Ulla Schmidt verteidigt Kritik an der Türkei
Die Parlamentarische Versammlung der Nato habe den Auftrag, „von Regierungen zu verlangen, Verstöße gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abzustellen“: Mit diesen Worten verteidigt Ulla Schmidt (SPD) im Interview ihren Bericht zur Lage am Schwarzen Meer, in dem auch Kritik an der massiven Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien durch die türkische Regierung bei ihrem Vorgehen nach dem Putschversuch geübt wird. Der Bericht der SPD-Abgeordneten, über den die Nato-Parlamentarier bei ihrer Tagung in Bukarest vom 6. bis 9. Oktober 2017 abstimmen, stößt bei der türkischen Delegation auf Widerstand. Schmidt ist stellvertretende Leiterin der Bundestagsdelegation. Das Interview im Wortlaut:
Frau Schmidt, der eskalierende Streit zwischen der Türkei und Deutschland sowie anderen Ländern und der EU scheint die Nato bislang nicht zu berühren. Wie kommt es, dass die Beziehungen zwischen der Allianz und ihrem Mitglied Türkei unbeschädigt geblieben sind?
Ein Sicherheitsbündnis beruht auf gegenseitigen Abhängigkeiten und Verpflichtungen. Aus einer solchen Allianz kann man nicht ohne Sicherheitsrisiken ausbrechen. Das weiß man auch in Ankara. Andererseits hat die Türkei als Brücke zwischen Europa, dem Nahen Osten und Asien sowie angesichts des Kriegs in Syrien eine große geostrategische Bedeutung. Deshalb ist die Rhetorik des Bündnisses zurückhaltend. Wenn aber Ankara weiterhin Mitgliedstaaten brüskiert, indem etwa deren Bürger ohne rechtsstaatliche Verfahren inhaftiert werden, dann wird mittelfristig auch die Zusammenarbeit in der Allianz Schaden nehmen.
In der Parlamentarischen Versammlung ist der Konflikt mit Ankara bereits deutlich zu spüren, wie der Widerstand der türkischen Delegierten gegen Ihren Bericht über die Entwicklung am Schwarzen Meer zeigt. Was passt den Abgeordneten an Ihrem Bericht nicht?
Mein Bericht äußert sich kritisch über die drastischen Maßnahmen der türkischen Regierung in Reaktion auf den Putschversuch 2016. So wurden Zehntausende Beamte suspendiert, und die Welle der Festnahmen von oppositionellen Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern ebbt nicht ab. Im Grunde geraten alle Kritiker der Regierung ins Visier. Während der Diskussion meines Entwurfs auf unserer Frühjahrstagung in Tiflis wandten die türkischen Abgeordneten ein, ihr Land befinde sich im Kampf gegen den Terror, und im Gefängnis säßen ausschließlich Terroristen. Es existiere eine freie Medienlandschaft, Meinungen könnten frei geäußert werden. Aus Sicht der türkischen Delegierten hat unsere Versammlung nicht das Recht, die Lage in ihrem Staat zu kommentieren.
Wie stehen Sie zur Kritik aus Ankara? Dürfen die Nato-Parlamentarier die erheblichen Verletzungen von rechtsstaatlichen Grundsätzen und von Freiheitsrechten wie der Pressefreiheit verurteilen? Oder ist das eine innere Angelegenheit der Türkei, aus der sich Ihre Versammlung herauszuhalten hat?
Eine demokratische Regierung muss diese Kritik aushalten. Wir sind frei gewählte Abgeordnete, die den Auftrag haben, Missstände zu benennen und von Regierungen zu verlangen, Verstöße gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abzustellen. Basis der Nato ist eine Werteordnung, die auf diesen Prinzipien beruht. Staatschef Tayyip Erdoğan verletzt diesen Grundsatz massiv.
Rechnen Sie in Bukarest mit einer Mehrheit für Ihren Bericht? Findet Ankara Unterstützung in den Reihen der Nato-Parlamentarier?
Mein Entwurf erhielt im Frühjahr in Tiflis viel Zuspruch. Das Vorgehen der türkischen Regierung ist von einer ganz großen Mehrheit der Versammlung heftig kritisiert worden. Dennoch habe ich einige Änderungswünsche der Kollegen aus Ankara in meine Vorlage integriert, etwa die Angaben über die Zahl der Opfer des Putschversuchs. Schließlich gehört zu einem konstruktiven Dialog auch die Suche nach Kompromissen. Sollte in Bukarest die türkische Delegation trotzdem gegen die Mehrheit stimmen und meinen Bericht ablehnen, dann wäre dies ihr gutes Recht und ein normaler demokratischer Vorgang.
Könnte der jüngst von Erdoğan verkündete Beschluss über den Kauf eines russischen Raketenabwehrsystems ein Abdriften der Türkei aus der Allianz signalisieren?
Natürlich wird die Anschaffung einer russischen Raketenabwehr, die mit den Nato-Systemen nicht kompatibel ist, in der Allianz mit Sorge beobachtet. Es handelt sich um eine ernst zu nehmende Facette des Säbelrasselns von Erdoğan. Wir müssen aufmerksam beobachten, ob der Staatschef diesen Weg der Konfrontation weiter geht oder ob er sich der Vorteile besinnt, welche das Sicherheitsbündnis für die Türkei hat.
Was erhoffen Sie sich vom Auftritt des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg vor der Versammlung im Blick auf die Türkei?
Der Generalsekretär soll die Allianz zusammenhalten und Konflikte zwischen Mitgliedsländern eindämmen. Stoltenberg hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass Bundestagsabgeordnete die im türkischen Konya stationierten deutschen Soldaten besuchen konnten. Er wird auch in Bukarest an Ankara appellieren, die gemeinsame Wertebasis zu wahren. Mehr steht nicht in der Macht des Generalsekretärs.
(kos/02.10.2017)