Bundestagspräsident Norbert Lammert hält Plädoyer für die Demokratie
Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert hat sich am Dienstag, 5. September 2017, in seiner Abschiedsrede vor dem Parlament mit einem Plädoyer für die Demokratie an die Wähler und Abgeordneten gewandt. Die Mitglieder des nächsten und künftiger Bundestage forderte er dazu auf, „nach den Abstürzen unserer Geschichte die mühsam erarbeitete Errungenschaft zu bewahren, über den Wettbewerb der Parteien und Fraktionen hinaus den Konsens der Demokraten gegen Fanatiker und gegen Fundamentalisten für noch wichtiger zu halten und geltend zu machen, wann immer große Herausforderungen dies erfordern“. Es müsse auch in Zukunft möglich sein, bei ganz großen Problemen und Streitfragen, die polarisieren und das Land zu spalten drohten, Mehrheiten im Parlament zu suchen und zu finden, die größer oder anders sind als die der jeweiligen Koalition.
Demokratie steht und fällt mit dem Engagement
Die Wählerinnen und Wähler ermunterte Lammert, das Königsrecht aller Demokraten, in regelmäßigen Abständen selber entscheiden zu können, von wem sie regiert werden wollen, so ernst wie es ist zu nehmen. „Diese für uns heute scheinbare Selbstverständlichkeit ist weder der Normalzustand der deutschen Geschichte noch die Regel für die ganz große Mehrheit der heute lebenden Menschen auf dieser Welt. Viele Millionen Menschen beneiden uns um die Einflussmöglichkeiten, die wir haben und die ihnen verweigert werden.“
Autoritäre Regime würden kein bürgerschaftliches Engagement brauchen: sie würden es nicht mögen, es behindern und verbieten. Die Demokratie brauche es: sie erodiere, sie blute aus, wenn sie die Unterstützung der Menschen verliere, für die es sie gebe. „Die Demokratie steht und fällt mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger.“ Dies sei die wichtigste politische Lektion, die der Bundestagspräsident aus der Geschichte gelernt habe. Und dieser Einsicht und dieser Verantwortung werde er verpflichtet bleiben.
Überwindung der Teilung Deutschlands
Lammert hob hervor, dass dies die letzte Plenarsitzung des Bundestages in der 18. Wahlperiode sei. Für viele Parlamentarier – auch für den Bundestagspräsidenten – zugleich die letzte als gewählte Abgeordnete im Parlament. „Nicht wenige von uns haben in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag mit der Überwindung der Teilung unseres Landes die größte, spektakulärste und zugleich friedliche Veränderung der jüngeren deutschen Geschichte nicht nur miterlebt, sondern aktiv mitgestaltet.“
Als Lammert 1980 erstmals in den Bundestag gewählt wurde, seien Deutschland und Europa geteilt und in zwei rivalisierenden Militärbündnissen organisiert gewesen, die sich bis an die Zähne bewaffnet an einer durch Mauern und Stacheldrahtzäunen befestigten deutsch-deutschen Grenze gegenüberstanden. „Damals wurde innerhalb und außerhalb des Parlaments leidenschaftlich über den sogenannten Nato-Doppelbeschluss gestritten, den die einen für den Anfang vom Ende der westlichen Zivilisation hielten und bekämpften und die anderen für die Voraussetzung der territorialen Integrität der westlichen Staatengemeinschaft.“
Bau und Fall als Symbol politischer Kräfteverhältnisse
„Unter den Bedingungen des kalten Krieges und, wie fast alle glaubten, unverrückbarer Verhältnisse haben wir in den achtziger Jahren im Bundestag damit begonnen, dem zunächst in einer ehemaligen Pädagogischen Akademie in Bonn provisorisch untergebrachten Parlament angemessene Arbeitsbedingungen zu verschaffen und schließlich den Bau eines neuen Plenarsaales beschlossen, der - als er fertig war - gar nicht mehr gebraucht wurde.“
Denn inzwischen war die Mauer in Berlin gefallen und damit zugleich die Verhältnisse, die scheinbar ein für allemal in Beton gegossen waren. „Wenn wir in diesem Jahr am 9. November an den Fall der Mauer 1989 erinnern, dann ist seitdem zum ersten Mal so viel Zeit vergangen wie sie gestanden hat: 28 Jahre.“ Der Bau wie der Fall seien Symbol der politischen Kräfteverhältnisse in Europa und ihrer Veränderungen gewesen.
Bundestag ist ein einflussreiches Parlament
Der Bundestag habe sich in dieser Zeit, vor und nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit und dem Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin, auch immer wieder verändert, neu zusammengesetzt, aber im Wesentlichen arbeite er in Berlin genauso, wie es in Bonn eingeübt worden war. Vieles habe sich bewährt und sei geblieben.
Der Deutsche Bundestag sei im Vergleich zu anderen Parlamenten innerhalb und außerhalb der EU – in seinen verfassungsmäßigen Aufgaben, seiner Zusammensetzung und seiner Ausstattung – stärker und einflussreicher als die meisten Parlamente auf diesem Globus.
Kritik des Präsidenten an der Praxis
Aber der Bundestag sei nicht immer so gut wie er sein könnte und auch sein sollte, kritisierte Lammert. Dass Parlamente Regierungen nicht nur bestellen, sondern auch kontrollieren, sei im Allgemeinen unbestritten; im konkreten parlamentarischen Alltag sei der Eifer bei der zweiten Aufgabe nicht immer so ausgeprägt wie bei der ersten.
Lammert: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ... sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ So stehe es im Grundgesetz-Artikel 38. Und genau so sei es auch gemeint. Auch die Regierungsbefragung noch immer zu den Themen stattfinde, die die Regierung vorgebe, sei unter den Mindestansprüchen, die ein selbstbewusstes Parlament für sich gelten lassen müsse. „Wir haben zweifellos herausragende Debatten erlebt, aber in der Regel wird in den Plenarsitzungen noch immer zu viel geredet und zu wenig debattiert.“ Es seien jede Legislaturperiode einige Hundert Gesetzentwürfe; eher zu viele als zu wenig, beraten worden. Offensichtlich Dringliches werde vertagt, weniger Wichtiges hingegen für dringlich erklärt.
Auch einen allzu großzügigen Umgang mit der Verfassung sowie häufige und immer umfangreichere, meist komplizierte Änderungen monierte Lammert. „Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht. Und verlässlich kann und muss es schlagen, in dem gemeinsamen, aber nicht immer präsenten Bewusstsein, dass eine vitale Demokratie nicht daran zu erkennen ist, dass am Ende die Mehrheit sich durchsetzt, sondern dass auf dem Weg zur Entscheidung Minderheiten ihre Rechte bekommen.“
Lammert betrachtet Amt als Privileg seiner Biografie
Dankbar äußerte sich Lammert, dass er dreimal für insgesamt zwölf Jahre in das Amt des Bundestagspräsidenten gewählt wurde. „Ich habe es gerne, nach bestehen Kräften und manchmal auch mit einem gewissen Vergnügen ausgeübt.“
Er habe es als Privileg seiner Biografie empfunden, neben dem Glück, in einem freien Land zu leben, „meinem Land an dieser prominenten Stelle dienen zu dürfen“. Eine schönere, anspruchsvollere Aufgabe habe es für ihn nicht geben können. (eis/05.09.2017)