Besuch

Joseph Kosuth

„Was ist das Leben?“

Der Längsstreckung der Halle des Paul-Löbe-Hauses folgt am Boden eine Installation des amerikanischen Künstlers Joseph Kosuth: Wie kostbare Intarsien sind Metallbuchstaben in die Steinplatten eingelassen und formen zwei Sätze, die zu Reflexionen über den Charakter des Lebens zwischen Geist und Materie sowie über seinen Sinn anregen. Auf der einen Seite ist ein Zitat von Thomas Mann aus dem „Zauberberg“ zu lesen („Was also war das Leben? ...“), zur anderen Seite hin eines von Ricarda Huch aus den „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“ („Denn was ist das Leben des Menschen? ...“). Durch die fast atemlose Aneinanderreihung der Worte wird der Leser beim Überschreiten oder Überschauen der Lettern vom Sog der Halle erfasst: Dabei wird für ihn ein Wesenszug des Lebens als eines beständigen Fließens fast körperlich erfahrbar. (akae)

Joseph Kosuth

geboren 1945

 

Text der eingelassenen Metalllettern

Das Bild zeigt den Hallenboden des Paul-Löbe-Hauses mit den eingelassenen Metalllettern von Joseph Kosuth. Die beiden dort zu lesenden Sätze lauten:

 

Was war also das Leben? Es war Wärme, das Wärmeprodukt formerhaltender Bestandlosigkeit, ein Fieber der Materie, von welchem der Prozess unaufhörlicher Zersetzung und Wiederherstellung unhaltbar verwickelt, unhaltbar kunstreich aufgebauter Eiweißmolekel begleitet war. Es war das Sein des eigentlich Nicht-sein-Könnenden, des nur in diesem verschränkten und fiebrigen Prozess von Zerfall und Erneuerung mit süß-schmerzlich-genauer Not auf dem Punkt des Seins Balancierenden. Es war nicht materiell, und es war nicht Geist. Es war etwas zwischen beidem - T.M.

Thomas Mann, „Der Zauberberg“, Roman (1924)

 

Denn was ist das Leben des Menschen? Wie Regentropfen, die vom Himmel auf die Erde fallen, durchmessen wir unsere Spanne Zeit, vom Winde des Schicksals hin und her getrieben. Der Wind und das Schicksal haben ihre unabänderlichen Gesetze, nach denen sie sich bewegen; aber was weiß der Tropfen davon, den sie vor sich her fegen? Er rauscht mit den anderen durch die Lüfte, bis er im Sande versickern kann. Aber der Himmel sammelt sie alle wieder an sich und gießt sie wieder aus, und sammelt und vergießt wieder und wieder immer dieselben und doch andere. R.H.

Ricarda Huch, „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“, Roman (1893)