Schäuble: Eine multilaterale Organisation wie die OSZE ist unverzichtbar
Zu ihrer 27. Jahrestagung vom 7. bis 11. Juli 2018 sind die Abgeordneten der Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE-PV) in Berlin zusammengekommen. In der ersten von drei Plenarsitzungen begrüßte der Präsident der OSZE-PV, George Tsereteli aus Georgien, am Sonntag, 8. Juli 2018, die mehr als 300 Abgeordneten aus 57 Ländern im Reichstagsgebäude.
In der Eröffnungssitzung diskutierten die Abgeordneten darüber, wie sich die Rechte von Kindern auf der Flucht stärken lassen und nahmen nach Aussprache über mehrere Änderungsanträge einen gemeinsamen Text an. Zu dem Thema gab es mehrere Wortmeldungen, Änderungsanträge und Erwiderungen zu den unterschiedlichsten spezifischen Aspekten. Von dem Problem fehlender Dokumente und Altersangaben über die Gefahren des Kindesmissbrauchs und des Menschenhandels bis hin zu den gesundheitlichen Auswirkungen auf von ihren Eltern getrennte Kinder.
Lanjri: Bedingungen für minderjährige Migranten verbessern
Wie vermieden werden kann, dass Kinder, die auf der Flucht sind, von ihren Familien getrennt werden, war einer der zentralen und lebhaft diskutierten Punkte in der Debatte. Nahima Lanjri, Vorsitzende des Ad-hoc-Ausschusses für Migration aus Belgien, berichtete dem Plenum über dessen Arbeit und bat die Delegierten um Zustimmung zu dem Entwurf ihres Gremiums.
Sie warb dafür, dass von der Parlamentarischen Versammlung der OSZE ein klares Signal an die Regierungen der Mitgliedstaaten ausgeht, die Rahmenbedingungen für minderjährige Migranten zu verbessern. Etwa 173.800 unbegleitete Kinder seien weltweit auf der Flucht. In den letzten Jahren verzeichne man einen besorgniserregenden Anstieg der Zahlen.
Fry: Trennung der Kinder von den Eltern vermeiden
Würden Kinder unfreiwillig von ihren Eltern getrennt, sei dies ein traumatisierendes Erlebnis, das die Entwicklung dieser Menschen nachhaltig präge, sagte die Ärztin Hedy Fry aus Kanada, Sondergesandte der OSZE für Gender-Fragen. Es liege im Interesse aller, solche Traumatisierungen zu vermeiden.
Mitglieder der US-amerikanischen Delegation rangen um den richtigen Kurs der Vereinigten Staaten im Spannungsfeld zwischen Grenzsicherung und Humanität. In ihren Beiträgen erinnerten die Amerikaner sowohl an die Geschichte und das Selbstverständnis der USA als Einwanderungsland als auch an die Herausforderungen illegaler und „irregulärer“ Migration für die Sicherheit des Landes, wie es auf ungarischen Antrag hin in dem Text der OSZE umformuliert wurde.
Barnett: Flüchtlingen humanitäre Hilfe gewähren
Doris Barnett, SPD-Bundestagsabgeordnete und Schatzmeisterin der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, warb eindringlich dafür, Flüchtlingen zunächst humanitäre Hilfe zu gewähren, bis entwicklungspolitische Maßnahmen greifen. Es brauche Zeit, um die Ursachen für Flucht in den Herkunftsländern zu bekämpfen.
„Gehen wir menschlich mit den Menschen um. Morgen können wir alle Flüchtlinge sein“, sagte sie. So hätten in der Zeit des Nazi-Terrors viele Deutsche in den USA Zuflucht gefunden. Stelle man nach dieser ersten Hilfe dann fest, dass es keinen Grund für einen Aufenthalt in Deutschland gebe, „dann führen wir die Menschen zurück“. Jedem gebühre aber zunächst Schutz und Hilfe.
Bemühungen um bessere Terrorismusbekämpfung
Die Delegierten nahmen sich außerdem der Bekämpfung des Terrorismus an. Mavroudis „Makis“ Voridis aus Griechenland, Vorsitzender des Ad-hoc-Ausschusses für Terrorismusbekämpfung, berichtete. Der Ausschuss habe intensiv darüber beraten, wie sich die internationalen Bemühungen der Staatengemeinschaft zur Terrorismusbekämpfung verbessern ließen. Auch die Vereinten Nationen hätten seit 2002 bereits zahlreiche Dokumente vorgelegt.
„Welchen Mehrwert aber können wir als Parlamentarier schaffen?“, fragte Voridis und betonte die Macht der Versammlung von Parlamentariern aus 57 Ländern über ihre Regierungen. Ihrer Funktion gemäß, die Regierungen zu kontrollieren, sollte man in der gemeinsamen Erklärung die Regierungen fragen, inwieweit sie ihren Verpflichtungen zur Terrorabwehr nachgekommen sind, die sie im Rahmen der Vereinten Nationen eingingen. Am Ende müsse eine einheitliche Gesetzgebung zur Grenzsicherheit und zum Informationsaustausch stehen.
Picchi: Wir glauben an den internationalen Handel
Die Delegierten hatten außerdem Gelegenheit, Fragen an den amtierenden italienischen Vorsitz zu stellen. Der stellvertretende italienische Außenminister Guglielmo Picchi skizzierte in seinen Erwiderungen auf die Fragen und in seinem Redebeitrag die Agenda des italienischen Vorsitzes in der OSZE. Er plädierte für einen freien und fairen Welthandel. „Wir glauben an den internationalen Handel, unter diesen drei Bedingungen: Internationaler Handel muss symmetrisch und fair sein und auf die Umwelt achten“, sagte Picchi.
Auch der Frage der Migrationsströme werde sich die OSZE mit höchster Priorität annehmen, mit ihren Instrumenten aber die Bemühungen anderer Institutionen zu ergänzen versuchen – nicht zu ersetzen. Nur durch einen multilateralen Ansatz und nicht durch nationale Abschottung und Alleingänge lasse sich auch die Migrationskrise im Mittelmeerraum lösen, sagte Picchi und mahnte, die Sicherheitslage im Süden sei auch für den Rest Europas von Bedeutung, bis hin nach Zentralasien. Alle Mitgliedsländer müssten sich ihrer Verantwortung bewusst werden und sich an der Verteilung der Flüchtlinge beteiligen.
„Frozen conflicts im Auge behalten“
„Je mehr wir als Parlamentarier miteinander reden, desto besser können die Regierungen schließlich Lösungen finden“, sagte Picchi im Hinblick auf die Konflikte zwischen einigen Mitgliedstaaten wie Russland und Ukraine sowie Armenien und Aserbaidschan. Die italienische Präsidentschaft werde die bereits seit vielen Jahren schwelenden, sogenannten „frozen conflicts“ im Osten im Auge behalten. Die jüngsten Fortschritte bei der Konfliktlösung um Transnistrien seien ermutigend. Dabei werde man nicht die Bekämpfung des internationalen Terrorismus vergessen, bis hin zu der brisanten Problematik der sogenannten „foreign fighters“, die sich in den Dienst des „Islamischen Staates“ stellen.
Sorge bereiteten ihm die Angriffe auf OSZE-Beobachter in der Ukraine. Alle Mitgliedstaaten sein aufgefordert, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und OSZE-Missionen den nötigen Schutz zu gewähren. „OSZE-Beobachter müssen in Sicherheit arbeiten können.“ Auch im Bereich der Internet-Sicherheit sieht Picchi ein Aufgabenfeld für die sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der OSZE.
„Doppelte Standards darf man nicht dulden“
Hinsichtlich der Sorge um die Defizite in der Strafverfolgung, speziell gegenüber Sexualstraftätern, forderte er die Mitgliedstaaten auf, zusammenzuarbeiten. Hätten beispielsweise die USA eine Lösung erarbeitet, sollten sie ihr Beispiel dem Vorsitz und den anderen Mitgliedern zukommen lassen, man werde das aufgreifen. Zu all diesen Themen werde es im kommenden Halbjahr unter italienischem Vorsitz bis zum OSZE-Ministerrat in Mailand am 6. und 7. Dezember weitere Fachkonferenzen geben.
Der italienische Vorsitz werde auf die parlamentarische Versammlung zugehen. Dass sich die Vertreter aus 57 unterschiedlichen Ländern zur Zusammenarbeit treffen, sei ein gutes Signal. Um heikle Themen anzugehen, sei der Dialog ein Wert an sich. Und die Arbeit in den Fachausschüssen trage dazu bei, dass sich die beteiligten Regierungen die gemeinsam erzielten Ergebnisse zu eigen machten. Doppelte Standards dürfe man dabei innerhalb der Organisation nicht dulden. „Bei der OSZE handelt es sich östlich und westlich von Wien um ein und dieselbe Institution.“
Schäuble: Bedarf an globaler Ordnung wächst
In seiner Eröffnungsrede vor dem Plenum hatte Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble an die Gründungs- und Kernidee der OSZE erinnert und die Errungenschaften und das Verbindende der Organisation für Europa betont. Die Idee sei gewesen „Frieden und Wohlstand durch Vertrauen und Kooperation über die Systemgrenzen hinweg“ zu schaffen. „Eine wegweisende, erfolgreiche Idee!“
Leider erlebe man gerade vielfach ein Abrücken von Werten, Vorstellungen und Verabredungen, die jedoch nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt hätten. Angesichts neuer Herausforderungen würden allzu oft einfache Lösungen und nationale Alleingänge propagiert.
Dabei wachse der Bedarf an globaler Ordnung. „Eine multilaterale Organisation wie die OSZE ist unverzichtbar“, sagte Schäuble. Diese Institution verfüge über einen einzigartigen Erfahrungsschatz, um internationale Herausforderungen anzugehen, die sich nicht von den Mitgliedsländern allein lösen lassen, allem voran die Kompetenz im Bereich des Krisen- und Konfliktmanagements oder in der Wahlbeobachtung.
„Unabhängige Wahlbeobachtermissionen erhalten“
Schäuble mahnte dabei, das Instrument der unabhängigen Wahlbeobachtermissionen der OSZE zu erhalten. „Gerade in Zeiten zunehmender Spannungen sind gemeinsam getroffene Vereinbarungen ein Wert an sich und sollten nicht leichtfertig zur Disposition gestellt werden. “
Die parlamentarische Dimension der OSZE werde vor dem Hintergrund verhärteter Fronten und gegenseitigen Misstrauens weiter an Bedeutung gewinnen. „Es kann hier gelingen, Gesprächsfäden zu erhalten und neu zu knüpfen, gerade wenn die Regierungen feststecken“, sagte Schäuble. „Die Parlamentarische Versammlung ist so gesehen eine dauernde Übung im Verständnis für die Perspektive des anderen – ohne die es keine vernünftige Außenpolitik geben kann.“
Scholz: Keine Alternative zu kooperativen Ansätzen
Auch Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) ging in seiner Rede auf den Wert internationaler Zusammenarbeit ein und nahm Bezug auf den Tagungsort, das Reichstagsgebäude, und Berlin, das nach dem Kalten Krieg zu einem Symbol einer der friedlichsten Perioden in vielen Teilen Europas geworden sei. Mit der Vorläuferin der OSZE, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), und der OSZE habe man für den Kontinent eine umfassende Sicherheitsordnung geschaffen, fußend auf Demokratie und Menschenrechten. Die Mauer als das Symbol der Trennung sei gefallen. „Heute ist es für Berlin-Besucher nur noch schwer nachvollziehbar, wo die Mauer einst stand. Berlin und der Reichstag erinnern uns an die Erfolge der OSZE.“
Das damals geschaffene, regelbasierte System werde heute leider vielfach infrage gestellt. Dabei ließen sich internationale, grenzüberschreitende Probleme wie die Gefahr durch den Terrorismus, aber auch Migrationsfragen nur gemeinsam lösen.
„Zu den multilateralen und kooperativen Ansätzen, wie sie innerhalb der OSZE praktiziert werden, gibt es keine Alternative.“ Eine weitere Desintegration der internationalen Ordnung gelte es zu verhindern. „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Versprechungen einer nationalistischen und konfrontativen Politik, die vorgibt, die Probleme zu lösen, verfangen“, so der Vizekanzler. Ironischerweise fielen populistische Parolen gerade in Ländern auf fruchtbaren Boden, die stark vom Multilateralismus profitiert haben.
„Instabilität ist ansteckend“
Die Zusammenkunft der Parlamentarischen Versammlung in Berlin sei geeignet, die Aufmerksamkeit auf das Konfliktlösungspotenzial der OSZE zu lenken. Im Bereich der Sicherheitspolitik müssten die Parlamentarier die Regierungen zu konkreten Maßnahmen und Ergebnissen im Rahmen des sogenannten „strukturierten Dialogs“ drängen.
In der Ukraine und auf der Krim habe man es nach wie vor mit ernsthaften internationalen Krisen zu tun, immer noch habe hier die militärische Logik die Oberhand. Die Streitparteien müssten sich dazu durchringen, die eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten und umzusetzen, mahnte Scholz und sagte: „Instabilität ist ansteckend, und kein Land sollte denken, dagegen immun zu sein.“
Zwei weitere Plenarsitzungen
Die zweit Plenarsitzung findet am Dienstag, 10. Juli, von 15 bis 18 Uhr, die dritte und abschließende Plenarsitzung am Mittwoch, 11. Juli, von 9 bis 12 Uhr statt.
Beide Sitzungen werden live im Parlamentsfernsehen, im Internet auf www.bundestag.de und auf mobilen Endgeräten übertragen.
Sitzungen der Allgemeinen Ausschüsse
Neben dem Plenum und dem Ständigen Ausschuss tagen auch die drei Allgemeinen Ausschüsse der OSZE-PV: der Allgemeine Ausschuss für politische Angelegenheiten und Sicherheit kommt am Montag, 9. Juli, von 9 bis 10.30 Uhr und von 14.30 bis 16 Uhr sowie am Dienstag, 10. Juli, von 9 bis 11 Uhr zusammen.
Der Allgemeine Ausschuss für wirtschaftliche Angelegenheiten, Wissenschaft, Technologie und Umwelt tagt am Montag, 9. Juli, von 9 bis 10.30 Uhr und von 14.30 bis 16 Uhr sowie am Dienstag, 10. Juli, von 9 bis 11 Uhr.
Der Allgemeine Ausschuss für Demokratie, Menschenrechte und humanitäre Fragen versammelt sich am Montag, 9. Juli, von 11 bis 12.30 Uhr und von 16.30 bis 18 Uhr sowie am Dienstag, 10. Juli, von 11.30 bis 13.30 Uhr.
Weitere Informationen und Unterlagen zur Tagung können direkt von der Internetseite der OSZE-PV abgerufen werden (https://www.oscepa.org/).
(ll/08.07.2018)