Bei Experten stößt das geplante Kinder- und Jugendstärkungsgesetz überwiegend auf Kritik. Dies wurde in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unter Leitung von Cornelia Möhring (Die Linke) am Montag, 19. Juni 2017, über den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf (18/12330, 18/12730) und einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Stark ins eigene Leben – Wirksame Hilfen für junge Menschen“ (18/12374) deutlich.
Experten setzen auf nächste Legislaturperiode
Nach Ansicht des Soziologen Dr. Wolfgang Hammer entspricht der Gesetzentwurf nicht dem Forschungsstand und dem Erfahrungswissen über Stärken und Fehlentwicklungen. So finde beispielsweise der 15. Kinder- und Jugendbericht nahezu keine Berücksichtigung. Hammer forderte, das Gesetzgebungsverfahren zu stoppen und in der kommenden Legislaturperiode eine Enquete-Kommission für eine breit angelegte Reform der Kinder- und Jugendhilfe.
So weit wollte Prof. Dr. Jörg M. Fegert von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zwar nicht gehen. Die konkreten Verbesserungen im Gesetzentwurf vor allem für Pflegekinder sollten umgesetzt werden. Allerdings kritisierte er, dass mit dem Gesetzgebungsverfahren die ursprüngliche anvisierte „Große Lösung“ bei der Reform des Achten Sozialgesetzbuches aus Anlass der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und der UN-Behindertenrechtskonvention nicht realisiert werde. In der kommenden Legislaturperiode müsse sich der Gesetzgeber dieses Problems erneut annehmen.
Stärkung der Kinder und ihrer Herkunftsfamilien
Die Familientherapeutin Dr. Marie-Luise Conen hingegen monierte die Regelungen des Gesetzentwurfs zu Pflegekindern. Er komme erneut nicht der Forderung von Experten nach, Kinder und ihre Herkunftsfamilien zu stärken. Es fehle eine verbindliche Regelung, die eine gezielte Rückführung von Kindern aus Pflegefamilien in ihre Herkunftsfamilien ermögliche. Der Gesetzentwurf schwäche die Stellung der leiblichen Eltern in einem hohen Maß und ignoriere die Bindungen der Kinder zu ihnen. Deutschland sei mit einer Rückführungsquote von fünf Prozent ein Schlusslicht im internationalen Vergleich.
Auch der Sozialpädagoge Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner von der Freien Universität Berlin mahnte an, dass der Staat zunächst die Verpflichtung habe, die strukturellen Rahmenbedingungen für die Herkunftsfamilien zu verbessern. Stattdessen verlagere sich der Schutz von Kindern zunehmend in Richtung sozialer Kontrolle.
Bürokratie in der Kinder- und Jugendarbeit
Positiv bewertet wurde von den Sachverständigen die Einrichtung von Ombudsstellen in der Kinder- und Jugendhilfe. Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Ludwig Salgo von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main plädierte allerdings dafür, aus der Kann-Bestimmung im Gesetzentwurf eine Soll-Bestimmung zu machen. Alles andere wäre „kleinlich“. Unabhängige Ombudsstellen hätten sich bewährt und seien anerkannt.
Der Rechtsanwalt Thomas Mörsberger bemängelte prinzipiell eine ausufernde Bürokratie in der Kinder- und Jugendarbeit und bei der Arbeit mit Familien. Dies monierten auch Lisi Maier vom Deutschen Bundesjugendring und Stefan Funck vom Landesjugendamt des Saarlandes am Beispiel der ehrenamtlichen Jugendarbeit. So erschwere die geplante Ausweitung der Meldepflichten für erlaubnispflichtige Einrichtungen auch auf nicht erlaubnispflichtige Einrichtungen die ehrenamtliche Arbeit unnötig und stehe in keinem Verhältnis zum Regelungsbedarf.
Ablehnung der geplanten Öffnungsklausel
Auf Ablehnung stieß die geplante Öffnungsklausel für die Bundesländer bei vorläufigen Leistungen an unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Nach dieser Regelung könnte die Kostenerstattung der Länder an die Kommunen vom Abschluss eines Rahmenvertrages abhängig gemacht werden, monierten Ulrike Schwarz vom Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und Sonja Schmidt von der Diakonie Deutschland. Diese Regelung sei diskriminierend und führe zu einer Zwei-Klassen-Jugendhilfe, sagte Schwarz.
Nach Ansicht der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände kommt auf die Kommunen als Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe eine massive Ausgabenerhöhung durch das Gesetzesvorhaben zu. Die Kosten seien im Entwurf nicht korrekt benannt. „Wir erwarten volle Kostentransparenz und einen vollständigen Ausgleich der finanziellen Mehrbelastungen für die Kommunen“, sagte Stefan Hahn vom Deutschen Städtetag.
Gesetzentwurf der Bundesregierung
Mit dem Gesetz soll laut Regierung die Wirksamkeit von Instrumenten und Maßnahmen im Kinderschutz verbessert werden. Kinder und Jugendliche in Einrichtungen sollen durch eine wirkungsvollere Heimaufsicht besser geschützt, Schutzlücken in Jugendclubs und Jugendfreizeitheimen geschlossen werden.
Der Umgang mit Führungszeugnissen im Ehrenamt soll praxistauglicher und die Kooperation der Kinder- und Jugendhilfe mit dem Gesundheitswesen, den Strafverfolgungsbehörden, den Familiengerichten und der Jugendstrafjustiz verbessert werden.
Inklusion als Leitprinzip der Kinder- und Jugendhilfe
Wie die Bundesregierung weiter schreibt, soll mit der Reform die Inklusion und die gleichberechtigte Teilhabe von allen Kindern und Jugendlichen zukünftig als Leitprinzip der Kinder- und Jugendhilfe verankert werden. Vorgesehen ist, die inklusive Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung in Kitas weiterzuentwickeln. Neu eingeführt werden soll eine Regelung zur Zusammenarbeit der Sozialleistungsträger beim Zuständigkeitsübergang.
Der Gesetzentwurf sieht weiterhin vor, die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Dazu gehört laut Bundesregierung insbesondere die Erweiterung des eigenen Beratungsanspruchs für Kinder und Jugendliche sowie die Verankerung von Ombudsstellen als externe und unabhängige Anlaufstellen.
Antrag der Grünen
Unter anderem sollten junge Erwachsene unter 25 Jahren in der Grundsicherung nicht schlechter gestellt werden als Erwachsene. Auch müsse die Regierung sicherstellen, dass die verschärften Sanktionen für unter 25-Jährige abgeschafft und die Kosten der Unterkunft von Sanktionen ausgenommen werden.
Zudem sollten mit Hilfe eines Bundesprogramms bundesweit Vorhaben zur Schaffung von bedarfsgerechten unabhängigen Ombudschaften in der Kinder- und Jugendhilfe gefördert werden. Ebenso wollen die Grünen, dass ein Beschwerdemanagementsystem bei den Trägern und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt wird. (aw/19.06.2017)
Liste der geladenen Sachverständigen
- Dr. Marie-Luise Conen, Berlin
- Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Universitätsklinikum Ulm
- Stefan Funck, Landesjugendamt Saarland, Saarbrücken
- Dr. Wolfgang Hammer, Norderstedt
- Lisi Maier, Deutscher Bundesjugendring, Berlin
- Thomas Mörsberger, Lüneburg
- Prof. Dr. Ludwig Salgo, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main
- Sonja Schmidt, Diakonie Deutschland, Berlin
- Ulrike Schwarz, Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge e.V., Berlin
- Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner, Freie Universität Berlin
- Prof. Dr. Holger Ziegler, Universität Bielefeld
- Stefan Hahn, Vertreter der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände, Berlin