Besuch

Lenin (Russische Botschaft)

`Darunter ist eine Leninbüste, so ein Meter fünfzig groß, aus Bronze. Der guckt teilnahmslos auf die Straße. Nichts Heroisches in seinem Blick, ein ganz normales Bildnis. Keine Hände. Eine Andeutung von Hemd und Jackett. Es ist lange her, dass ich ihn gesehen habe. Die Kiste ist kurz nach der ,,Wende„ drübergekommen.'

`Ich erinnere mich nicht, vielleicht war da am Anfang noch ein Stalin, der dann durch einen Lenin ersetzt wurde. Der ist genauso groß wie die Kiste. An die Geste, an die Gliedmaßen kann ich mich nicht mehr erinnern, nur an den Kopf mit dem spitzen Bart. Sein Gesichtsausdruck, der war so ausdruckslos und kalt wie alle diese Gesichter von diesen Monumentaldenkmälern. Es stellt keinen Menschen dar, sondern einen Typus, standardisiert bis ins letzte, ohne individuelle Züge. Es ist sowieso schwer, sich Lenin als Menschen vorzustellen.'

`Ein majestätischer Blick, aber nicht zu majestätisch. Ein ruhiger, erhabener Blick. Allwissend. Der bleibt da. Ich sehe eine Kiste, ich weiß aber, was drunter ist, ich kann mir auch vorstellen, wie er aussieht. Wie auf alten Fotos, irgendwie sehr ernst und weise.'

`Er wirkt wie ein Monster. Wie bestimmte Figuren in Horrorfilmen mit quadratischem Kopf, die sich durch die Stadt bewegen, oder wie konstruktivistische Büsten von Mussolini. Man kann durchaus noch so einen blockhaften Kopf auf dem Halsansatz sehen. Du konntest nicht erkennen, ob es nun ein edles Material wie Marmor ist oder nur verwaschener Putz. Im Winter war er abgedeckt, damit er nicht zerstört wurde, und auch um das politisch zu entschärfen. Ich frage mich, ob es unter der Kiste leer ist, oder ob die noch etwas versteckt.'

`Lenin ist drunter. Man konnte ihn nur durch das Gitter der Sowjetischen Botschaft sehen, ohne jemals herankommen zu können. Aus Bronze. Er schaute nach Norden. Er steht auf einem weißen Sockel. Nur Kopf und Schultern. Er guckte geradeaus mit dem nachdenklichen Gesichtsausdruck, wie man ihn kennt. Ernst und erhaben. Jenseits von Gut und Böse. Man sollte ihn nicht vergessen.'

`Das war nur eine Leninbüste, die ist jetzt wintermäßig verpackt. Er ist — wie alle Lenins — standardisiert. Diesen Auftrag hat der Künstler erfüllt, ohne persönlichen Ausdruck, wie aus der Fabrik. Auch unter der Kiste, da bin ich sicher, wird der sich nicht lockern. Der Gesichtsausdruck von Lenin müsste sich verändert haben, wenn er mitbekommen hat, was jetzt passiert.'

`Er trägt eine Kapuze, er wirkt verlegen. Auf jeden Fall sieht er etwas bedeppert aus. Da war eine Andeutung von Kleidungsstück, ein etwas lächerlicher naturalistischer Anklang. Aus Sandstein, ein helles Grau, Lenin ist ungefähr lebensgroß. Bei dem großen Lenin hätte ich wahrscheinlich selbst mitgeholfen, dass er wegkommt. Er war so typisch diktatorisch, protzig. Aber der hier hat ja fast privaten Charakter. Er fehlt mir nicht, aber ich fände es schöner, wenn er dort stehen würde. Sogar jetzt noch drehe ich immer meinen Kopf, wenn ich an dieser Fassade vorbeikomme, um zu sehen, ob er zurückgekommen ist. Er gehört zur Russischen Botschaft. Aufgestellt worden ist er bei der Einweihung des Gebäudes, Anfang der 50er Jahre, er ist der einzige Berlin-Lenin, der noch existiert. Er genießt diplomatische Immunität, kann man sagen. Aber eines Tages werden wir die Kiste wegnehmen, und er wird verschwunden sein.'

`Der guckte geradeaus, auf die Straße. Ich weiß nicht mehr, ob er aus Bronze oder aus Stein gehauen war. Ein ziemlich langweiliges Ding. Ich bin sicher, er ist noch hier, unter der Kiste. Vielleicht wollte Jelzin den Lenin nicht mehr sehen, also haben sie schnell die Kiste drüber gemacht, bevor er kam. Manchmal haben sie ihn ordentlich sauber gemacht. Dann kam die Kiste wieder drauf. Etwas ist da und ist zur gleichen Zeit nicht mehr da. Es gehört zur diplomatischen Mentalität, dass man immer den Schein wahren möchte.‘