Parlament

Schäuble: Ge­walt­monopol des Staates ist nicht relativierbar

Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble hat zu Beginn der Plenarsitzung am Dienstag, 11. September 2018, betont, dass das Gewaltmonopol des Staates und die Durchsetzung des Rechts nicht relativierbar sind. Mehrfach von Beifall unterbrochen, sagte Schäuble zum Auftakt der viertägigen Haushaltsberatungen im Bundestag:

„Die letzten Wochen haben uns vor Augen geführt, dass in Teilen unserer Bevölkerung Verunsicherung wächst und dass sich die Gesellschaft spaltet. Und das fordert uns als gewählte Repräsentanten.
Unterschiedliche Interessen, Lebensstile, Meinungen gehören zu jeder freiheitlichen Ordnung. Um sie auszugleichen und um zu Entscheidungen zu kommen, braucht es öffentliche Debatten, und dazu gehören auch Demonstrationen; aber die Entscheidungen müssen demokratisch legitimiert und nicht auf der Straße gefunden werden.
Die Ereignisse in Chemnitz zwingen uns zu unterscheiden: Zwischen den unentschuldbaren Gewaltexzessen und den Sorgen, die viele Bürger umtreiben.
Vor drei Jahren habe ich angesichts des großen Zustroms von Flüchtlingen und Migranten aus der süd- und südöstlichen Nachbarschaft Europas gesagt, dass mir das wie ein Rendezvous mit der Globalisierung vorkomme. Und heute scheint mir, dass wir erst jetzt so richtig erkennen, welche Auswirkungen das auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land hat.
Manche Bürger finden sich, ihre Empfindungen und Wahrnehmungen in unseren politischen und medial vermittelten Debatten nicht wieder. Das aber ist eine Voraussetzung dafür, dass wir die vielen atemberaubend schnell und grundlegend erscheinenden Veränderungen für alle erträglich gestalten – gewaltfrei und im Respekt vor unterschiedlichen Meinungen und Betroffenheiten.
Menschen, die sich vor zu vielen und zu schnellen Veränderungen in ihrer Lebens- und Erfahrungswelt fürchten, auch vor zu viel Zuwanderung in kurzer Zeit, solche Menschen müssen genauso ernst genommen werden wie jene, die in einer enger zusammenwachsenden Welt für Offenheit und für globale Solidarität eintreten. Nur der Ausgleich untereinander wird zu mehr Akzeptanz für den unausweichlichen gesellschaftlichen Wandel führen – einer Akzeptanz, die für die Stabilität in unserem Land unerlässlich ist.
Das geht nicht ohne Streit – aber gewaltfrei und nach Regeln, die für alle gelten und die weder offen noch klammheimlich unterlaufen werden dürfen. Missstände müssen benannt und behoben werden. Aber permanente und maßlose Skandalisierung schadet. Nicht jedes Fehlverhalten in Behörden ist schon ein Beweis für angebliches Staatsversagen, wie wir bei der Untersuchung von Verfehlungen in einer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gerade wieder gesehen haben. Auch nicht jede Ausschreitung bei großen Menschenansammlungen, bei Demonstrationen oder aus anderen Anlässen diskreditiert deswegen alle friedlichen Teilnehmer.
Aber: Die Gewaltfreiheit steht über allen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten. Das Gewaltmonopol des Staates und die Durchsetzung des Rechts sind nicht relativierbar. Unsere Rechtsordnung verpflichtet alle in Gesellschaft und Politik, auch in Behörden und Sicherheitsorganen, und sie fordert zugleich Respekt für diejenigen, die diesen Dienst für uns leisten.
Wir müssen bei der Durchsetzung des Rechts besser werden. Schnell. Konsequent. Sichtbar. Dann können uns Bilder erspart bleiben von bürgerkriegsähnlichen Szenen bei der Eindämmung gewalttätiger Ausschreitungen, wie wir das beim G-20-Gipfel in Hamburg erleben mussten. Das ist ein Appell an alle, die in unserem Land für Rechtsstaatlichkeit Verantwortung tragen, für das Funktionieren von Polizei und Justiz.
Wenn wir gegenseitige Toleranz und Respekt untereinander sichern wollen, müssen wir darauf bestehen, dass Gewalt oder die Aufforderung zur Gewalt genauso verboten sind, wie die Verwendung von Parolen und Symbolen, die den demokratisch-rechtsstaatlichen Grundkonsens unserer Republik infrage stellen. Ausländerfeindlichkeit, Hitlergrüße, Nazi-Symbole, Angriffe auf jüdische Einrichtungen – für all das darf es weder Nachsicht noch verständnisvolle Verharmlosung geben.
Und schließlich: Das Demonstrationsrecht ist kein Freibrief für Gewaltexzesse. Wir haben zu oft erlebt, dass friedliche Demonstrationen von Gewalttätern als Schutzraum missbraucht werden. Da gibt es zwischen gewalttätigen Chaoten bei Linksextremen und Schlägern und Naziparolen bei Rechtsextremen keinen Unterschied. 
Wie Fische im Wasser müssten sich die Revolutionäre bewegen, hat Mao einst seine Anhänger gelehrt. Diese Freiheit dürfen wir den Feinden unserer freiheitlichen Demokratie nicht geben, und wir dürfen auch nicht zulassen, dass mehr oder weniger feinsinnig Grenzen ausgelotet und verschoben werden. Wir brauchen keine Revolution, sondern einen starken und toleranten Rechtsstaat. Und darauf müssen wir bestehen.“ (vom/11.09.2018)