Die von der Bundesregierung geplante Neujustierung des Finanzausgleichs der Krankenkassen wird von Gesundheitsexperten grundsätzlich unterstützt, allerdings werden einige Regelungen des zugrunde liegenden Entwurfs eines „Fairer-Kassenwettbewerb-Gesetzes“ (19/15662) kritisch hinterfragt. So stufen einige Experten die künftige Regionalkomponente im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) als problematisch ein. Auf heftige Gegenwehr stößt außerdem die geplante Strukturreform beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), wie sich bei einer Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Vorsitz von Erwin Rüddel (CDU/CSU) zeigte. Die Experten äußerten sich in der Anhörung am Mittwoch, 18. Dezember 2019, sowie in schriftlichen Stellungnahmen.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Mit der Reform des Morbi-RSA soll der Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen zielgenauer und weniger anfällig für Manipulationen ausgestaltet werden. Durch eine Regionalkomponente sollen Über- und Unterdeckungen abgebaut und eine Marktkonzentration von Kassen verhindert werden. Künftig soll auch das gesamte Krankheitsspektrum (bisher 50 bis 80 Krankheiten) im RSA berücksichtigt werden.
Für sehr kostspielige Fälle wird ein Risikopool eingerichtet. So sollen Kassen für jeden Leistungsfall, der über 100.000 Euro pro Jahr hinausgeht, 80 Prozent der Ausgaben erstattet bekommen. Die Prävention wird durch eine Vorsorgepauschale gestärkt. Kassen sollen einen Anreiz erhalten, dafür zu sorgen, dass ihre Versicherten die Präventionsangebote in Anspruch nehmen.
„Beeinflussung von Ärzte-Diagnosen unterbinden“
Mit der Novelle sollen zudem Versuche von Kassen unterbunden werden, die Diagnosen der Ärzte mit Blick auf den Morbi-RSA zu beeinflussen. Wenn sich Diagnosekodierungen bei bestimmten Krankheiten auffällig erhöhen, sollen die Kassen dafür keine Zuweisungen mehr bekommen. Auch sollen generell vertragliche Regelungen künftig unzulässig sein, bei denen bestimmte Diagnosen als Voraussetzung für die Vergütung vorgesehen werden.
Ferner soll das Bundesversicherungsamt (BVA) mehr Prüfkompetenzen erhalten mit einer Umkehr der Beweislast rückwirkend ab 2013. Neu eingerichtet wird eine Vertragstransparenzstelle für Selektivverträge der Krankenkassen. Beim GKV-Spitzenverband wird ein Lenkungs- und Koordinierungsausschuss (LKA) geschaffen, der mit Vorstandsmitgliedern der Krankenkassen besetzt werden soll. Damit soll die operative Anbindung des Spitzenverbandes an die Kassen gestärkt werden.
„Schwerer Eingriff in die Selbstverwaltung“
Der Sachverständige Uwe Klemens, zugleich alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrates des GKV-Spitzenverbandes, hält diese Neuregelung für einen schweren Eingriff in die Selbstverwaltung. Der Vorstand des Verbandes werde schon durch den Verwaltungsrat überwacht. Künftig wäre der Verwaltungsrat erheblich eingeschränkt, da Beschlüsse nicht ohne Zustimmung des LKA gefasst werden könnten. Damit würde die Sozialpartnerschaft ad absurdum geführt.
Auch die Reduzierung des Verwaltungsrates von 52 auf 40 Sitze sei abzulehnen, da in der Folge eine adäquate Abbildung der Interessen der Mitgliedskassen nicht mehr gewährleistet sei. Vertreter des Spitzenverbandes schlugen in der Anhörung vor, ein beratendes statt entscheidendes Gremium zu schaffen.
„Schwächung des versorgungsorientierten Wettbewerbs“
Heftige Kritik an den Neuregelungen für den Morbi-RSA kam vom AOK-Bundesverband, der von falschen Anreizen sprach und einer Schwächung des versorgungsorientierten Wettbewerbs der Krankenkassen. Durch die Regionalkomponente würden in erheblichem Umfang finanzielle Mittel aus strukturschwachen, oft ländlichen Regionen und städtische Gebiete verschoben und damit neue Selektionsanreize für Krankenkassen zulasten der Versicherten geschaffen.
Auch die Streichung von Erwerbsminderungsrentnern aus dem Zuweisungssystem setze massive Anreize zur Risikoselektion. Die mit der Manipulationsbremse geplante pauschale Streichung von Zuweisungen stelle eine Morbiditätszunahme unabhängig von den Ursachen unter einen manipulativen Generalverdacht, rügte der AOK-Verband. Mit der BVA-Regelung bestehe die Gefahr, dass die Entscheidungen der regionalen Aufsichtsbehörden nachträglich diskreditiert würden. Das geplante Verbot von Diagnosen in Versorgungsverträgen gefährde zudem die ambulante haus- und fachärztliche Versorgung.
„Geplante Regelung völlig unverhältnismäßig“
Diesen Punkt sieht auch der Mediziner Dr. Werner Baumgärtner äußerst kritisch. Offenbar diene die Reform des Morbi-RSA allein der Abwehr von Manipulationen. Die geplante Regelung sei völlig unverhältnismäßig und greife substanziell in die Gestaltung der Versorgungsverträge ein. Damit würden Versorgungskonzepte konterkariert, die Experten sei Jahren forderten, um Koordinations- und Steuerungsdefizite im Gesundheitswesen abzubauen.
In der Anhörung nannte Baumgärtner einige Beispiele für erfolgreiche Versorgungsverträge, mit denen effiziente Therapien möglich würden. Mehrere Sachverständige forderten eine Präzisierung des Gesetzentwurfs an der Stelle.
„Unfaire Verteilung der Gelder“
Die RSA Allianz, ein Zusammenschluss von Betriebs-, Ersatz- und Innungskrankenkassen, befürwortet die Reform hingegen nachdrücklich. Durch die „ungerechte Finanzverteilung“ seien Verzerrungen im Wettbewerb entstanden.
Einige Kassen hätten ungerechtfertigt Vermögen aufgebaut, andere sei gezwungen gewesen, höhere Zusatzbeiträge zu erheben und Leistungen einzuschränken. Manipulationen und strukturelle Defizite hätten zu der unfairen Verteilung der Gelder geführt.
„Ländliche Räume nicht benachteiligen“
Auch die Bundesärztekammer (BÄK) stimmte mit den grundsätzlichen Zielen der Reform überein, warnte jedoch vor einer Benachteiligung ländlicher Räume durch die Regionalkomponente und forderte eine verbesserte Steuerung der teilweise ungezielten Inanspruchnahme des Versorgungsangebots.
Korrekturbedarf sieht die BÄK hinsichtlich der Versorgungsformen. Durch die geplanten Änderungen würden jahrelang erarbeitete und gelebte innovative Versorgungsansätze in den Regionen gefährdet. Die intendierte Entkoppelung von Diagnosen in Versorgungsverträgen würde sich kontraproduktiv auswirken.
DGB begrüßt Ansätze zur Reform des Morbi-RSA
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) merkte an, die geplanten Vorhaben beträfen wesentliche Grundlagen der Gesundheitsversorgung und seien daher in ihrer Tragweite nicht zu unterschätzen.
Die meisten Ansätze zur Reform des Morbi-RSA würden auch begrüßt. Ob mit der Regionalkomponente mehr Gerechtigkeit in der Kostendeckung und Zielgenauigkeit erreicht werden könne, sei jedoch im Voraus nicht eindeutig zu beurteilen.
Weitere Initiativen der Fraktionen
Gegenstand der Anhörung waren zudem Änderungsanträge der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion zum Regierungsentwurf sowie Anträge der AfD-Fraktion, Lieferengpässe bei Arzneimitteln wirksam zu begrenzen und die Abhängigkeit der Arzneimittelversorgung vom Nicht-EU-Ausland abzubauen (19/15789), verbindliche patienten- und aufgabengerechte Personalvorgaben für alle im Krankenhaus tätigen Bezugsgruppen einzuführen (19/15790) und Wettbewerb in der privaten Krankenversicherung zu stärken, indem Altersrückstellungen beim Anbieterwechsel mitgenommen werden können (19/9233).
Auch einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, in dem sich die Abgeordneten unter anderem für „mehr Qualitätstransparenz für Versicherte“ einsetzen (19/9565), beutachteten die Sachverständigen.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Der Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen soll künftig fairer und zielgenauer als bisher ausgestaltet werden. Das ist laut Bundesregierung Ziel des „Gesetzes für einen fairen Kassenwettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung“. Dazu will die Bundesregierung ihrem Entwurf zufolge unter anderem neue Haftungsregeln einführen und die Verfahrensregeln im Wettbewerb, vor allem für Werbemaßnahmen, verbindlicher gestalten.
Auch die Strukturen des GKV-Spitzenverbandes, des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen, sollen durch einen neuen Lenkungs- und Koordinierungsausschuss weiterentwickelt werden, um „eine engere und transparentere Anbindung an das operative Geschäft der Krankenkassen zu unterstützen“. Darüber hinaus ist geplant, die bisher geltenden Rahmenbedingungen für den Erfahrungs- und Meinungsaustausch zwischen den Aufsichtsbehörden der gesetzlichen Krankenkassen zu konkretisieren, „um Transparenz, Abstimmung und Kooperation zwischen den Aufsichtsbehörden auf Bundes- und Landesebene zu stärken“.
Erster Antrag der AfD
Die AfD fordert in ihrem ersten Antrag (19/15789) von der Bundesregierung einen Gesetzentwurf, mit dem sichergestellt werden soll, dass pharmazeutische Unternehmen eine voraussichtlich über zwei Wochen hinausgehende Nichtverfügbarkeit eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels in Deutschland unverzüglich melden müssen. Die betroffenen Arzneimittel sollen nicht exportiert werden dürfen.
Die Vergabe von Rabattverträgen solle im Fünften Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) so geändert werden, dass Zuschläge grundsätzlich auf mindestens zwei unterschiedliche Anbieter verteilt werden, von denen mindestens einer sowohl das Fertigarzneimittel als auch den darin enthaltenen Wirkstoff innerhalb der EU herstellt oder herstellen lässt.
Zweiter Antrag der AfD
In ihrem zweiten Antrag (19/15790) fordert die AfD die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem sichergestellt wird, dass die Kosten für alle im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen aus den Fallpauschalen (DRG – Diagnosis Related Group) ausgegliedert werden.
Verbindliche patienten- und aufgabengerechte Personalvorgaben sollen nach Ansicht der Fraktion für alle im Krankenhaus tätigen Berufsgruppen gelten.
Dritter Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion will mit ihrem dritten Antrag (19/9233) den Wettbewerb in der privaten Krankenversicherung stärken. Dazu sollen die Altersrückstellungen bei einem Anbieterwechsel mitgenommen werden können.
Zur Begründung heißt es, derzeit sei der Wettbewerb in der privaten Krankenversicherung aufgrund der sehr eingeschränkten Möglichkeiten der Versicherten, beim Anbieterwechsel die Altersrückstellungen mitzunehmen, begrenzt. Der Wettbewerb finde daher überwiegend über Neukunden statt, während bereits Versicherte häufig lebenslang an ihren Anbieter gebunden seien. Dies vermindere die Effizienz der privaten Krankenversicherung und führe zu unnötigen Kosten für die Versicherten.
Antrag der Grünen
Die gesetzlichen Krankenkassen brauchen nach Ansicht der Grünen-Fraktion (19/9565) Anreize für eine bessere Versorgung der Patienten. Bisher finde der Wettbewerb zwischen den Kassen fast nur über den Zusatzbeitrag sowie über Angebote wie Satzungsleistungen und Bonusprogramme statt, heißt es in dem Antrag der Fraktion.
Gute Versorgungsqualität zahle sich für die Krankenkassen nicht aus. Darum seien Instrumente und Anreize nötig, mit denen die Kassen für gute Versorgung belohnt würden. Konkret fordern die Abgeordneten ein unabhängiges und qualitätsgesichertes Monitoring für einen Vergleich der Versorgungsleistung und -qualität der Krankenkassen. Zugleich sollte ein Gutachten über entsprechende Anreize und Instrumente für die Kassen erstellt werden. (pk/18.12.2019)
Liste der geladenen Sachverständigen
Verbände/Institutionen:
- ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V.
- Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V. (APS)
- AOK-Bundesverband GbR (AOK-BV)
- BKK Dachverband e. V. (BKK-DV)
- Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW)
- Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e. V. (BAG SELBSTHILFE)
- Bundesärztekammer (BÄK)
- Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller e. V. (BAH)
- Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V. (BPI)
- Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände – Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. (vzbv)
- Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker e. V. (ADKA)
- Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e. V. (BDA)
- Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN)
- Deutsche Krankenhausgesellschaft e. V. (DKG)
- Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV)
- Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (KBS)
- Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
- Deutscher Hausärzteverband e. V.
- Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA)
- GKV-Spitzenverband
- IKK e. V. – Gemeinsame Vertretung der Innungskrankenkassen
- Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV)
- HAGRO | Bundesverband des pharmazeutischen Großhandels e. V.
- Pro Generika e. V.
- Sozialverband VdK Deutschland e. V.
- ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
- Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek)
- Verband Forschender Arzneimittelhersteller e. V. (vfa)
Einzelsachverständige:
- Dr. Werner Baumgärtner, MEDI Baden-Württemberg e. V.
- Dr. Gertrud Demmer, SBK Siemens-Betriebskrankenkasse
- Dr. Thomas Drabinski, Institut für Mikrodaten-Analyse (IfMDA)
- Prof. Dr. Thorsten Kingreen, Universität Regensburg
- Uwe Klemens, GKV-Spitzenverband
- Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig, Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)
- Prof. Dr. Christoph Straub, BARMER
- Prof. Dr. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen