Hunko: Regierungen müssen in Ausbau der Gesundheitssysteme investieren
Der Europarat und seine Mitglieder haben die Gefahr von Pandemien nicht ernst genommen. Zu dieser Schlussfolgerung kommt ein aktueller Bericht über effektive und rechtskonforme Maßnahmen gegen Covid-19, der am Freitag, 26. Juni 2020, vom Ständigen Ausschuss der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PVER) verabschiedet wurde. Nach Ausbruch der Pandemie sei es in vielen Ländern zu unverhältnismäßigen Maßnahmen gekommen. „Es wäre grundsätzlich wünschenswert, wenn die Evidenz größeres Gewicht bei den Entscheidungen erhielte“, fordert der Berichterstatter, der Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko (Die Linke), im Interview. Hunko ist Mitglied der 18-köpfigen Bundestagsdelegation zur PVER. „Momente wie dieser bergen die Gefahr, dass sie für Maßnahmen genutzt werden, die sonst womöglich nicht durchsetzbar wären.“ Stattdessen müsse nun verstärkt in die Forschung und in den Ausbau der Gesundheitssysteme investiert werden, um künftig besser vorbereitet zu sein. Das Interview im Wortlaut:
Herr Hunko, in Ihrem aktuellen Bericht über effektive und rechtskonforme Maßnahmen gegen Covid-19 für den Sozial- und Gesundheitsausschuss der PVER haben Sie sich damit beschäftigt, wie die einzelnen Mitgliedstaaten auf die Pandemie reagiert haben. Was sind Ihre wichtigsten Punkte?
Ohne Zweifel musste schnell und entschlossen gehandelt werden, um die Pandemie einzudämmen. Dabei sind Timing und das „Vorbereitetsein“ äußerst wichtige Faktoren. Je früher koordiniert und effektiv gehandelt wird, desto weniger gravierend mussten die Maßnahmen sein und desto geringer sind ihre negativen Auswirkungen. Die Therapie darf schließlich nicht schädlicher sein als die Krankheit. Des Weiteren sind die Transparenz bei den Entscheidungen und die Art der Kommunikation wichtig dafür, wie Maßnahmen von der Bevölkerung akzeptiert und in ihrem Verhalten umgesetzt werden. Hier wurden zweifellos Fehler gemacht.
Sind denn Einschränkungen der Rechte überhaupt zulässig?
Grundrechte dürfen nur in rechtskonformen Verfahren eingeschränkt werden. Das ist unter anderem in der Europäischen Menschenrechtskonvention, der EMRK, geregelt. Diese Einschränkungen der Grundrechte müssen immer wieder begründet und auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Ist diese nicht mehr gegeben, müssen sie zurückgenommen werden. Außerdem agieren wir noch immer auf einer äußerst unsicheren Datengrundlage. Wir wissen weiterhin viel zu wenig über das Infektionsgeschehen und das Virus selbst. Dies muss dringend verbessert werden, durch systematische Forschung und sinnvoll koordinierte Testung, auch an repräsentativen Stichproben. Man kann den Regierungen schlecht vorwerfen, dass sie anfangs auf Grundlage sehr ungenauer Daten entschieden; sehr wohl aber, wenn sie zu wenig tun, dies zu ändern.
Was lässt sich für die Gesundheitssysteme der einzelnen Mitgliedstaaten aus dem internationalen Erfahrungsaustausch lernen?
Es ist offenkundig, dass der Zustand der Gesundheitssysteme entscheidend mitbestimmt, wie groß die Gefahr ist, mit der wir konfrontiert sind. Wenn nicht mehr alle Erkrankten ausreichend versorgt werden können, steigt der Anteil der Toten an den Erkrankten. Die Kürzungspolitik und die rein betriebswirtschaftliche Ausrichtung der Gesundheitssysteme in vielen Ländern haben ihren Anteil daran. Wir sehen dieses Problem auch im Bereich der Altenpflege, wo der Anteil der Toten in Pflegeeinrichtungen erschreckend hoch ist. Deshalb müssen Schutzkonzepte für diese besonders bedrohte Bevölkerungsgruppe dringend sozialgesundheitliche Aspekte einbeziehen. Dazu gehört auch der Zustand der Altenheime, die Arbeitsbedingungen, die Infrastruktur. Auch hier wurde Profitinteressen zu häufig Vorrang vor dem Bedarf und den Bedürfnissen der Menschen gegeben.
Die Regierungen haben ganz unterschiedlich auf den Ausbruch der Epidemie reagiert. Wo wurde überzogen? Wo wurde die medizinische Gefahrenlage politisch instrumentalisiert?
Es ist noch zu früh, dies abschließend sagen zu können. Es ist aber schon jetzt zu sehen, dass zum Beispiel in Ungarn und in der Türkei die Gesundheitskrise genutzt wurde, um autoritäre Politik zu betreiben und die Opposition auszuschalten. In nahezu allen Ländern können wir beobachten, dass die Regierungsparteien an Zustimmung gewonnen haben, was ein für Krisenzeiten durchaus übliches Bild ist. Wir sehen aber auch, dass offenbar wesentlich mehr Menschen bereit sind, auch autoritäre „Lösungen“ zu akzeptieren. Momente wie dieser bergen die Gefahr, dass sie für Maßnahmen genutzt werden, die sonst womöglich nicht durchsetzbar wären. Es ist gut möglich, dass nun eingeführte Grundrechtseinschränkungen nicht vollständig wieder aufgehoben werden, wenn die Pandemie überwunden ist. Edward Snowden hatte deshalb zu Recht vor einer „Architektur der Unterdrückung“ gewarnt, die jetzt aufgebaut wird und dann eventuell bestehen bleibt.
Waren die teilweise sehr langen zwischenstaatlichen Grenzschließungen wirklich angebracht? Zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden waren die Grenzen wiederum zu keinem Zeitpunkt geschlossen…
Die Weltgesundheitsorganisation hat immer von Grenzschließungen abgeraten, weil sie mehr schaden als nutzen. Dennoch haben viele Regierungen zu diesem Instrument gegriffen. In Deutschland klar wider besseres Wissen, wie mir die Bundesregierung bestätigte. Grenzschließungen sind ein Beispiel für Maßnahmen, die zunächst plausibel erscheinen, tatsächlich aber wenig gegen die Ausbreitung eines Virus helfen. Es wäre grundsätzlich wünschenswert, wenn die Evidenz größeres Gewicht bei den Entscheidungen erhielte.
In Absatz 4 des Berichts kritisieren Sie einige Mitglieder dafür, die Grundrechte unangemessenen eingeschränkt zu haben, ohne explizit Länder zu nennen. Welche Länder haben sie gemeint? Haben Sie dabei auch an Deutschland gedacht?
Die Kritik richtet sich einerseits an die mangelnde gegenseitige Unterstützung. So erließen beispielsweise Frankreich und Deutschland Exportverbote für Schutzausrüstung, als diese in Italien dringend gebraucht wurde. Die Einschränkungen der Grundrechte waren in vielen Ländern enorm. Auch in Deutschland, wobei andere Länder noch wesentlich härter reagierten. Besonders kritisch scheint mir die autoritäre Aushebelung des Parlaments in Ungarn. Es wird sich erst noch zeigen müssen, welche Maßnahmen überzogen waren. Ich habe zumindest Zweifel, ob dermaßen weitreichende Einschränkungen der Grundrechte durch die Gefahr zu rechtfertigen sind, die von dem neuen Coronavirus Sars-CoV-2 ausgeht oder ob nicht auch weniger schwere Eingriffe ausgereicht hätten. Deshalb plädiert der Bericht auch dafür, so weit wie möglich auf freiwillige Maßnahmen zu setzen.
Als vor zehn Jahren die sogenannte Schweinegrippe grassierte, haben Sie sich bereits sehr kritisch mit der Rolle der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Pharmaindustrie auseinandergesetzt. Jetzt schlagen Sie vor, der WHO, dem Beispiel anderer internationaler Organisationen folgend, eine parlamentarische Struktur an die Seite zu stellen. Was soll dieser Schritt bringen?
Es geht um die demokratische Kontrolle der WHO durch bestehende parlamentarische Strukturen, etwa die Interparlamentarische Union oder auf europäischer Ebene die PVER. Diese Kontrolle ist wichtig angesichts der bedeutenden Rolle der WHO für die öffentliche Gesundheit. Noch entscheidender scheint mir aber die Forderung, die WHO unabhängig von zweckgebundener Finanzierung zu machen. Dadurch, dass sich die Mitgliedsstaaten immer weiter aus der Finanzierung durch feste, frei verwendbare Beiträge zurückgezogen haben, konnte die Organisation immer schlechter ihren Aufgaben nachkommen. Heute beträgt dieser Anteil nur noch circa 20 Prozent. Private Geldgeber, teils mit eigenen Profitinteressen, sind in die Lücke gestoßen und nehmen dadurch Einfluss auf die Ausrichtung der WHO-Programme. Das ist ein Problem, das durch eine ausreichende öffentliche Finanzierung gelöst werden muss.
Den Regierungen der Mitgliedstaaten schreiben Sie in Ihrer Empfehlung ins Stammbuch, im Europarat wieder eine intergouvernementale Arbeitsgruppe zu Gesundheitsfragen einzurichten, die entsprechende Rechtstexte vorbereitet. Worauf wollen Sie damit hinaus? Haben der Europarat und seine Mitglieder die Gefahr von Pandemien nicht ernst genommen?
Dies ist in der Tat der Fall. Meines Wissens hat kein Mitgliedsland unsere letzte Resolution zur Pandemievorbeugung aus dem Jahr 2016 voll umgesetzt, wenn überhaupt. Eine koordinierte Umsetzung auf Europarats- oder EU-Ebene hat es auch nicht gegeben, einfach, weil die dafür nötigen Strukturen fehlen. Es ist immer schwierig, ein Flugzeug zu fliegen, während es sich noch im Bau befindet. Um im Bild zu bleiben: in der jetzigen Pandemie fehlte es an allem: an den Bauteilen, an Piloten, am Funk, am Boden- und am Flugradar und an der Flugsicherung. Wir hoffen daher, dass unsere Empfehlungen nach dieser Pandemie dazu führen, dass auf allen Ebenen – lokal, regional, national, in Europa und weltweit die nötigen Strukturen geschaffen werden, um künftig einer Pandemie vorbeugen und effektiv begegnen zu können ohne dabei Grundrechte unverhältnismäßig einzuschränken. (ll/26.06.2020)