Blickwinkel der Fraktionen auf den Stand der Deutschen Einheit
Fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat der Bundestag am Donnerstag, 27. September 2018, über die Situation von Menschen und Wirtschaft in Ostdeutschland diskutiert. Anlass für die gut 90-minütige Aussprache war der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2018, den die Bundesregierung als Unterrichtung vorgelegt hatte (19/4560).
Ostbeauftragter: Signifikante Fortschritte erreicht
Für die Bundesregierung äußerte sich dabei der Ostbeauftragte Christian Hirte (CDU/CSU) grundsätzlich positiv. Er sprach von signifikanten Fortschritten, die erreicht worden seien. Insgesamt liefere der Bericht mehr Grund zu Stolz auf das Erreichte denn zu Skepsis und Verdruss. In dem Bericht stellt die Bundesregierung unter anderem fest, dass Ostdeutschland beim Lohnniveau und der Wirtschaftskraft weiterhin gegenüber Westdeutschland zurückliegt. Hirte bestätigte, dass es nach wie vor einen Rückstand gebe, der vor allem strukturelle Ursachen hat.
Der CDU-Politiker verwies etwa auf den massiven Bevölkerungsrückgang im Osten, der schlicht nicht kompensiert werden könne. Diese demographischen Einschnitte führten dazu, dass die Annäherung zwischen Ost und West mittlerweile stagniert.
Diskussionen nicht nur aus westlichem Blickwinkel führen
Dabei warnte Hirte davor, ein komplettes Gleichziehen als Ziel zu setzen: Es gehe darum, überall in Deutschland gute Lebensbedingungen zu ermöglichen – nicht überall die gleichen. Der Ostbeauftragte erwähnte dies auch mit Blick auf die in dieser Woche eingesetzte Kommission zur Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen.
Er warnte davor, die Diskussion lediglich aus westlichem Blickwinkel zu führen. Zu oft werde vergessen, dass die Menschen im Osten eine komplette Umbruchsituation hinter sich haben. Ein gefühltes Missachten der Lebensleistung vieler Ostdeutscher, verstärkt durch Tatsachen wie die westliche Dominanz in Führungsetagen, führe mancherorts zu einem Gefühl des Abgehängtseins. Hirte bekannte dabei, dass die Distance in gesellschaftspolitischen Fragen im Osten insgesamt größer sei und statistisch gesehen Extremismus mehr grassiere als im Westen – ohne dass es freilich gerechtfertigt sei, gleich alle im Osten als rechtsradikal zu bezeichnen.
SPD: Besondere Situation des Ostens berücksichtigen
Frank Junge vom Koalitionspartner SPD bekräftigte Erwartungen an die Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse. Die besondere Situation des Ostens müsse dort Berücksichtigung finden, sagte der Abgeordnete. Bei Investitionen jedweder Art gehe es eben nicht nur um Mittelstandsförderung, mehr Forschungseinrichtungen und ein Stärken von Polizei und Justiz – sondern auch darum, welche Menschen sich dann auf Leitungsebene fänden.
Martin Dulig (SPD), Staatsminister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr in Sachsen, sprach sich für eine Kommission aus, die die Nachwendezeit aufarbeiten solle. Es werde Zeit, über Form und Fehler des Systemwandels zu sprechen. Man habe die Deutsche Einheit zu lange auf Zahlen reduziert, dabei gebe es viele Ostdeutsche, die sich unfair behandelt fühlen.
AfD: Eklatante Unterschiede zwischen Ost und West
Die oppositionelle AfD-Fraktion kritisierte nach wie vor eklatante Unterschiede zwischen Ost und West. Die Menschen im Osten seien häufiger arm oder arbeitslos und würden früher sterben, sagte der Abgeordnete Enrico Komning (AfD).
Die Ausbauziele bei flächendeckendem Breitband würden stetig nach hinten verschoben, Förderprogramme seien mit unverhältnismäßig hohem bürokratischen Aufwand verbunden. Die Einheit werde erst dann erreicht, wenn der Osten die gleichen Chancen erhält.
FDP: Vorbild an Estland nehmen
Auch Thomas L. Kemmerich von der FDP-Fraktion mahnte Infrastrukturmaßnahmen an. Es gehe auch darum, den Menschen zu zeigen: Es gibt Veränderungen, und ihr seid Teil dessen.
Kemmerich ermunterte zu einer offensiveren Haltung beim Fachkräftemangel und forderte ein zielgerichtetes Einwanderungsgesetz – genauso wie Mut zu neuen Vorbildern. Die ostdeutsche Wirtschaft sei kleinteiliger als die westdeutsche, also könne man ja beispielsweise wie Estland werden: Klein, fein und digital.
Linke warnt vor Vertrauensverlust zu Staat und Parteien
Für die Linksfraktion warnte Matthias Höhn (Die Linke) vor dem sich ausweitenden Vertrauensverlust zu Staat und Parteien. Dieser Trend sei im Osten mit den Händen zu greifen. Zeitgleich verfestige sich der Abstand etwa bei der Rente und beim Vermögen.
Ostdeutsche hätten meist keine Chance, sie hätten sich Demokratie erkämpft und die Treuhand gleich mitbekommen. Höhn wehrte sich aber auch gegen Stimmungen aus dem rechten Lager. Einen Abbau des Sozialstaats kompensiere man nicht, indem man Grundrechte von Migranten und Flüchtlingen einschränkt.
Grüne: Den Osten ernst nehmen
Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) schließlich plädierte für ein Ende des „mit dem Finger Aufeinanderzeigens“. Der Osten müsse ernst genommen werden – die Menschen seien nicht die Zugezogenen dieser Republik, sondern Ost und West gehöre zusammen. Bei der Diskussion über die Folgen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs erinnerte sie auch an die weiterreichenden Konsequenzen von fehlendem Unternehmertum gerade in ländlichen Gegenden: So gehe vielerorts auch soziales Engagement verloren. Die ausbleibenden Impulse durch fehlende Forschungseinrichtungen täten ihr Übriges.
Im Anschluss daran wurde der Bericht zur weiteren Beratung in die Ausschüsse überwiesen, ebenso wie ein Antrag der Linksfraktion. Die Abgeordneten fordern in einem Entschließungsantrag (19/4566) zum Bericht, dass die Unterrepräsentanz Ostdeutscher in Führungsfunktionen von Politik, Justiz, Wissenschaft oder Medien beendet wird.
Mangel an Konzernzentralen großer Unternehmen
Die Bundesregierung stellt unter anderem fest, dass Ostdeutschland beim Lohnniveau und der Wirtschaftskraft weiterhin gegenüber Westdeutschland zurückliegt. Die Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft und ein Mangel an Konzernzentralen großer Unternehmen seien wichtige Gründe für diese Unterschiede. So sei kein einziges ostdeutsches Unternehmen im Börsenleitindex DAX-30 notiert. Nahezu kein Großunternehmen hat seine Zentrale in Ostdeutschland. Viele ostdeutsche Unternehmen gehörten zudem zu westdeutschen oder ausländischen Konzernen. Das beschränke nicht selten deren Entwicklungsmöglichkeiten in der Region. Dieser Strukturunterschied schlage sich unter anderem in geringeren Forschungs- und Innovationsaktivitäten sowie in weniger ausgeprägter Internationalisierung nieder. Niedrigere Produktivität und fehlende Spitzengehälter träten hinzu.
Der Saldo der Binnenwanderung zwischen Ost- und Westdeutschland hat sich nach Regierungsangaben über die Jahre auch im Zusammenhang mit der Angleichung der Lebensverhältnisse weitgehend ausgeglichen. Gleichwohl hätten der Anfang der teilweise dramatische Rückgang der Kinderzahl Anfang der neunziger Jahre sowie die damals starke Abwanderung vor allem junger, gut qualifizierter Menschen langfristige Nachwirkungen.
Alterung schreitet schneller voran als im Westen
Trotz des erfreulichen Anstiegs der Geburtenrate nehme die Einwohnerzahl, vor allem die Zahl der Erwerbsfähigen, weiter ab und die Alterung schreite schneller voran als in den westdeutschen Ländern. Das beeinflusse die Angleichung der Wirtschaftskraft und der Lebensverhältnisse auf vielfältige Weise, heißt es. Die im Vergleich zum Westen Deutschlands ungünstigere Altersstruktur und die in vielen ostdeutschen Gegenden geringere Siedlungsdichte begrenzten bereits heute die Zahl der Fachkräfte, die der Wirtschaft zur Verfügung stehen.
In etwa zwei Dritteln aller Berufe habe sich die Situation in den letzten fünf Jahren weiter zugespitzt; dies gelte vor allem in Ostdeutschland. Überdies würden sich die Relationen zwischen den Altersgruppen im Osten Deutschlands in den kommenden Jahren stärker verschieben als im Westen. Der Anteil der Menschen im Erwerbsalter werde deutlich sinken, während der Anteil der Menschen ab 65 Jahren beträchtlich ansteigen werde.
Entschließungsantrag der Linken
Die Linke fordert in ihrem Entschließungsantrag (19/4566) zum Bericht, dass die Unterrepräsentanz Ostdeutscher in Führungsfunktionen von Politik, Justiz, Wissenschaft oder Medien beendet wird. Auch solle die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse einen Plan vorschlagen, der den Rückzug des Staates aus der öffentlichen Daseinsvorsorge rückgängig und Ostdeutschland für die Rückkehr attraktiver macht.
Darüber hinaus müsse die Ungleichheit bei Löhnen und Renten zwischen Ost und West beendet und die 1989 geforderte Freiheit erst ermöglicht werden. Dafür müsse die Rentenangleichung sofort vorgenommen werden.(pez/vs/sas/27.09.2018)