den Nicht-Autofahrenden. Vor ein paar Jahren wären die Leute durchgedreht, wenn man ganze Fahrspuren gesperrt hätte. Mittlerweile ist der Protest der Autofahrerinnen und Autofahrer relativ gering. Ich hab das jetzt in Kiel erlebt, da hat der Verkehrsclub Deutschland (VCD) neue Fahrradspuren eingerichtet.
Herr Storjohann, international betrachtet hat Deutschland bei der Fahrradinfrastruktur schon viel erreicht, oder? Und es gibt ja nun mal historische Stadtkerne, da geht nicht mehr …
Storjohann: Das kommt darauf an. Nehmen Sie mal das italienische Padua. Da ist ein historischer Stadtkern. Die Straßen sind zwei Meter breit. Und es gibt Radwege da durch. Man sagt sich da einfach: Ihr werdet euch schon irgendwie einigen, Autofahrer, Fußgänger und Radfahrer. In Deutschland sind wir natürlich sehr penibel. Wenn wir was machen, dann muss es mindestens 1,50 oder zwei Meter breit sein. Und wenn das nicht geht, wird der Radweg nicht ausgewiesen. Oder, wenn wir welche gebaut haben, die diesen Maßen nicht entsprechen, dann werden die Schilder sofort wieder abgebaut, weil sich irgend jemand beschwert, dass die entsprechenden Breiten nicht vorhanden sind.
Finden Ihre Forderungen als Fahrrad-Politiker aus dem Bundestag nun Eingang in die Novellierung der Straßenverkehrsordnung, Herr Stein?
Stein: Die Straßenverkehrsordnung ist ja Sache des Bundesministeriums, und über den Bundesrat wirken die Bundesländer mit. Wir Parlamentarier haben dann noch unsere eigenen Anforderungen formuliert. Von denen sind einige auch schon umgesetzt. Wie der grüne Pfeil für Radfahrer. Das Verfahren zur Ausweisung von reinen Radfahrstraßen ist erleichtert worden. Was noch offen ist, sind Fragen zur Temporeduzierung bei Kraftfahrzeugen. Das ist ja ein wesentliches Sicherheitsthema. Also beispielsweise die Einführung von Tempo-30-Zonen. Da ist sicher noch einiges an Bewegung drin.
Herr Storjohann?
Storjohann: Wir als Bundestag haben einen zusätzlichen Input gegeben. Nachdem es 162 Änderungsanträge von den Bundesländern gab, wird eine nochmalige Novellierung schwierig. Bis zum Herbst wird sich entscheiden, wie viel Bewegung es da noch gibt und welches Paket dann letztlich geschnürt wird. Und ob da noch was von uns reinkommt. Aber wir haben als Bundestag eine Duftnote gesetzt.
Für den Baufortschritt scheint mancherorts auch eine Geschwindigkeitsbegrenzung zu gelten …
Storjohann: Kollege Stein hat ja den grünen Pfeil so gelobt. Entscheidend ist dabei, dass die Kommunen den grünen Pfeil dann auch anschrauben. Auch bei der Beschilderung für schnelle sogenannte Speed-Pedelecs müssten die Kommunen aktiv werden. S-Pedelecs dürfen ja außerhalb geschlossener Ortschaften den Fahrradweg benutzen, wenn entsprechende Schilder es erlauben. Ich habe aber in Deutschland noch kein einziges Schild gesehen. Das muss alles auf der lokalen Ebene umgesetzt werden. Eine Ausschilderung mit dem Verkehrszeichen „Mofas frei“ ist aber wichtig. Ein S-Pedelec fängt sich als Kleinkraftrad sonst eine Ordnungswidrigkeit ein, wenn es auf einem Radweg fährt. Aber wenn es auf einer Bundesstraße fährt, ist das wiederum höchst gefährlich für seine Sicherheit.
Herr Storjohann, wie kann es gelingen, nicht eine Gruppe von Verkehrsteilnehmern zu privilegieren?
Storjohann: Wenn alle Gruppen an Verkehrsteilnehmern im Verkehrsgeschehen gleichmäßig bedacht werden, dann sind wir schon zufrieden.
Herr Stein?
Stein: Im Moment ist ja Verkehrsplanung und Flächenaufteilung nahezu komplett aufs Auto ausgerichtet. Selbst wenn man sich mal in Wohnstraßen die Verteilung des öffentlichen Raumes anschaut, dann sind dort 90 Prozent für die Autofahrenden vorgesehen, einschließlich der Parkmöglichkeiten. Einige Kommunen haben ja wegen des Parkplatzdrucks das Gehwegparken erlaubt. Und dann hat man nur noch einen Meter Platz für Fußgängerinnen und Fußgänger. Das ist nicht akzeptabel. Die Kommunen sind da klar gefordert. Es geht ja auch um die Verkehrssicherheit für Fußgänger.
Storjohann: Es geht letztlich immer um die Trennung zwischen beiden Infrastrukturen. Auch bei begrenzter Fläche. Wenn ich zwei kleine Anliegerstraßen nebeneinander habe, dann lasse ich eben in der einen den Autoverkehr und in der anderen räume ich dem Radverkehr mehr Platz und Vorrang ein. Aber das muss ich dann eben entscheiden, was wo sein soll, und für meinen Vorschlag eine Mehrheit sammeln. Wie andere ihre Fahrradinfrastruktur planen, hat sich der Verkehrsausschuss mal in den Niederlanden angeschaut. Die besprechen Projekte vor Ort mit den Bürgern. Dann wird ein halbes Jahr ausprobiert. Dann wird entschieden. Ist die Akzeptanz da, wird gebaut, so wie es in der Probephase simuliert und geübt wurde.
Herr Storjohann, was ist eigentlich Ihr Leitmotiv bei der Fahrradpolitik?
Storjohann: Ich möchte gerne, dass die Mobilität in Deutschland weiter funktioniert. Und zwar für alle Altersgruppen. In allen Regionen. Dabei ist der Fahrradverkehr ein entscheidender Faktor. Im Zusammenspiel mit ÖPNV und Auto. Ich möchte, dass das ganze System funktioniert. Dabei geht es uns darum, dass möglichst viele, die es können, das Fahrrad nutzen. Es wird weiterhin erst mal noch mehr Autos geben. Aber der zur Verfügung stehende Raum bleibt natürlich begrenzt. Daher muss die politische Entscheidung jetzt sein, Parkplätze in Fahrradwege umzuwandeln. Und ich muss eben manchmal auch Bäume fällen, um dort Fahrradwege zu bauen. Dieser Grundkonflikt muss von den zuständigen Ministern gelöst werden.
Radfahren ist für die meisten kein politisches Statement, sondern einfach Mittel zum Zweck: das Fahrrad als nützliches Fortbewegungsmittel, zur Arbeit und in der Freizeit, oder als Sportgerät. Sagen Sie als fahrradpolitische Sprecher Ihrer Fraktionen bitte noch etwas, jenseits aller Regeln, zur Freude am Fahrradfahren!
Stein: Ja klar, als Leute mit sitzenden Jobs genießen wir jeden mit dem Rad gefahrenen Kilometer als körperliche Abwechslung. Und als erfrischenden Ausgleich. Mal ein, zwei Kilometer zu fahren, der Kollege Storjohann fährt fünf, das ist schön. In meinem sehr städtischen Wahlkreis erlebe ich das auch. Da bin ich viel mit dem Rad unterwegs. Man kann einfach mal absteigen, wenn man zufällig einen Bekannten trifft und ein paar Worte wechseln. Das ist mit dem Fahrrad viel entspannter als mit mit dem Auto, wo Sie erst mal fünf Runden um den Block drehen müssen, um einen Parkplatz zu finden. In Kiel macht Radfahren richtig Spaß, auch wenn einem mal der Wind ins Gesicht bläst.
Herr Storjohann?
Storjohann: Ich komme ja aus einem Dorf in Schleswig-Holstein mit 2.000 Einwohnern. Mitten in der Geest. Wenn man einkaufen will, muss man in den nächsten Ort. Ich fahre, wenn ich kann, zur Entspannung jeden Tag einmal ums Dorf. Das sind etwa zehn, zwölf Kilometer. Durch Moorlanschaft. Eine Strecke, wo ich niemandem begegne. Für Corona-Zeiten ideal. Das passt in meine Tagesstruktur.
Wie ist das auf dem Land mit Berufspendlern?
Storjohann: Mein Wahlkreis grenzt an Hamburg. Immer mehr Betriebe verlagern ihren Standort von Hamburg nach Schleswig-Holstein. Für viele, die beispielsweise in der Digitalwirtschaft arbeiten, ist das ideal: in Hamburg zu wohnen und 15 Kilometer mit dem Fahrrad zu ihrer Betriebsstätte im Umland zu fahren. Idealerweise haben sie da eine Garage für ihr Fahrrad, Umkleide- und Duschmöglichkeiten. Beim Betrieb von Tesa in Norderstedt habe ich mir kürzlich mal deren Infrastruktur für ihre Fahrradpendler angesehen. Alles vom Feinsten. Man glaubt gar nicht, wie viele Hamburger mittlerweile mit dem Fahrrad pendeln. Weil sie sich gesagt haben: Mit dem Auto dauert das viel länger. Das funktioniert natürlich nicht für alle Berufsgruppen. Der Handwerker kommt weiterhin mit seinem Kleintransporter.
Vielleicht noch ein versöhnliches Wort für die Sommerzeit, der Hauptsaison fürs Fahrradfahren. Vermutlich die allermeisten Fahrradnutzer sind zugleich auch Autofahrer. Viele laden ihre Fahrräder aufs Dach und fahren damit in die Ferien. Auto und Fahrrad muss kein Gegensatz sein. Wir kriegen wir die Ideologie da raus? Herr Stein …
Stein: Die Ideologie kriegt man da raus, indem man vor allem gegenseitiges Verständnis hat. Indem man auch selber Vorbild ist als Radfahrer. Und nicht gleich den Autofahrer, der mal auf dem Radweg steht, vollpöbelt. Und es kann insgesamt nicht darum gehen, überall die Bußgelder zu erhöhen, sondern wir müssen versuchen, gegenseitige Rücksichtnahme vorzuleben. Und ja, Spaß vermitteln am Radfahren. Ich bin froh, wenn die Leute in den Ferien zum Radeln kommen, auch mit dem Auto. Und umgekehrt muss man den Autofans sagen: Ihr müsst nicht unbedingt bis vors Geschäft fahren, sondern könnt auch mal im Parkhaus parken und ein paar Meter laufen.
Herr Storjohann?
Storjohann: Die Topografie in Deutschland ist ja sehr unterschiedlich. Es gibt ländliche und verdichtete Räume, Flachland und Berge. Schleswig-Holstein war schon immer Fahrradland. Wenn ich den Stuttgartern davon erzähle, dann lächeln die müde – dort ist es ganz anders, mit Berg und Tal: Sie fahren nach Stuttgart rein, aber kommen nicht wieder raus. Das hat sich jetzt durch die E-Bikes geändert. Das heißt, es gibt nicht die eine Lösung für das ganze Land. Wir haben Pendler, Touristen, Sportbegeisterte, gesundheitsorientiertes Fahren. Wir müssen alle Regionen und Nutzungsbereiche abdecken. Und ich wehre mich dagegen, dass wir sagen: Wir müssen unbedingt versuchen die Leute weg vom Auto aufs Fahrrad zu bringen. Das hat auch was mit dem Alter zu tun: Wenn ich 80 bin und das eine Bein nicht mehr bewegen kann, dann nutzt mir das Fahrrad nichts. Wir wollen mit unserer Mobilitätspolitik alle mitnehmen. Junge, Alte, Familien. Das Fahrrad ist dabei positiv besetzt, und ich möchte da auch keine Ideologie rein bringen.
(ll/10.07.2020)