Gesundheitsexperten begrüßen am Montag, 8. Oktober 2018, in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit unter Vorsitz von Erwin Rüddel (CDU/CSU) das von der Bundesregierung vorgelegte Versichertenentlastungsgesetz (19/4454) in weiten Teilen, sehen bei einigen Regelungen aber Korrekturbedarf. Während die paritätische Finanzierung der Krankenversicherungsbeiträge von Sozialverbänden und Krankenkassen befürwortet wird, warnen die Arbeitgeber vor höheren Lohnzusatzkosten. Im Detail strittig sind die Absenkung der Mindestbeitragsbemessungsgrenze für kleine Selbstständige, die Abschmelzung großer Rücklagen bei den gesetzlichen Krankenkassen und das Verfahren zur Streichung von Karteileichen aus den Bilanzen der Krankenversicherungen. Die Fachleute und Fachverbände äußerten sich in einer öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses des Bundestages am Montag in Berlin sowie in schriftlichen Stellungnahmen.
Wiederherstellung der Parität
Nach Ansicht des Sozialverbandes Deutschland hat mit der Wiederherstellung der Parität der Zusatzbeitrag ausgedient. Sinnvoll wäre die Einführung eines kassenindividuellen Beitragssatzes. Zudem sollte auch in der Pflegeversicherung die Parität hergestellt werden, die durch die Wegfall des Buß- und Bettages, den Zuschlag für Kinderlose und die alleinige Zahlung der Rentner verletzt werde.
Der Arbeitgeberverband BDA erinnerte daran, dass die Unternehmen allein die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall finanzieren. Von einer paritätischen Kostenverteilung könne also keine Rede sein. Der Verband forderte eine Begrenzung der Kosten für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Zudem sollte bei einer Beteiligung der Arbeitgeber am Zusatzbeitrag die günstigste Kasse zugrunde gelegt werden. Eine Verbandssprecherin warnte in der Anhörung vor einer Zusatzbelastung für Arbeitgeber im Umfang von zunächst fünf Milliarden Euro sowie langfristig bis zu 300.000 Jobs weniger.
Mindestbemessungsgrundlage für Selbstständige
Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erklärte, die Absenkung der Mindestbemessungsgrundlage für hauptberuflich Selbstständige sei sinnvoll. Damit werde anerkannt, dass die jetzige Beitragsfestsetzung „der veränderten Lebens- und Einkommenssituation dieser Mitgliedergruppe“ nicht mehr gerecht werde. Allerdings plädiert der Spitzenverband dafür, die neue Bemessungsgrenze nicht bei 1.168 Euro im Monat festzulegen, sondern bei 1.557 Euro. Ansonsten wäre die Nähe zur Mindestbemessungsgrenze für die übrigen freiwillig Versicherten in Höhe von 1.038 Euro so groß, dass gleich eine einheitliche Grenze für alle freiwillig Versicherten eingeführt werden könnte.
Selbstständigenverbände fordern eine Absenkung der Mindestbemessungsgröße auf einheitlich 450 Euro, damit die Beiträge auch für Teilzeit-Selbstständige mit geringem Einkommen erschwinglich werden. Andernfalls würden viele Fachkräfte, vor allem Frauen, an der Erwerbstätigkeit gehindert.
Absenkung der GKV-Rücklagen
Von Krankenkassen kritisch gesehen wird die Regelung zur Absenkung ihrer Rücklagen. Nach Ansicht der Betriebskrankenkassen (BKK) birgt die verpflichtende Senkung des Zusatzbeitrags ab einer bestimmten Obergrenze „erhebliche Risiken und Wettbewerbsbeeinträchtigungen“. Es sei besser, „überschießende Finanzmittel“ an den Gesundheitsfonds zu überweisen. So könnte der allgemeine Beitragssatz gesenkt werden und alle würden von der Entlastung profitieren.
Kleinere Kassen mit weniger als 100.000 Mitgliedern müssten von den Regelungen ausgenommen werden. Erst bei Kassen mit mehr als 100.000 Mitgliedern sei sichergestellt, dass bei einer Reduzierung der Finanzreserven ein „Auftreten von Hochkostenfällen“ nicht kurzfristig zu einer existenziellen Bedrohung führen könne. Bei diesen Kassen sollte die Reservegrenze zudem bei 150 Prozent einer Monatsausgabe liegen. Bei traditionellen BKK sollte wegen der Haftung der Trägerunternehmen ganz auf eine Obergrenze verzichtet werden.
„Ausgabensteigerungen im Blick behalten“
Auch der AOK-Bundesverband sieht die Regelung kritisch und befürchtet, dass finanzielle Handlungsspielräume eingeengt werden. Dies könnte die langfristigen Planungen der Kassen konterkarieren.
Zudem müssten die Ausgabensteigerungen durch künftige Gesetzesvorhaben im Blick behalten werden, bevor Rücklagen abgeschmolzen werden. Bei der geplanten Reduzierung der Beitragsschulden fordert die AOK, auf eine „verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung“ zu verzichten. Wie der Rechtswissenschaftler Helge Sodan in der Anhörung sagte, ist die vorgesehene rückwirkende Regelung jedoch nicht zu beanstanden.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Mit dem Versichertenentlastungsgesetz (19/4454) soll in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ab 2019 die vollständige paritätische Finanzierung wieder eingeführt werden. So wird der Zusatzbeitrag, der bisher nur von den Versicherten getragen wird, künftig wieder zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern bezahlt. Der paritätisch finanzierte allgemeine Beitragssatz in Höhe von 14,6 Prozent bleibt erhalten. Die Beitragszahler sollen mit dem Gesetz um insgesamt rund acht Milliarden Euro pro Jahr entlastet werden. Der Gesetzentwurf sieht auch eine Entlastung kleiner Selbstständiger vor, die sich in der GKV versichern wollen. Demnach soll der monatliche Mindestbeitrag für Selbstständige ab 2019 auf rund 171 Euro halbiert werden. Zugleich sollen die Krankenkassen dazu verpflichtet werden, ,,passive„ Mitgliedschaften zu beenden, um eine weitere Anhäufung von Beitragsschulden zu verhindern.
Angesichts der zum Teil hohen Rücklagen von Krankenkassen sollen diese dazu verpflichtet werden, ihre Finanzreserven abzuschmelzen. Die Rücklagen dürfen dem Entwurf zufolge künftig eine Monatsausgabe nicht mehr überschreiten. Überschüssige Beitragseinnahmen müssen ab 2020 innerhalb von drei Jahren abgebaut werden. Krankenkassen mit einer Reserve von mehr als einer Monatsausgabe dürfen ihren Zusatzbeitrag nicht anheben. Zugleich soll der sogenannte Risikostrukturausgleich (RSA) reformiert werden. Schließlich soll ehemaligen Zeitsoldaten ab 2019 ein einheitlicher Zugang zur GKV ermöglicht werden. Die Soldaten erhalten ein Beitrittsrecht zur freiwilligen Versicherung in der GKV und nach Ende ihrer Dienstzeit einen Beitragszuschuss, der anstelle der Beihilfe gezahlt wird.
Antrag der AfD
Die AfD-Fraktion fordert die Einführung von kostendeckenden Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für Bezieher von Arbeitslosengeld II. Der Bund zahle für die ALG-II-Bezieher und sogenannte Aufstocker Beiträge in den Gesundheitsfonds ein. Diese Beiträge deckten nicht die Leistungsausgaben, heißt es in einem Antrag (19/4538) der Fraktion.
Die im Koalitionsvertrag vereinbarte schrittweise Einführung kostendeckender Beiträge für diese Versichertengruppe müsse umgesetzt werden. Zudem müsse sichergestellt werden, dass die Unterdeckung der GKV-Leistungsausgaben für ALG-II-Empfänger vom Bund innerhalb der nächsten zehn Jahre vollständig ausgeglichen werde.
Antrag der FDP-Fraktion
Die FDP-Fraktion fordert eine Absenkung der Beiträge für freiwillig versicherte Selbstständige in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Im Gegensatz zu abhängig Beschäftigten orientierten sich die Beiträge von Selbstständigen mit kleineren Einkommen an der Mindestbeitragsbemessungsgrenze von derzeit monatlich rund 2.283 Euro, heißt es in einem Antrag (19/4320) der Fraktion. So zahlten Selbstständige mit Einkommen unterhalb dieses Betrags überhöhte Beiträge. Viele dieser Selbstständigen mit geringem Einkommen könnten die Beiträge für die Krankenversicherung nicht aufbringen, weil als Berechnungsgrundlage für die Beitragssätze in der GKV ein fiktives Einkommen von 4.425 Euro im Monat angenommen werde.
Die Abgeordneten fordern nun konkret, die Mindestbeitragsbemessungsgrenze für hauptberuflich Selbstständige auf die Geringfügigkeitsgrenze in Höhe von derzeit 450 Euro abzusenken. Die Beiträge müssten künftig anhand des tatsächlichen Einkommens bemessen werden, sofern dieses die Mindestbeitragsbemessungsgrenze übersteige, aber den für den Kalendertag dreißigsten Teil der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze nicht erreiche.
Die Einkünfte müssten jährlich rückwirkend anhand der Einkommenssteuerbescheide nachgewiesen werden. Die Beitragshöhe für Studenten sollte entsprechend der Mindestbeitragsbemessungsgrenze angepasst werden.
Anträge der Linken
Die Fraktion Die Linke begrüßt Entlastungen grundsätzlich. In ihrem Antrag (19/4244) kritisiert sie jedoch, dass die Änderungen weit hinter dem zurückblieben, was unkompliziert geregelt werden könnte. Konkret fordert die Linksfraktion, die Zusatzbeiträge ganz abzuschaffen und hohe Rücklagen der Krankenkassen nicht zur Beitragssatzsenkung bei diesen Kassen zu nutzen, sondern für Leistungsverbesserungen. Zudem sollte die Mindestbemessung aller freiwillig Versicherten auf 450 Euro reduziert werden, statt sie nur für Selbstständige auf rund 1.140 Euro zu verringern. Nötig sei auch ein Schuldenschnitt der bisher von Mindestbemessungsgrenzen Betroffenen.
Darüber hinaus fordern die Abgeordneten eine Entlastung von geringverdienenden Selbstständigen und anderen freiwillig Versicherten in der Gesetzlichen Krankenversicherung in einem weiteren Antrag (19/102). Rund sechs Millionen Beitragszahler seien in der GKV freiwillig versichert, sie könnten sich also auch privat versichern. Für diese Gruppe gelte mit dem Mindestbeitrag eine Sonderreglung, heißt es dem Antrag. (pk/08.10.2018)
Liste der Sachverständigen
Verbände/Institutionen
- AOK-Bundesverband GbR (AOK-BV)
- AWO Bundesverband Berlin e. V.
- BKK Dachverband e. V.
- Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW)
- Bundesverband für Kindertagespflege e. V. (BVKTP)
- Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e. V. (BDA)
- Der Paritätische Gesamtverband (DPWV)
- Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV)
- Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See (KBS)
- Deutscher BundeswehrVerband e. V. (DBwV)
- Deutscher Gewerkschaftsbund Bundesvorstand (DGB)
- Gemeinsame Vertretung der Innungskrankenkassen e. V. (IKK)
- GKV-Spitzenverband (GKV)
- Sozialverband Deutschland e. V. (SoVD)
- Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek)
- Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland e. V. (VGSD)
- Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. (vzbv)
Einzelsachverständige
- Dr. Martin Albrecht, IGES Institut GmbH
- Prof. Dr. Stefan Greß, Hochschule Fulda
- Dr. Andreas Lutz, Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland e. V. (VGSD)
- Prof. Dr. Stefan Sell, Hochschule Koblenz
- Univ.-Prof. Dr. Helge Sodann, Freie Universität Berlin
- Carola Sraier, BundesArbeitsGemeinschaft der PatientInnenstellen und -Initiativen (BAGP)
- Prof. Dr. Volker Ulrich, Universität Bayreuth
- Prof. Dr. Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen