Der wortgleiche Gesetzentwurf von CDU/CSU und SPD zur 16. Änderung des Atomgesetzes (19/2508, 19/2705) ist bei einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit unter Leitung von Michael Thews (SPD) auf ein differenziertes Echo der eingeladenen Juristen gestoßen. Mit dem Entwurf soll ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Dezember 2016 umgesetzt werden, das den Energieunternehmen in bestimmten Fällen einen Ausgleichsanspruch infolge des Atomausstieges von 2011 zugesprochen hatte. Zum einen sollen laut Gesetzentwurf demnach bestimmte frustrierte Investitionen der Atomkraftwerksbetreiber ausgleichsfähig sein, zum anderen nicht mehr verwertbare Strommengen, die den Kernkraftwerken Brunsbüttel, Krümmel und Mülheim-Kärlich zugewiesen wurden.
„Recht verfassungskonform anwenden“
Rechtsanwalt Dr. Marc Ruttloff sprach von einer „angemessenen Umsetzung“ der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Es bedürfe aber sowohl in Bezug auf die frustrierten Investitionen als auch bei der Frage der Höhe der Entschädigungsansprüche einer verfassungskonformen Rechtsanwendung.
Ruttloff argumentierte, dass sich der Ausgleich für gegebenenfalls nicht mehr verwert- und vermarktbare Strommengen auf die Strompreise von 2011, als das beklagte 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes in Kraft trat, und nicht auf Durchschnittspreise beziehen müsse.
„Es gehört zu den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsätzen, dass für die Bemessung eines Entschädigungsanspruchs der Zeitpunkt des Grundrechtseingriffs ausschlaggebend ist“, begründete Ruttloff in seiner schriftlichen Stellungnahme.
„Anspruchsberechtigte klar benennen“
Eine andere Auffassung vertrat in der Anhörung Prof. Dr. Christoph Möllers (Humboldt-Universität zu Berlin). Es handle sich eben nicht um eine Entschädigung, sondern um eine Kompensation. Entsprechend sei der von Ruttloff angeführte Eingriffsmoment für die Höhe des möglichen finanziellen Ausgleichs nicht relevant.
Möllers sagte mit Bezug auf den Gesetzentwurf, es bestehe vielmehr das Potenzial einer Überkompensation, die verhindert werden müsse. Dazu schlug der Rechtswissenschaftler vor, einerseits die Anspruchsberechtigten – RWE und Vattenfall – klar im Gesetz zu benennen sowie den Ausgleichsanspruch für die Reststrommengen des Kernkraftwerks Brunsbüttel zu streichen. Für dieses Kraftwerk sei eine Kompensation dem Urteil nach nicht geboten. Zudem empfahl Möllers, die kompensationsfähige Strommenge im Gesetz explizit zu nennen.
„Angebote auf Angemessenheit prüfen lassen“
Ähnlich äußerte sich Dr. Olaf Däuper. Der Rechtsanwalt problematisierte zudem das Verwaltungsverfahren, in dem der Ausgleichsanspruch für nicht verwertbare Strommengen berechnet werden soll. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Konzerne sich „ernsthaft“ darum bemühen müssen, ihre in ihren Kraftwerken nicht mehr verwertbaren Strommengen „zu angemessenen Bedingungen“ zu vermarkten und so auf andere Kraftwerke zu übertragen. Für nicht übertragene Strommengen soll dann nach Abschalten der letzten Kernkraftwerke spätestens zum 31. Dezember 2022 ein Ausgleich vorgenommen werden.
Kritisch, so Däuper, sei dieses Verfahren, weil die Anspruchsberechtigten erst dann erfahren würden, ob die möglichen Bedingungen der Übertragung angemessen waren oder nicht – und entsprechend ein Ausgleichsanspruch besteht oder nicht. Dies könne zu weiteren Rechtsstreitigkeiten führen, sagte Däuper, und schlug vor, den Anspruchsberechtigten die Möglichkeit einzuräumen, Angebote schon frühzeitig auf ihre Angemessenheit prüfen zu lassen.
„Spielräume bleiben ungenutzt“
Ähnlich argumentierte auch Prof. Dr. Markus Ludwigs (Julius-Maximilians-Universität Würzburg). Ludwigs forderte zudem, in dem Gesetz auch die Grundlage für einen öffentlich-rechtlichen Vertrag aufzunehmen.
Prof. Dr. Georg Hermes (Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main) kritisierte, dass die Vorgaben des Gerichts zwar korrekt umgesetzt würden, Spielräume aber ungenutzt blieben. Der Entwurf liefe energiepolitischen Zielen zuwider, da die Obliegenheit zur Vermarktung der Reststrommengen das Ziel einer möglichst frühen Abschaltung der Kernkraftwerke unterminiere. Haushaltspolitisch sei der Entwurf auch nicht zufriedenstellend, da der Ausgleichsanspruch „sehr großzügig“ gestaltet sei. Hermes schlug vor, einen Gemeinwohlabschlag vorzusehen, um die möglichen Ausgleichszahlungen gering zu halten.
„Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern“
Grundsätzlich unterschiedliche energiepolitische Ansichten und Forderungen stellten Dr. Götz Ruprecht (Institut für Festkörper-Kernphysik) und Thorben Becker (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) in den Raum. Ruprecht widersprach der Annahme, dass Kernkraft eine Risikotechnologie sei. Er schlug vor, statt auf Ausgleichszahlungen auf eine Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke zu setzen. Damit entstünden keine Kosten für die Steuerzahler, die Emissionen fielen geringer aus und der Strom bliebe länger billig.
Becker hingegen betonte, dass Atomkraftwerke ein Sicherheitsrisiko seien und es auch in Deutschland jederzeit zu einem großen Unfall in einem Atomkraftwerk kommen könne. Er forderte mit Blick auf den Gesetzentwurf, auf Strommengenübertragungen insbesondere in Netzausbaugebiete zu verzichten und diese zu untersagen.
Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Der Gesetzentwurf ist auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2016 zurückzuführen, in dem die Karlsruher Richter bestätigt hatten, dass die 13. Änderung des Atomgesetzes mit dem Ziel, den Atomausstieg zu beschleunigen, im Einklang mit dem Grundgesetz steht. Bemängelt hatten sie lediglich, dass eine Ausgleichsregelung für Investitionen fehlt, die zwischen dem 28. Oktober 2010 und dem 16. März 2011 (fünf Tage nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima) getätigt wurden.
Mit der elften Änderung des Atomgesetzes waren den Kernkraftwerken 2010 zusätzliche Elektrizitätsmengen gewährt worden, die die in Rede stehenden Investitionen auslösten. Mit der 13. Änderung des Atomgesetzes nach Fukushima waren diese zusätzlichen Mengen wieder entzogen worden, sodass die „im berechtigten Vertrauen“ getätigten Investitionen der Kraftwerksbetreiber entwertet wurden.
Das Gericht bemängelte ebenso das Fehlen eines angemessenen Ausgleichs dafür, dass substanzielle Teile der den Kernkraftwerken Brunsbüttel, Krümmel und Mülheim-Kärlich im Jahr 2002 gesetzlich zugewiesenen Elektrizitätsmengen nicht in jeweils konzerneigenen Anlagen verstromt werden können. Mit dem Gesetzentwurf sollen diese verfassungsrechtlichen Mängel beseitigt werden.
„Oberer dreistelliger Millionenbereich plausibel“
Dazu ist vorgesehen, die Paragrafen 7e bis 7g in das Gesetz einzufügen, die die Anspruchsgrundlagen und das Verwaltungsverfahren für einen angemessenen finanziellen Ausgleich regeln. Zudem können die Betreiber der Kernkraftwerke Brunsbüttel, Krümmel und Mülheim-Kärlich Anfang 2023 einen finanziellen Ausgleich verlangen, soweit die diesen Kraftwerken zugewiesenen Elektrizitätsmengen nicht mehr bis Ende 2022 auf ein anderes Kernkraftwerk übertragen werden und auch „trotz ernsthaften Bemühens“ übertragen werden konnten.
Über die Höhe der Ausgleichsansprüche könnten keine detaillierten Angaben gemacht werden, heißt es weiter. Die konkrete Höhe könne erst festgestellt werden, wenn die geltend gemachten Ausgleichsansprüche von der zuständigen Bundesbehörde geprüft worden seien. Die Abschätzung der tatsächlichen Haushaltsausgaben sei daher mit „erheblichen Unsicherheiten“ behaftet, da der Ausgleichsanspruch erst mit Ablauf des Jahres 2022 entstehe und in seiner Höhe abhängig sei von der Entwicklung der Strompreise, den Kosten für die Stromerzeugung in den Jahren bis Ende 2022 und etwaigen möglichen Übertragungen von Elektrizitätsmengen. „Aus heutiger Sicht erscheint ein Betrag im oberen dreistelligen Millionenbereich plausibel“, heißt es dazu. (scr/vom/13.06.2018)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Dr. Marc Ruttloff, Rechtsanwalt, Institut der Deutschen Wirtschaft Köln e. V.
- Dr. Thilo Schaefer, EnBW Energie Baden-Württemberg AG
- Dr.-Ing. Hans-Josef Zimmer
- Prof. Dr. Christoph Möllers, Humboldt-Universität zu Berlin
- Dr. Olaf Däuper Rechtsanwalt
- Dr. Götz Ruprecht, Institut für Festkörper-Kernphysik
- Prof. Dr. Markus Ludwigs, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
- Thorben Becker, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. (BUND)
- Prof. Dr. Georg Hermes, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main
- Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände