Vor 30 Jahren: Erste freie Wahl zur Volkskammer der DDR
Rund 12,4 Millionen wahlberechtigte DDR-Bürger waren am 18. März 1990 aufgerufen, ihre erste und einzige freie Volkskammer zu wählen. Anders als bei früheren Parlamentswahlen hatten sie dieses Mal eine echte Wahl. 19 Parteien und fünf Listenverbindungen standen zur Wahl. Jeder Wähler hatte eine Stimme, die er für eine Liste abgeben konnte. In 15 Wahlkreisen wurden die 400 Abgeordneten der Volkskammer nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts gewählt. Eine Sperrklausel, wie die Fünf-Prozent-Hürde, gab es nicht.
Votum für die schnelle Wiedervereinigung
93,4 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung nutzten ihr neues demokratisches Recht. Als klarer Wahlsieger ging die „Allianz für Deutschland“, ein Wahlbündnis aus den Parteien CDU (DDR), der Deutschen Sozialen Union (DSU) und dem Demokratischen Aufbruch (DA) mit 48 Prozent der Stimmen aus den Wahlen hervor. Das Bündnis trat für eine schnelle Wiedervereinigung, Einführung der D-Mark und der sozialen Marktwirtschaft ein.
Zweitstärkste Kraft wurde die aus der Oppositionsbewegung stammende „Sozialdemokratische Partei der DDR“ mit 21,9 Prozent der Stimmen. 16,4 Prozent der Wähler hatten für die SED-Nachfolgeorganisation PDS gestimmt und 5,3 Prozent für den „Bund Freier Demokraten“. Obwohl die Wahl vor allem ein Erfolg der Oppositionsbewegung in der DDR war, erzielte das Bündnis 90, ein Zusammenschluss verschiedener Bürgerrechtsgruppen, lediglich 2,9 Prozent der Stimmen. Insgesamt zogen zwölf Listen in die Volkskammer ein.
Umbruch der Parteienlandschaft
Bis zur politischen Wende im Herbst 1989 hatte jedes Mal lediglich eine Einheitsliste der Nationalen Front zur Wahl gestanden. In ihr waren alle Parteien und politischen Massenorganisationen zusammengeschlossen. Dazu zählten neben der DDR-Staatspartei „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ (SED) und mehreren von ihr dominierten Massenorganisationen, wie der Einheitsgewerkschaft FDGB oder der Jugendverband FDJ, auch Vertreter der vier sogenannten Blockparteien: Christlich-Demokratische Union (CDU), Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD), Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD) sowie Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD). Die Abgeordnetenmandate wurden nach einem bereits vor der Wahl festgelegten Schlüssel unter den Parteien und Organisationen der Einheitsliste verteilt.
Mit dem politischen Umbruch veränderte sich auch die Parteienlandschaft der DDR. Aus der Oppositions- und Bürgerrechtsbewegung waren zahlreiche neue Gruppierungen und Parteien entstanden. Die bisherigen Blockparteien lösten sich aus ihrer Abhängigkeit von der SED und erneuerten – unterschiedlich intensiv – ihr Führungspersonal und ihre Programmatik. Die LDPD benannte sich in „Liberal-Demokratische Partei“, die SED in „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS) um.
Wahlbündnisse
Von den „alten“ Parteien traten die PDS sowie die DBD und die NDPD als Einzelliste an. CDU und LDP gingen jeweils mit neuen Parteien ein Wahlbündnis ein. Die „Allianz für Deutschland“ wurde am 4. Februar 1990 im Beisein von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (CDU) ins Leben gerufen. Im liberalen Spektrum schlossen sich am 12. Februar 1990 die LDP und die neue Deutsche Forumpartei (DFP) sowie die Freie Demokratische Partei (FDP) zur Listenverbindung „Bund Freier Demokraten“ zusammen. Zur Wahl trat auch die ehemalige DDR-Massenorganisation „Demokratischer Frauenbund Deutschlands“ an.
Aus den Reihen der Bürgerbewegung schlossen sich am 7. Februar 1990 die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ (IFM), das „Neue Forum“ (NF) sowie „Demokratie Jetzt“ (DJ) zu „Bündnis 90“ zusammen. „Grüne Partei“ und „Unabhängiger Frauenverband“ (UFV) traten in einer Liste an. Als gemeinsame Liste „Aktionsbündnis Vereinigte Linke“ (AVL) kandidierten die beiden sozialistischen Gruppierungen „Vereinigte Linke“ (VL) und „Die Nelken“. Die SPD (DDR) kandidierte als Einzelliste.
Den Wahlkampf bestimmte vor allem die Frage nach dem Weg und der Geschwindigkeit zur Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands. Die „Allianz für Deutschland“ hatte sich für eine schnelle Wiedervereinigung ausgesprochen. Die SPD und die aus den Bürgerrechtsbewegungen entstandenen Parteien und Listen befürworteten eine Vereinigung nach einer Übergangszeit und die PDS trat für einen Staatenbund ein.
Wahlkampfhilfe durch westdeutsche Partnerparteien
Aktiv begleiteten Parteien und prominente Politiker der Bundesrepublik den Wahlkampf zur 10. Volkskammer der DDR. Zu den Wahlkundgebungen der Parteien erschienen beispielsweise Helmut Kohl in Leipzig, Willy Brandt (SPD) in Erfurt und Oskar Lafontaine (SPD) in Jena sowie Hans-Dietrich Genscher (FDP) in Magdeburg.
Die Parteien der „Allianz für Deutschland“ und des „Bundes Freier Demokraten“ sowie die SPD erhielten im Wahlkampf organisatorische, finanzielle und personelle Unterstützung von ihren westdeutschen Partnerparteien. Insgesamt wurden 7,5 Millionen DM für den Wahlkampf in der DDR eingesetzt. Die PDS und die vormaligen Blockparteien konnten in ihrem Wahlkampf auf bestehende Parteiorganisation zurückgreifen.
Große Koalition aus Allianz, Liberalen und SPD
Nach der Wahl verteilten sich die 400 Abgeordnetenmandate wie folgt: CDU 163, DSU 25, DA 4, SPD 88, PDS 66, Bund Freier Demokraten 21, Bündnis 90 zwölf, DBD neun, Grüne Partei - UFV acht und NDPD zwei Mandate, DFD und AVL jeweils ein Mandat.
Die zehnte Volkskammer konstituierte sich am 5. April 1990 im „Palast der Republik“ und wählte Dr. Sabine Bergmann-Pohl (CDU) zu ihrer Präsidentin. Am 12. April wählte die Volkskammer Lothar de Maizière (CDU) mit 265 Stimmen zum Ministerpräsidenten einer Koalitionsregierung aus der „Allianz für Deutschland“, dem „Bund Freier Demokraten“ und der SPD.
Volkskammer beschließt Beitritt zur Bundesrepublik
In den sechs Monaten ihres Bestehens bis zur deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 kam sie zu 38 Sitzungen zusammen, die fast vollständig vom Fernsehen und Hörfunk übertragen wurden. Sie verabschiedete 164 Gesetze und fasste 93 Beschlüsse.
In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990 beschloss die letzte DDR-Volkskammer mit 294 Ja-Stimmen bei 62 Nein-Stimmen und sieben Enthaltungen den Beitritt der DDR zum „Geltungsbereich des Grundgesetzes“ der Bundesrepublik Deutschland. (klz/10.03.2020)