Wie in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse hergestellt werden können
Arbeitslosenquote, Mieten, Zugang zu schnellem Internet: Deutsche Städte und Regionen weisen in verschiedenen Punkten große Unterschiede auf, auch wenn das Grundgesetz es als Aufgabe des Staates definiert, für gleichwertige Lebensverhältnisse im Land zu sorgen. Dies sei eine „titanische Aufgabe“, sagte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in einer Vereinbarten Debatte des Deutschen Bundestages am Mittwochnachmittag, 7. November 2018. Grundsätzlich waren sich die Redner aller Fraktionen einig: Es besteht dringender Handlungsbedarf.
Innenminister will Räume mit besonderem Bedarf definieren
Horst Seehofer betonte in seiner Rede, Deutschland stehe „ohne jeden Zweifel insgesamt gut“ da. Gleichzeitig seien die Lebensverhältnisse in den einzelnen Regionen „höchst unterschiedlich“. Dies zu ändern, sei eine zentrale Aufgabe dieser Legislatur. Er habe dazu in seinem Ministerium eine Heimatabteilung gegründet, die an Lösungen arbeite. Es sei dabei besonders wichtig, die Kommunen einzubeziehen, weil dort die Menschen lebten. Insbesondere die Finanzkraft der Kommunen sei schlecht, die – etwa mit dem Kohleausstieg – einem starken Strukturwandel ausgesetzt seien.
Er sei der Überzeugung, wenn der Staat diesen Strukturwandel veranlasst habe, müsse er dessen Auswirkungen auch ausgleichen, so der Minister. Man habe eine Kommission mit Vertretern der Regierung, der Bundesländer und Kommunen eingerichtet, um zu einer Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zu kommen. Diese erstelle zunächst einen Deutschland-Atlas, um zu definieren, wo „besonderer Handlungsbedarf“ bestehe. Auf diese Räume müsse man sich konzentrieren.
Familienministerin setzt auf Demokratieförderung
Familienministerin Franziska Giffey (SPD), ebenfalls Mitglied der Kommission, betonte, es sei den Menschen im Land wichtig, stolz auf ihre Heimat zu sein – dafür müsse der Staat die Rahmenbedingungen schaffen. Dabei seien die Voraussetzungen höchst unterschiedlich: So liege die Pro-Kopf-Verschuldung in Darmstadt etwa bei 15.000 Euro, in Kempten dagegen nur bei 375 Euro – entsprechend unterschiedlich könnten die Kommunen agieren.
Wichtig für gute Lebensbedingungen, so Giffey, seien etwa gute Kitas und Schulen, Orte für Senioren, schnelles Internet und eine gute Infrastruktur sowie Demokratieförderung an jedem Ort. Dies müsse in einem „Vierklang“ aus Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft geschehen – so werde das „Wir-Gefühl“ in der Gesellschaft gestärkt. Es gehe nicht um „Gleichmacherei“, aber dafür, dass alle Menschen im Land gute Lebenschancen hätten.
Klöckner warnt vor Neiddebatte
Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, bemängelte in ihrer Rede, die Debatten würden zu häufig „aus der Brille der Großstadt“ geführt – Wohnungsmangel in den Zentren stehe Leerstand im ländlichen Raum, als dessen Anwältin sie sich verstehe, gegenüber.
Dennoch dürfe man keine „Neiddebatte“ und auch keine „Stadt-Land-Debatte“ führen. Man dürfe die Arbeit der Kommission nicht mit zu hohen Erwartungen überfrachten.
Bremer Bürgermeister: Kinderarmut lösen
Carsten Sieling (SPD), Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen, sagte vor dem Parlament, 21 Prozent der Kinder in Deutschland lebten ständig oder wiederkehrend in sogenannten Armutslagen, ihre Situation habe sich in den vergangenen Jahren nicht verbessert, sondern sogar verschlechtert.
Diese Armut sei regional höchst unterschiedlich verteilt, müsse aber unabdingbar gesamtgesellschaftlich gelöst werden. Auf die Frage der Grundsicherung von Kindern neue Antworten zu finden, sei eine der Aufgaben der Kommission.
AfD setzt auf ländlichen Raum
Die AfD will sich bei der Erreichung gleichwertiger Lebenschancen auf den ländlichen Raum konzentrieren. So sagte Enrico Komning, die deutsche dörfliche Kultur mit ihrer „bäuerlichen Tradition“ müsse erhalten bleiben, ergänzt durch einen starken Mittelstand und lebendige Start-ups.
Die Daseinsvorsorge sei eine Kernaufgabe des Staates, die Bundesregierung aber habe den ländlichen Raum über Jahre „links liegen gelassen“. Über eine Abschaffung der Grundsteuer könne man Familien dazu motivieren, aufs Land zu ziehen, Handwerksbetriebe müssten aus den Gewerbegebieten zurück in die Ortskerne.
Linke will soziale Offensive
Für die Linksfraktion warf deren Vorsitzender Dr. Dietmar Bartsch dem Innenminister vor, er habe die Opposition nicht in die Kommission geholt, wo sie ihre Kompetenz auch aus den Ländern einbringen könnte – dies sei ein Fehler. In den letzten Jahren seien in Deutschland die Zahl der Einkommensmillionäre und die Zahl der Kinder in Armut gleichermaßen gewachsen, dies sei ein „Offenbarungseid“ und eine Politik der sozialen Spaltung.
Gehe es um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse, müsse man auch heute noch auf den Osten schauen: Dort seien die Löhne noch immer niedriger, es gebe Deindustrialisierung und Abwanderung. Es brauche endlich eine Anerkennung der Ost-Biografien, sonst werde man einen Vertrauensverlust in die Politik erleben. Bartsch sagte, es brauche „endlich eine soziale Offensive in diesem Land“.
FDP zweifelt an Kompetenz der Koalition
Die liberale Abgeordnete Linda Teuteberg betonte, es sei „gut und richtig“, eine Debatte um die Lebensverhältnisse in Deutschland zu führen – von gleichwertigen Bedingungen sei man „weit entfernt“. Nicht nur in strukturschwachen Regionen, auch in Wachstumsregionen wie München und Berlin hätten Menschen das Gefühl, „ihre Heimat zu verlieren“. Deutschland als reiches Land habe die Kraft, daran etwas zu ändern, aber wohl nicht mit der aktuellen Koalition, die weiterhin auf Rezepte setzen würde, die schon in der Vergangenheit nicht geholfen hätten.
Grüne: Solidarität ist der Schlüssel
Für die Bündnisgrünen sagte Katrin Göring-Eckardt, jeder Bürger habe das „grundgesetzliche Recht“ auf gleiche Chancen und Bedingungen. Dabei sei es vollkommen egal, warum die ungleiche Entwicklung stattgefunden habe, die Antwort darauf könne nur Solidarität und Zusammenhalt sein.
Es sei daher gut, Regionen mit besonderem Handlungsbedarf zu definieren – denn wenn Menschen sich ausgeschlossen fühlten, müsse man sich um den Bestand der Demokratie sorgen.
CDU/CSU will Ehrenamt stärken
Für die Uniosfraktion hielt Dr. Stephan Harbarth fest, der Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung oder schnellem Internet dürfe keine Frage des Wohnorts sein, denn das würde die Gesellschaft spalten.
Gehe es um die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse plädiere er dafür, sich den ehrenamtlich Engagierten zuzuwenden und ihnen die Arbeit zu erleichtern. Der Staat wisse nicht besser Bescheid als seine Bürger.
SPD: Kommunen entlasten
Der SPD-Innenpolitiker Bernhard Daldrup sagte es gehe darum, die Regionen in die Lage zu versetzen, die individuellen Freiheiten nutzen zu können.
Dafür müsse man die Kommunen etwa von den Sozialausgaben entlasten und ihnen bei Altschulden helfen. (suk/07.11.2018)