Parlamentarier wollen in allen Facetten mehr Nähe zu Tschechien schaffen
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit und Fahrten von einem Land ins andere gehören für die Mitglieder der Deutsch-Tschechischen Parlamentariergruppe zum beruflichen wie privaten Alltag, sind gelebte Realität. Die meisten der etwa 40 Bundestagsabgeordneten, die in der Gruppe mitmachen, haben ihren Wahlkreis und Wohnsitz in einer der grenznahen Regionen in Bayern oder Sachsen.
„Ein faszinierendes Land“
„Durch die Nähe zum Nachbarland und den ständigen grenzüberschreitenden Austausch ist das Interesse der Menschen im Wahlkreis an diesem Aspekt der Parlamentsarbeit hoch“, sagt Petra Ernstberger (SPD), Vorsitzende der Deutsch-Tschechischen Parlamentariergruppe. Sie vertritt den Wahlkreis Hochfranken. Die dortigen Landkreise Wunsiedel und Hof grenzen an die Tschechische Republik.
„In unserer Region haben wir ständig mit unserem Nachbarland zu tun, Tschechien begegnet mir täglich – ein faszinierendes Land, ich mag die Menschen dort“, bringt die Bundestagsabgeordnete ihre Verbundenheit mit dem mitteleuropäischen Nachbarland auf den Punkt, das seit 2004 der EU angehört. Was liegt also näher, als auch einen Teil ihrer Zeit als Abgeordnete der Pflege der deutsch-tschechischen Beziehungen zu widmen? In den Beziehungen zu den Nachbarländern spielt neben den nationalen, zwischenstaatlichen Beziehungen der regionale Austausch eine wichtige Rolle.
Motor für die Entwicklung strukturschwacher Grenzräume
Ernstberger nennt es eine Erfolgsgeschichte, wie die Landkreise in Randlage beiderseits der Grenze seit der Gründung einer gemeinsamen „Euro-Region“ zusammenwachsen. Einst miteinander verbundene Räume fänden so wieder zueinander.
Der wirtschaftliche Austausch mit der tschechischen Seite sei zudem ein wesentlicher Motor für die Entwicklung der strukturschwachen Regionen Nordbayerns, wirbt die Politikerin für eine weitere Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. „Wirtschaftliche Entwicklung gelingt nur, wenn wir unsere Räume beiderseits der Grenze als gemeinsame Region entwickeln.“
„Euregio Egrensis“
Die Europaregion „Euregio Egrensis“, an der auf deutscher Seite Bayern, Sachsen und Thüringen und auf tschechischer Seite Böhmen beteiligt sind, wird von der Europäischen Union aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung gefördert.
Die Programme zielen auf nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum, den Ausbau grenzüberschreitender Infrastrukturen, Begegnungen zwischen den Bürgern, Förderung des Tourismus und Sprachförderung. Vorbild sind die seit den 1960er-Jahren entstandenen „Euregionen“ im Westen zwischen Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Frankreich. Etwa 160 Grenzregionen innerhalb der EU haben sich bis heute als „Euregios“ organisiert.
Partner in der EU
Über die regionale Kooperation hinaus sei Tschechien ein wichtiger politischer Partner Deutschlands in Europa, mit dem man sich in zahlreichen bilateralen und EU-Fragen austausche, von der Energiewende bis zur Flüchtlingsfrage, sagt Ernstberger. Die vielen Gemeinsamkeiten, die Deutschland und Tschechien teilten, erleichterten dabei die Zusammenarbeit. Von der kulturellen Nähe bis zur wirtschaftlichen Verflechtung werde so ein jahrhundertelanger Austausch fortgeschrieben.
Und mit Blick auf den Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern fügt Ernstberger hinzu: „Ich habe den Eindruck, dass die Tschechen hinter ihren demokratischen Strukturen stehen, das macht den politischen Austausch berechenbar.“
Wechselseitiges Interesse
Das Interesse an umfassenden Beziehungen sei auf beiden Seiten hoch. Für Tschechien ist Deutschland der wichtigste Wirtschaftspartner.
Vor allem in den Bereichen Energieversorgung, Umwelt- und Klimaschutz wollten die Tschechen mit Deutschland zusammenarbeiten, und auch bei der Entwicklung von Infrastrukturen, in der Verkehrsplanung, beim Ausbau der sogenannten Transeuropäischen Netze, möchte man sich abstimmen. Aber auch die Elbvertiefung in Hamburg sei für Tschechien von Bedeutung, verfüge das Binnenland doch damit über eine Verbindung zu einem der größten Seehäfen. Und schließlich suche Prag deutschen Rat, um das in Deutschland so erfolgreiche duale Ausbildungssystem zu übernehmen.
Ernstberger erklärt, wie wichtig es für die Tschechen ist, Deutschland als verlässlichen Partner an ihrer Seite zu sehen. Trotz der unterschiedlichen Größenverhältnisse beider Länder achte man in Berlin darauf, die Beziehung als Partnerschaft auf Augenhöhe zu gestalten.
Geschichte kein Hindernis für Zusammenarbeit
Man könnte meinen, die belastenden Kapitel der jüngeren Geschichte – Krieg, Vertreibung – spielten überhaupt keine Rolle mehr – „Sie stellen kein Hindernis dar für die politische Zusammenarbeit“, sagt Ernstberger. „Wir können uns ganz den aktuellen und praktischen Themen zuwenden.“
Die Tschechen hätten sich mittlerweile umfassend mit ihrer und unserer gemeinsamen Vergangenheit auseinandergesetzt. „Die – auch selbstkritische – Aufarbeitung ist mittlerweile weit fortgeschritten.“ Man habe gesehen: Die Deutschen kommen nicht in der Absicht, den Tschechen ihr Land wegzunehmen, sie kaufen nicht alles auf. Auch die Politik der Vertriebenenverbände habe sich gemäßigt.
In der Flüchtlingsfrage noch nicht einig
Nationalistische, gar antideutsche Rhetorik bekomme man lediglich in Zeiten des Wahlkampfs aus innenpolitischen Erwägungen zu hören, so die Tschechien-Kennerin. Es könne durchaus sein, dass das auch in diesem Jahr wieder zu erleben sei, wählen doch die Tschechen im Herbst ein neues Parlament.
Der guten Zusammenarbeit tue dies jedoch keinen Abbruch, von der regionalen bis zur Regierungsebene. Diese Zusammenarbeit umfasse natürlich auch kontroverse Themen und halte unterschiedliche Auffassungen und Kritik mittlerweile aus. So sei man sich in der Flüchtlingsfrage noch keinesfalls einig – aber: „Wir versuchen gerade, den gordischen Knoten zu durchschlagen.“
„Beziehungen pflegen und Impulse setzen“
Als Deutsch-Tschechische Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages arbeite man mit an der Verständigung sowohl über historische Themen, aber vor allem über aktuelle Fragen. Die Beziehungen zwischen Berlin und Prag zu pflegen und zu vertiefen, Impulse zu setzen, Anlaufstelle zu sein für Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Medien in beiden Ländern – dieser Aufgabe fühlen sich die etwa 40 Abgeordneten der Gruppe verpflichtet. „Wir wollen mehr Nähe in allen Facetten schaffen“, beschreibt Ernstberger das Selbstverständnis der Gruppe.
Dazu kommen die Bundestagsabgeordneten mit ihren Kolleginnen und Kollegen des tschechischen Parlaments und anderen Vertretern des Landes zusammen, halten Kontakt zur deutsch-tschechischen Community und besuchen Veranstaltungen, um über die aktuellen Entwicklungen des Nachbarlandes auf dem Laufenden zu bleiben.
Parlamentarische Außenpolitik
Nach der Konstituierung der Gruppe zu Anfang jeder Legislaturperiode legen sie ihre Arbeitsschwerpunkte für die kommenden vier Jahre fest, regelmäßige Mitgliederversammlungen tragen aktuellen Entwicklungen Rechnung und dienen der Abstimmung über das weitere Vorgehen. Einmal pro Wahlperiode lädt die Parlamentariergruppe eine Abgeordnetendelegation des Partnerparlaments nach Deutschland ein und unternimmt selbst eine Delegationsreise.
Zwar sind die Parlamentariergruppen keine Gremien, die Entscheidungen treffen, sie verfügen jedoch über einigen informellen Einfluss. Die Gesprächsergebnisse der Abgeordneten fließen in die parlamentarische Arbeit ein und ebnen häufig den Weg für Regierungshandeln. „Egal was für ein tschechischer Besuch nach Berlin kommt, unsere Gruppe wird stets einbezogen“, unterstreicht die Vorsitzende die Bedeutung, die den Abgeordneten in den bilateralen Beziehungen zukommt.
Breites bilaterales Netzwerk
Grundlage der erfolgreichen Zusammenarbeit seien die über viele Jahre gepflegten persönlichen Kontakte. So hat Ernstberger in den fast 20 Jahren, die sie der Parlamentariergruppe angehört, ein breites Netzwerk an Kontakten zum Nachbarland sowie innerhalb der deutsch-tschechischen Community aufgebaut, ist eine gefragte Ansprechpartnerin. Bereits 1998 hat sie als Vorsitzende den Staffelstab von Günter Verheugen übernommen, dem späteren EU-Kommissar für Erweiterung.
„Die Einrichtung der Parlamentariergruppen ist eine tolle Sache“, sagt die seit vielen Jahren in den deutsch-tschechischen Beziehungen engagierte Politikerin, die auch Vorsitzende des Verwaltungsrates des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds ist. Mit einem Jahresetat von drei Millionen Euro finanziert dieser seit fast 20 Jahren bilaterale Projekte, die die Begegnung und die Verständigung zwischen Deutschen und Tschechen fördern. Fast 30.000 bilaterale Einzelvorhaben wurden bislang gefördert, die mindestens ebenso viele Menschen aus beiden Ländern erreicht haben.
Besuch im Nachbarland
Protokollarischer Höhepunkt der jüngsten Delegationsreise der Deutsch-tschechischen Parlamentariergruppe vom 29. Januar bis 1. Februar 2017 nach Tschechien war der Festakt anlässlich des 20. Jahrestages der Unterzeichnung der Deutsch-Tschechischen Erklärung, den beide Länder am 30. Januar in Prag begingen.
Zu den wichtigsten Gesprächsthemen der deutschen Abgeordneten in Tschechien gehörten die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder im Zeichen der „Industrie 4.0“, also der digitalen Vernetzung traditioneller Industrien. Außerdem ging es darum, wie die soziale Integration in Europa gestärkt werden kann, und vor allem wie die Arbeits- und Lohnbedingungen angeglichen werden können.
Tschechiens Perspektiven im Hinblick auf die Eurozone
Dazu trafen die deutschen Abgeordneten mit ihren Kolleginnen und Kollegen der Freundschaftsgruppe im Abgeordnetenhaus des tschechischen Parlaments sowie mit Vertretern des Budgetausschusses, des Auswärtigen und des Europaausschusses zusammen. Dabei ging es unter anderem um die Perspektiven Tschechiens im Hinblick auf einen Beitritt zur Eurozone.
Die Abgeordneten führten außerdem Gespräche im Verkehrsministerium, sowie mit Unternehmern und Gewerkschaftsvertretern bei der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer und bei der tschechisch-mährischen Konföderation der Gewerkschaftsverbände.
Besuch im Prager Literaturhaus
Abgerundet wurde die Reise mit einem Besuch im Prager Literaturhaus, einem Treffpunkt für Freunde zeitgenössischer, deutschsprachiger Literatur. Das Haus will die Erinnerung an deutschsprachige Autoren auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik wachhalten und setzt sich für das harmonische Miteinander nationaler Kulturen in Europa ein.
Die Besucher aus dem Bundestag kamen dort mit deutschsprachigen Autoren zusammen – und nahmen einen Arbeitsauftrag mit nach Hause, der den Anspruch der Parlamentariergruppe unterstreicht, auch auf kulturellem Gebiet Vermittler zwischen beiden Ländern zu sein: Die Tschechen ersuchten die deutsche Seite, dem Prager Literaturhaus dabei behilflich zu sein, Kontakt herzustellen zu entsprechenden Literaturhäusern in der Bundesrepublik. (ll/03.04.2017)