Stand der Deutschen Einheit 2019 kontrovers bewertet
Knapp 30 Jahre nach dem Mauerfall hat der Bundestag die Lage in den ostdeutschen Ländern durchleuchtet. In einer lebhaften Debatte diskutierten die Abgeordneten am Freitag, 27. September 2019, den Bericht des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Christian Hirte (CDU/CSU), zum Stand der Deutschen Einheit 2019 (19/13500). Zentral war dabei die Frage, welche Strukturschwächen noch im Osten vorherrschen und wie der Fortschritt im Aufholprozess zu bewerten ist. Zum Bericht hat die Fraktion Die Linke einen Entschließungsantrag (19/13575) vorgelegt, der ebenfalls an den Wirtschaftsausschuss überwiesen wurde. Der Bundestag überwies den Bericht sowie einen Entschließungsantrag der Linken (19/13575) zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft und Energie.
„Wir sehen große Unternehmensansiedlungen“
Der Ost-Beauftragte Christian Hirte, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, beschrieb den Stand der DDR-Volkswirtschaft zum Zeitpunkt der Wende als „völlig verschlissen“. Dann zählte er die Fortschritte auf: steigende Löhne, Gehälter und Renten sowie im Osten die niedrigste Altersarmut Deutschlands.
„Wir sehen große Unternehmensansiedlungen“, sagte Hirte. Es gebe aber auch einen anderen Teil, die Abwanderung von Bevölkerungsteilen wirke bis heute nach. „Es gibt kein Wundermittel gegen strukturelle Probleme wie den demografischen Wandel.“
„Aufholprozess ist ins Stocken geraten“
Als erster Redner der Opposition hatte Leif-Erik Holm von der AfD das Wort und kritisierte den Bericht der Bundesregierung scharf, „als würde ich im alten ‚Neuen Deutschland‘ lesen, alles super“. Die Leute im Osten hätten zwar „rangeklotzt“, aber man müsse anerkennen, dass diese sich nicht ernst genommen fühlten; da brauche es keine „Demokratieerziehungsprogramme“.
„Wir sehen, dass der Aufholprozess ins Stocken geraten ist“, sagte er. Das Klimapaket der Bundesregierung sei eine „Kriegserklärung“ an die ländlichen Regionen im Osten und auch im Westen.
„Meckern hilft nicht“
Als erster Redner der SPD erinnerte Carsten Schneider an die Lebensleistungen von Ostdeutschen nach der Wende. „Nicht jeder berufliche Wunsch ist in Erfüllung gegangen“, sagte er, „Ingenieure mussten neu umstellen.“ Dafür sei ihnen zu danken. Schneider kritisierte die Entscheidung der CDU in den 1990er-Jahren, auf eine Niedriglohnpolitik zu setzen: „Das Ergebnis sind nun niedrige Renten.“
Thomas L. Kemmerich (FDP) bemerkte ein „großes Potenzial“ in Ostdeutschland. Gleichzeitig kritisierte er Holm dafür, dass dieser in seiner Rede kein Konzept für die Zukunft geliefert habe: „Meckern hilft nicht.“ Selber forderte Kemmerich: „Der Soli muss weg.“ Dies wäre auch ein Motivationsschub für Leute aus Ostdeutschland, es aus eigener Kraft zu schaffen.
„Das ist alles ein Trauerspiel“
Dr. Dietmar Bartsch ging als Redner der Linke hart mit Hirte ins Gericht. „Das ist alles ein Trauerspiel“, sagte er zu ihm. „Ihre Aufgabe ist nicht die Verteidigung der Bundesregierung.“ Den Bericht nannte er eine „unverantwortliche Lobhudelei“.
Bartsch kritisierte die Lohnangleichung. Würde diese im gleichen Tempo voranschreiten, gäbe es erst im Jahr 2073 gleiche Löhne in Ost und West. „Logisch, dass es viele Pendler und Abwanderungen gibt“, folgerte er. Der Fraktionschef der Linken bemerkte ferner, kein einziger Rektor einer deutschen Universität sei aus dem Osten, ebenso kein Bundesrichter, und nur 1,7 Prozent von Spitzenpositionen seien mit Leuten aus Ostdeutschland besetzt.
„Es gibt kein ‚ihr‘ und ‚wir‘“
Claudia Müller (Bündnis 90/Die Grünen) tadelte Hirte dafür, dass die Medien seinen diesjährigen Bericht zum Stand der Einheit noch vor den Bundestagsabgeordneten erhalten hätten. Zum Bericht sagte sie: „Es wurde zu Recht auf die Schulter geklopft und kritisiert.“ Sie ging auch auf Denk- und Sprachweisen ein: „Wir reden nie über ‚den‘ Westen“, sagte sie, „es gibt kein ‚ihr‘ und ‚wir‘“.
Mark Hauptmann (CDU/CSU) sagte, die Erwerbstätigkeit im Osten sei gleichauf mit der im Westen, die industrielle Wertschöpfung über dem Niveau dort. Der Kritik Schneiders entgegnete er: „Mir ist ein niedriger Lohn lieber als Arbeitslosigkeit.“
„Nach der Party kam die Katerstimmung“
Enrico Komning von der AfD beschrieb die neunziger Jahre mit den Worten: „Nach der Party kam die Katerstimmung.“ Der Osten sei ausgeblutet. Die wirtschaftlichen Probleme seien immer noch immens. „Gleichwertige Lebensverhältnisse sind von der Bundesregierung nicht gewollt.“
Ein Wohlstandsgefälle auch zwischen Nord und Süd sah Ulrike Poschmann (SPD). Es sei richtig, das Fördersystem zu bündeln und auf alle Regionen auszuweiten. Gerald Ullrich (FDP) mahnte, beim Aufholprozess nicht Stadt gegen Land auszuspielen.
„Die Leute kehren wieder zurück“
Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU) erinnerte daran, dass westdeutsche Landkreise von der früheren Einwanderung aus dem Osten profitiert hätten. „Die Leute kehren wieder zurück, das erlebe ich auch in meinem Wahlkreis“.
Frank Junge von der SPD schloss mit einem Appell: Wenn Geleistetes schlecht geredet werde, „erzeugen wir kein Vertrauen in die Handlungsfähigkeiten von Politik“. Auf das Geleistete aber „können wir stolz sein“.
„Angleichung der Lebensverhältnisse weit vorangekommen“
Wie es in dem Bericht heißt, bleibe es 30 Jahre nach der friedlichen Revolution das politische Ziel der Bundesregierung, gleichwertige Lebensverhältnisse überall im Land anzustreben, bestehende Disparitäten zu verringern und deren Verfestigung zu verhindern, heißt es in dem Bericht. Mit vielfältigen Ansätzen, unter anderem der Regional- und Wirtschaftspolitik, will die Bundesregierung nach eigenen Angaben gegensteuern und ein „zukunftsfestes, nachhaltiges Deutschland“ gestalten, in dem der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt wird.
Die Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der Lebensverhältnisse zwischen Ost- und Westdeutschland sei bis heute weit vorangekommen: Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsinfrastruktur seien massiv modernisiert und erweitert worden. Der bauliche Zustand der Städte und Dörfer habe sich sichtbar verbessert, der in DDR-Zeiten entstandene große Sanierungs- und Modernisierungsstau sei weitgehend abgebaut worden. Nach der Wiedervereinigung habe eine der dringendsten Aufgaben im Umweltschutz gelegen. Die Umweltgefahren seien beseitigt und moderne Strukturen aufgebaut worden. Diesen Prozess habe die wirtschaftliche Umstrukturierung unterstützt, die zur Schließung vieler besonders umweltbelastender Produktionsanlagen geführt habe.
Die ökologische Sanierung Ostdeutschlands hat nach Darstellung der Regierung neue Werte geschaffen und viel zum wirtschaftlichen Strukturwandel beigetragen. Deutschland gehöre heute zu den führenden Ländern im Bereich der Umwelttechnologien. Die neuen Länder seien ein attraktiver Standort für die Neuansiedlung junger, innovativer Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Besonders anschaulich werde dies im Bereich der erneuerbaren Energien. Umwelt- und Energietechnologien seien in Ostdeutschland überdurchschnittlich stark vertreten und zunehmend bedeutsam für die wirtschaftliche Entwicklung.
Entschließungsantrag der Linken
Die Linke fordert die Bundesregierung in ihrem Entschließungsantrag unter anderem auf, Anerkennung und Selbst-Wirksamkeit als demokratischen Standard auch für Ostdeutsche durchzusetzen und darauf hinzuwirken, dass es zu einer „gerechten Vertretung“ Ostdeutscher in Führungsfunktionen von Politik, Justiz, Wissenschaft oder Medien kommt.
Ebenso solle die Regierung die Voraussetzungen für gleiche Löhne und Gehälter in Ost und West schaffen und Armut bekämpfen, indem der gesetzliche Mindestlohn auf mindestens zwölf Euro stiegt. Schließlich fordert die Fraktion auch einen Vorschlag für eine sofortige Rentenangleichung an, die bis zur Angleichung der Ostlöhne an die Westlöhne die Umrechnung beibehält. (rüb/vom/sas/27.09.2019)