Ratas zum Volkstrauertag: Europa wird von der ganzen Welt gebraucht
Der estnische Ministerpräsident Jüri Ratas hat in der Gedenkstunde zum Volkstrauertag betont, dass der „unablässige Schutz der Menschenrechte“ die Gesellschaft festigt und ein „unabdingbares Mittel für die Aufrechterhaltung des Friedens“ ist. Ratas, derzeit auch Präsident des Rates der Europäischen Union, sagte am Sonntag, 19. November 2017, im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes in Berlin, um die Stabilität des Friedens müssten sich alle kümmern und dafür Verantwortung übernehmen.
Europäische Institutionen gegen Feindschaft und Gier
Ratas plädierte für ein politisches Ideal, „das uns hilft, besser zu leben“. Aus diesem Grund „brauchen wir Europa“ und werde Europa „von der ganzen Welt gebraucht“. Die Institutionen der Europäischen Union würden helfen, Anzeichen von Feindschaft, Gier und Aggressivität entgegenzutreten. „Es gibt nur eine Welt und einheitliche Regeln. Mit anderen Worten, vertraue mir und handle so, dass auch ich dir vertrauen kann. Die Bedeutung dieser Botschaft kann man nicht hoch genug schätzen“, sagte der 39-jährige Regierungschef.
Ratas erinnerte an die Zeiten des Kalten Krieges, als ein Teil Europas „in eine dunkle Höhle“ vertrieben war und „wir fürchteten, uns niemals daraus befreien zu können“. Europa habe sich wiedervereinigt, und für die Esten wie für viele andere kleine Völker sei ein „endlos scheinender Alptraum“ vorbei gewesen.
„Vorreiterrolle Deutschlands bei der Aussöhnung“
Ratas betonte die „Vorreiterrolle“ Deutschlands bei der Aussöhnung. Helmut Kohl sei ein großer Europäer und enger Freund Estlands gewesen. „Unser aller Verpflichtung ist es, die Früchte seiner Arbeit und seiner Vision vom geeinten Europa in Frieden zu ehren.“
Der Ministerpräsident wies auch auf das 100-jährige Bestehen Estlands hin, das am 24. Februar 2018 gefeiert wird. „Als ein kleines Volk sind wir in unserem Herzen stolz, wir sind glücklich, diesen Meilenstein begehen zu können, denn alles hätte auch anders ausgehen können.“ Der Frieden in Europa lebe trotz der vergangenen Kriege. Frieden sei ein praktischer und emotionaler Wert, da er „eine Form des Existierens und des Selbstempfindens als Mensch in dieser Welt“ darstelle: „Frieden ist das Bewusstsein dafür, wie zerbrechlich und heilig das Leben ist.“
Dank für „ausgestreckte Hände der Zusammenarbeit“
Zuvor hatte der Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, General a.D. Wolfgang Schneiderhan, daran erinnert, dass der Volksbund im staatlichen Auftrag über 830 Soldatenfriedhöfe im Ausland pflegt. „Nur indem wir, ohne Schuld zu pauschalisieren, zu unserer Geschichte und zu der mit ihr verbundenen Verantwortung wahrhaftig stehen, schaffen wir die Voraussetzungen, mit unseren ehemaligen Kriegsgegnern gemeinsam unserer Opfer zu gedenken“, sagte der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr. Ein solches gemeinsames Gedenken sei nicht selbstverständlich, und man sei dankbar für die „ausgestreckten Hände der Zusammenarbeit“.
Mit dem 75. Jahrestag der sowjetischen Offensive zur Befreiung Stalingrads verband Schneiderhan die Hoffnung, dass durch die gemeinsame Erinnerung Versöhnung, Toleranz und Friedensfähigkeit zu „Imperativen unserer menschenwürdigen gemeinsamen Zukunft werden können“.
Deutsch-russische Erinnerung an Einzelschicksale
Schülerinnen und Schüler der deutsch-russischen Schulkooperation des Friedrichsgymnasiums Kassel und des Gymnasiums der westsibirischen Stadt Nowy Urengoi in der Russischen Föderation berichteten von ihrem gemeinsamen Projekt, sich mit den Biografien deutscher Kriegsopfer in Russland und sowjetischer und tschechischer Kriegsopfer in Deutschland zu beschäftigen. Laetitia Grunewald aus Kassel sagte, sie wollten dazu beitragen, dass die Erinnerung wachgehalten und der hier Gestorbenen gedacht wird.
Der Schüler Jonas Vaupel aus Kassel stellte Iwan Andrejewitsch Gusew vor, Offizier der Roten Armee, der in deutscher Kriegsgefangenschaft an Tuberkulose erkrankte und an Ostern 1945 befreit wurde. Raphael Weiß aus Kassel erzählte das Schicksal der sowjetischen Zwangsarbeiterin Nadja Truwanowa aus Kirowohrad, die 17-jährig an einer schweren Krankheit in Deutschland starb.
Der Schüler Nikolaj Desjatnitschenko aus Nowy Urengoi schilderte das Los des Wehrmachtssoldaten Georg Johann Rau aus der Nähe von Sigmaringen, der im März 1943 als 21-Jähriger im sowjetischen Kriegsgefangenenlager Beketowka bei Stalingrad umkam. Waleria Agajewa aus Nowy Urengoi berichtete von Julius Dietrich, geboren 1912 in Küstrinchen (Brandenburg), vermisst seit Januar 1943. Irina Kokorina aus Nowy Urengoi machte schließlich auf Julius Vogt aufmerksam, der im Gefangenenlager Ljublino bei Moskau im Alter von 23 Jahren an den Folgen einer Vergiftung starb.
Gedenken an die Opfer von Gewalt und Krieg
Das Totengedenken an die Opfer von Gewalt und Krieg sprach Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier. Die Gedenkstunde wurde musikalisch umrahmt vom Jugendchor „Die Primaner“ des Georg-Friedrich-Händel Gymnasiums Berlin unter Leitung von Jan Olberg und vom Bläseroktett des Musikkorps der Bundeswehr aus Siegburg unter Leitung von Hauptfeldwebel Jana Heß. „Die Primaner“ trugen „Die mit Tränen säen“ von Johann Hermann Schein (1586-1630), „Es geht eine dunkle Wolke herein“ von Hugo Distler (1908-1942) und „Lux Aurumque“ des 1970 geborenen US-amerikanischen Komponisten Eric Withacre vor. Das Bläseroktett spielte den zweiten Satz aus dem Larghetto un poco sotenuto von Josef Mysliveček (1737-1781).
Im Anschluss an das Totensignal „Der gute Kamerad“, vorgetragen von Hauptfeldwebel Jan Pompino, Solotrompeter des Musikkorps der Bundeswehr, schloss die Gedenkstunde mit der Europahymne und der Nationalhymne. Die Gedenkveranstaltung steht traditionell unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten.
833 Kriegsgräberstätten in 46 Staaten
Der Volksbund betreut heute im Auftrag der Bundesregierung die Gräber von etwa 2,7 Millionen Kriegstoten auf 833 Kriegsgräberstätten in 46 Staaten. Er wird dabei unterstützt von mehr als einer Million Mitgliedern und Förderern sowie der Bundesregierung.
Das Leitwort ist: Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden. (vom/19.11.2017)