Parlament

Dietmar Nietan: Müssen weltweite Aufrüstungs­spirale verhindern

Ein Mann mit Bart und Brille lächelt in die Kamera.

Dietmat Nietan (SPD), Leiter der Bundestagsdelegation zur Interparlamentarischen Konferenz für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik (GASP/GSVP) (© DBT/Julia Nowak)

Um sich als Verbündete auf der Weltbühne gegenseitig zu zerlegen, sind die derzeitigen globalen Konflikte und Bedrohungen zu ernst und zu komplex, mahnt Außenpolitiker Dietmar Nietan (SPD) im Interview nach der Herbsttagung der Interparlamentarischen Konferenz für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik (GASP/GSVP), die vom 4. bis 6. September 2019 im finnischen Helsinki stattfand. Nietan fordert von Europäern und Amerikanern mehr Geschlossenheit in der Sicherheits- und Verteidungungspolitik. Als zentrale Aufgabe sieht der Leiter der Bundestagsdelegation die Frage der Abrüstung. “Deutschland und die EU müssen hier neue diplomatische Initiativen starten, um eine weltweite Aufrüstungsspirale zu verhindern.„ Das Interview im Wortlaut:


Herr Nietan, die finnischen Gastgeber der diesjährigen Herbstausgabe der Konferenz haben das Augenmerk auf Sicherheitsfragen im Norden Europas gelegt und die erste Arbeitssitzung dem Baltikum und der Arktis gewidmet. Was gibt es denn dort für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik zu tun?

Im Boden der Arktis lagern Öl und Gas. Russland, China und die USA verfolgen konkurrierende wirtschaftliche und territoriale Interessen. Es geht auch um militärische Präsenz, denn die Arktis liegt strategisch günstig. Damit müssen wir uns in EU, Nato und im Arktischen Rat befassen. Die Bundesregierung hat die Leitlinien deutscher Arktispolitik aktualisiert. Klimaschutz, Forschung, nachhaltige Entwicklung und der Erhalt der Arktis als konfliktarme Region sind dabei zentrale Themen. Das Baltikum ist für die Sicherheitspolitik in EU und Nato eine wichtige Region. Nicht erst seit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine haben die baltischen Länder, die gemeinsam mit Polen an der Ostflanke der Nato liegen, ein besonders großes Sicherheitsbedürfnis. Im Baltikum sind Nato-Truppen stationiert, darunter auch Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.

Das in Turbulenzen geratene transatlantische Verhältnis war ebenfalls Thema der Konferenz. Wo sollten die Europäische Union, die Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch die Nato jetzt anknüpfen, um als Wertegemeinschaft in Sicherheits- und Verteidigungsfragen die Zusammenarbeit bei der weltweiten Krisenprävention und Konfliktbewältigung auszubauen?

Die transatlantische Wertegemeinschaft erlebt schwierige Zeiten, in denen die Trump-Administration eine “America First„-Strategie verfolgt und sich die Europäer untereinander nicht einig werden. Doch weder USA noch EU können Sicherheitsfragen allein bewältigen. Die Konflikte und Bedrohungen, denen wir uns stellen müssen, sind zu komplex. Zentral ist die Frage der Abrüstung nach dem Scheitern des INF-Vertrages (des Vertrages über die Vernichtung der nuklearen Mittelstreckensysteme zwischen USA und Sowjetunion von 1987, Anmerkung der Redaktion). Deutschland und die EU müssen hier neue diplomatische Initiativen starten, um eine weltweite Aufrüstungsspirale zu verhindern. Die jetzt schon spürbaren Auswirkungen des Klimawandels sowie weltweite Armut und Ungleichheit bilden ebenfalls große sicherheitspolitische Herausforderungen.

Differenzen oder zumindest “unterschiedliche Geschwindigkeiten„ gab es auch innerhalb der EU bei der gemeinsamen Verteidigungspolitik von Beginn an. Was müssten, nach dem aktuellen Gedankenaustausch in Helsinki, in diesem Bereich die nächsten konkreten Schritte sein?

In einer globalisierten Welt kann die EU ihren “European Way of Life„ einer mehr oder weniger sozialen Marktwirtschaft eingebettet in einer pluralistischen offenen Gesellschaft nur dann aufrechterhalten, wenn sie sich selbst auch als globalen Akteur versteht und als solcher auch von anderen wahrgenommen wird. Dies erfordert den weiteren Aufbau von zivilen und militärischen Fähigkeiten und einen gestärkten Europäischen Auswärtigen Dienst. Mit Initiativen für einen fairen Welthandel, einer an den 17 “Sustainable Development Goals“ (SDGs) orientierten Entwicklungspolitik, aber auch mit dem Ausbau der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (Pesco) im Verteidigungsbereich oder der Realisierung des Europäischen Verteidigungsfonds muss die EU sich ihrer globaleren Verantwortung stellen.

Abgesehen von den regionalen Konfliktherden rund um die Gemeinschaft tauchen immer wieder neue Arten von Gefahren auf, sei es, dass Terroristen es auf unsere Infrastrukturen absehen oder Kriminelle die Wirtschaft und Gesellschaft über das Internet angreifen. Was sagen Sie als Parlamentarier: Welchen sogenannten hybriden Bedrohungen muss die EU vordringlich etwas entgegensetzen? Und was für Instrumente braucht sie dazu?

Terrorismus, Cyberangriffe, Wahlkampfmanipulation, Verbreitung von Fake News sind Beispiele hybrider Bedrohungen, denen Gesellschaften, ihre Institutionen und Infrastrukturen ausgesetzt sind. Hybride Gegenmaßnahmen sind die Antwort. Hackerangriffe müssen effektiv abgewehrt werden können. Ebenso braucht es politische Bildung, damit Bürgerinnen und Bürger Fake News und Propaganda erkennen. Das Ziel ist „vernetzte Sicherheit“, denn die Bedrohungen halten nicht an Länder- oder Zuständigkeitsgrenzen. In Helsinki haben EU und Nato das „Zentrum gegen hybride Bedrohungen“ gegründet, wo gemeinsam Strategien entwickelt werden. Die EU hat einen gemeinsamen Rahmen für die Abwehr hybrider Bedrohungen geschaffen, der umgesetzt werden muss. Im Europäischen Auswärtigen Dienst arbeitet eine Analyseeinheit für hybride Bedrohungen, die weiter ausgebaut werden muss.

Federica Mogherini, Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, deren Amtszeit Ende Oktober ausläuft, hat auf der Konferenz in ihrem Redebeitrag über Prioritäten der Europäer auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen. Welche „Baustellen“ muss ihr Nachfolger, voraussichtlich der Spanier Josep Borrell, vorrangig bearbeiten?

Der nächste Hohe Vertreter muss die EU auf ihrem Weg als verantwortlich handelndem globalem Akteur weiter voranbringen. So muss die EU zum Beispiel beim Aufbau eines Europäischen Verteidigungsfonds und der Implementierung eines Europäischen Programms zur industriellen Entwicklung eigener Verteidigungsfähigkeiten besser werden. Es geht dabei eben nicht um eine Militarisierung der EU, sondern darum, dass die EU nicht nur ihre zivilen Fähigkeiten, zum Beispiel in der Krisenprävention und Entwicklungszusammenarbeit ausbaut, sondern diese auch durch eigene militärische Fähigkeiten „absichern“ muss, um als starker und unabhängiger Akteur wahrgenommen und akzeptiert zu werden.

(ll/10.09.2019)

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