Zeit:
Mittwoch, 4. November 2020,
16.30
bis 17.30 Uhr
Ort: Berlin, Reichstagsgebäude, Sitzungssaal Fraktionsebene, Sitzungssaal 3 S 001
Gesundheits- und Sozialexperten befürworten, dass die Kosten für medizinisch notwendige Brillen wieder in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen werden. Insbesondere sozial schwächere Bevölkerungsgruppen könnten sich Brillen derzeit kaum leisten und seien damit in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe eingeschränkt, argumentierten Sozialverbände anlässlich einer Anhörung des Gesundheitsausschusses unter Leitung von Erwin Rüddel (CDU/CSU) am Mittwoch, 4. November 2020, über Anträge der Oppositionsfraktionen. Kinder und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr haben Anspruch auf Sehhilfen, Erwachsene nur bei sehr starker Fehlsichtigkeit. Die Sachverständigen äußerten sich in schriftlichen Stellungnahmen.
Verbraucherzentrale: Festbeträge seit 2008 nicht angepasst
Die Sozial- und Gesundheitsverbände schlossen sich in der Zielsetzung den Forderungen der vier Fraktionen an. Der Verbraucherzentrale Bundesverband erklärte, durch die eingeschränkten Leistungen bei Sehhilfen seien Versicherte mit Fehlsichtigkeit einseitig belastet. Bei Brillen sollten die Kosten einer medizinisch notwendigen Versorgung entsprechend dem Wirtschaftlichkeitsgebot von den Kassen übernommen werden.
Die meisten Verbraucher müssten derzeit die Kosten für Brillen komplett selbst aufbringen. Die Krankenkassen bezuschussten bei starker Fehlsichtigkeit mit Festbeträgen lediglich die Gläser, nicht aber die Fassung. Die Festbeträge seien überdies seit 2008 nicht mehr angepasst worden.
Caritas: Entspiegelung nicht nur kosmetische Frage
Die Caritas wies darauf hin, dass Empfänger von Transferleistungen die Brillen aus dem Regelsatz finanzieren müssten. Die Festbeträge umfassten grundsätzlich nicht die Kosten der Entspiegelung einer Brille. Die Entspiegelung sei jedoch bei hochbrechenden Gläsern ab einer bestimmten Refraktionsstärke aufgrund des Materials keine kosmetische Frage, sondern medizinisch geboten.
Nach Ansicht der Caritas sollten langfristig alle erwachsenen Versicherten wieder Anspruch auf einen Zuschuss für Sehhilfen haben. Die Kosten für Brillengestelle sollten hingegen nicht übernommen werden, da es sehr preiswerte Gestelle gebe. Bei einem Rechtsanspruch auf Kostenübernahme wären auch weitergehende Satzungsleistungen einzelner Kassen denkbar.
Auswirkungen auf die gesellschaftliche Teilhabe
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) erklärte, auch weniger starke Sehstörungen könnten zu erheblichen Beeinträchtigungen der Teilhabe führen. Daher sei die Forderung nach einem erweiterten Leistungsanspruch auf Erstattung von Sehhilfen nachvollziehbar. Skeptisch äußerte sich die KBV zu Satzungsleistungen, da nicht alle Versicherten davon profitieren würden. Vor allem die Teilhabe für Versicherte mit niedrigem Einkommen wäre nicht gewährleistet. Zudem würde ein Flickenteppich an Regelungen entstehen mit einem erheblichen Mehraufwand für Arztpraxen. Besser wäre eine kollektivvertragliche Regelung.
Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) machte deutlich, wie gravierend sich eine Sehschwäche auf die gesellschaftliche Teilhabe auswirken kann. Das Sehen spiele die bedeutsamste Rolle bei der Wahrnehmung der Umwelt. Schlechtes Sehen führe häufig zu einer geringeren sozialen Integration, einer geminderten Lebensqualität und einem niedrigeren sozialökonomischen Status. Zugleich werde das Risiko für weitere Gesundheitsprobleme erhöht, etwa durch Sturzgefahr. Auch Sehhilfen für Versicherte mit weniger hohen Dioptrien-Werten seien für die chancengerechte Teilhabe zwingend erforderlich.
Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion fordert eine erweiterte Versorgung von Patienten in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit Sehhilfen. Alle erwachsenen gesetzlich Versicherten mit Sehschwächen sollten die Kosten für ärztlich verordnete Brillengläser und Brillengestelle von der Krankenkasse erstattet bekommen, heißt es in ihrem Antrag (19/4316). Dabei müsse der Grundsatz einer ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung gelten. Ferner sollte auch für Sehbeeinträchtigte mit einem Grad der Behinderung unter 30 Prozent ein Teilhabeanspruch anerkannt werden.
In Deutschland seien rund 41 Millionen Menschen sehbeeinträchtigt. Sie hätten als Erwachsene nur Anspruch auf Sehhilfen, wenn sie eine erhebliche Beeinträchtigung nachweisen könnten. Personen, die mit Sehhilfen eine Sehschärfe von 30 Prozent erreichten, müssten die hohen Kosten für Brillengläser und Brillengestelle selber tragen.
„Erhebliche Beeinträchtigung im täglichen Leben“
Dabei sei eine Sehschärfe von 30 Prozent immer noch eine erhebliche Beeinträchtigung im täglichen Leben, heißt es in dem Antrag weiter. Im Straßenverkehr etwa sei schon bei geringer Fehlsichtigkeit eine Brille gesetzlich vorgeschrieben. Starke Kurz- und Weitsichtigkeit beeinträchtige auch bei einer Sehschärfe von mehr als 30 Prozent die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben deutlich.
Derzeit zähle die Brille zwar zum Hilfsmittel im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Kosten würden jedoch nur in Form eines Zuschusses als Festbetrag übernommen, sofern eine schwere Fehlsichtigkeit oder Blindheit vorliege. Der größte Teil der weniger stark Sehbeeinträchtigten bleibe von der Hilfsmittelversorgung ausgeschlossen.
Antrag der FDP
Die FDP spricht sich dafür aus, Sehhilfen als Satzungsleistung der gesetzlichen Krankenkassen zuzulassen. Bis 2014 hätten einige Krankenkassen Zuschüsse für Sehhilfen angeboten. Diese Angebote seien jedoch als rechtswidrig eingestuft worden, heißt es in im Antrag der Fraktion (19/18913).
Nach Ansicht der Abgeordneten sollten ärztlich verordnete Sehhilfen wie Brillengestelle und Gläser, zusätzliche Sonnenbrillen in Sehstärke und Kontaktlinsen von den gesetzlichen Krankenkassen als Satzungsleistung angeboten werden dürfen. Den Krankenkassen sollte freigestellt werden, ob und in welchem Umfang sie solche Satzungsleistungen anbieten.
Antrag der Linken
Die mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2003 beschlossenen Leistungskürzungen in der gesetzlichen Krankenversicherung sollten nach Ansicht der Fraktion Die Linke zurückgenommen werden. Die Kürzungen hätten sich insbesondere auf verschreibungsfreie Arzneimittel (OTC), Sehhilfen, künstliche Befruchtung, Sterbegeld und Fahrtkosten bezogen und höhlten das Solidarsystem bis heute aus, heißt es in ihrem Antrag (19/6057).
Die Abgeordneten fordern, sinnvolle verschreibungsfreie Medikamente wieder zu erstatten, darunter solche zur Raucherentwöhnung. Auch Sehhilfen sollten wieder in medizinisch notwendigem Umfang erstattet werden. Bei der künstlichen Befruchtung sollten die Kosten vollständig übernommen werden. Dabei sollte der Kreis der Anspruchsberechtigten auf Frauen erweitert werden, die in nichtehelicher, lesbischer, sonstiger oder ohne Partnerschaft leben.
Auch die ärztliche Todesfeststellung solle Teil des Leistungskatalogs sein. Zudem sollten notwendige Fahrtkosten erstattet werden. Asylbewerber seien in die Versicherungspflicht der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung einzubeziehen.
Antrag der Grünen
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen will, dass die Kosten für medizinisch notwendige Sehhilfen künftig wieder von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden. Die derzeitige Sehhilfenversorgung werde den Ansprüchen der sehbeeinträchtigten Versicherten nicht gerecht, heißt es in ihrem Antrag (19/8566).
Die Abgeordneten schlagen vor, zunächst für Brillengläser ab fünf Dioptrien einen Anspruch auf vollständige beziehungsweise ab zwei Dioptrien einen Anspruch auf hälftige Kostenerstattung zu schaffen. Für Leistungsbezieher nach Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB II und SGB XII) müsse bei Sehhilfen eine Regelung zum Schutz vor finanzieller Überforderung eingeführt werden. Eine Reformkommission sollte Vorschläge erarbeiten, wie medizinisch notwendige Sehhilfen nicht nur von Augenärzten, sondern auch von Optikern oder Orthopisten verordnet werden könnten. (pk/04.11.2020)