Rede von Kristina Volke, Kuratorin der Ausstellung, zur Ausstellungseröffnung „Innere Sicherheit. Eine Intervention“
In diesem Jahr wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Der Kunstbeirat des Deutschen Bundestages hat die Künstlerin Henrike Naumann eingeladen, im Mauer-Mahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus eine Ausstellung zu realisieren, deren gedanklicher Ausgangspunkt das Grundgesetz in seiner ersten Fassung aus dem Jahr 1949 ist – nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der DDR, die fast zeitgleich eine Verfassung verabschiedete.
Henrike Naumann entschied sich dazu, entlang der ehemaligen Hinterlandmauer zwei Arbeiten miteinander in Beziehung zu setzen: Die Installation „Das Reich“ entstand im Jahr 2017 und wurde zuerst im Bankettsaal des Kronprinzenpalais Unter den Linden gezeigt, wo am 31. August 1990 der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterzeichnet wurde. Henrike Naumann inszenierte schon damals mit Möbeln der neunziger Jahre eine Art Szenenbild, das die Grundzüge von Stonehenge nachbildet: jenem aus Megalithen gebildeten Kultort aus der Jungsteinzeit im Süden Englands, das wegen seiner weitgehend ungeklärten Entstehungs- und Nutzungsgeschichte zum Kultort für Esoteriker, insbesondere der sogenannten Neu-Druiden gilt, die hier Höheres, im Laufe der Menschheitsgeschichte verloren gegangenes Wissen über die „wahren“ Zusammenhänge zwischen Kosmos und Erde wähnen und sich nicht nur eigenen Spekulationen hingeben, sondern ganz neue Welterklärungsmodelle erfinden – und für gültig erklären.
Bei Henrike Naumann wird Stonehenge aus Second-hand-Möbeln nachgebaut – Möbeln, die vor nicht allzu langer Zeit in Wohnzimmern standen und dort Modernität, Fortschritt, Gemütlichkeit und – aus ostdeutscher Perspektive – auch ein Ankommen im wohlständigen Alltag des „Westens“ symbolisierten. Die vielen Fächer füllt sie mit rituellen Gegenständen, die schnell auf eine besondere Art der alternativen Welt- und Geschichtserklärung schließen lassen: Mützen und Helme der NVA, eine nachgegossene Ehrenplakette für deutsche Soldaten im ersten Weltkrieg, gestickte Deckchen mit Emblemen, Felle, Nippes in Kampfhundform, Trinkhörner, Heilsteine, Mauerreste, eine schwarze Sonne, Waffen. Auf Fernsehern, die Anfang der Neunziger noch flimmerten, laufen Videos, in denen die Besucher der Ausstellung anderen dabei zuschauen, wie sie Deutschland abschaffen, die Regierung stürzen wollen. Wir befinden uns im Universum der sogenannten Reichsbürger, die nicht nur eine eigene Geschichtskunde betreiben, indem sie die Bundesrepublik und insbesondere den Einigungsvertrag nicht anerkennen und anstelle dessen eine „Exilregierung Deutsches Reich“, eine „Kommissarische Reichsregierung“ oder das „Königreich Deutschland“ gründen, sondern, sich unmittelbar auf das Grundgesetz beziehend, postulieren, eine Minderheit, ein bedrohtes indigenes Volk in einem „besetzten Land“, zu sein, das auf Befreiung wartet oder sich selbst befreien wird und sich dafür bewaffnen, trainieren, rekrutieren.
Die zweite Installation „Tag X“ wurde zuerst 2019 im Haus der Statistik ausgestellt. In ihrem Zentrum steht ein Video, das mit Aufnahmen der Staatssicherheit aus dem Jahr 1989 beginnt und die nicht genehmigten, am Anfang für die Teilnehmenden lebensgefährlichen Demonstrationen gegen die DDR-Regierung zeigt. Aber auch hier arbeitet Henrike Naumann nicht dokumentarisch, sondern verwandelt die Aufnahmen der Ereignisse, die als Friedliche Revolution in die Geschichte eingegangen sind, in einen fiktiven Film über eine neue, andere, rechtsextreme Revolution gegen den Staat.
Eingebettet in ausgediente Möbel einer Ladenausstattung, in der einst Designgegenstände verkauft wurden, entwickelt Henrike Naumann so mediale Tatsachenberichte über sogenannte Prepper-Netzwerke in Deutschland weiter und treibt deren gewaltsame Umsturzfantasien auf eine Spitze, indem sie Insignien des wohlständigen Lebens wie Allessis Zitronenpresse, Tische aus Optikerläden, deren Beine auch als Baseballschläger benutzt werden könnten, zum Material jenes „Tages X“ werden lässt, an dem die öffentliche Ordnung zerstört wird, weil sich im rechtmäßigen Widerstand wähnende Bürgerinnen und Bürger zu den Waffen greifen und als das viel zitierte „Volk“ die Macht ergreifen. Wir alle erinnern uns auf den versuchten Sturm auf das Reichstagsgebäude im Jahr 2020, der für einen schrillen Moment eine Vorstellung davon aufkommen ließ, welche Wut, welche Zerstörungskraft und welche Verachtung jene Reichsbürger dem Parlamentssitz als Zentrum der Demokratie in Deutschland entgegenbringen.
Henrike Naumanns Installationen sind weder Dokumentation, noch künstlerischer Kommentar, vielmehr handelt es sich um ästhetische Bearbeitungen und Zuspitzungen politischer Prozesse und historischer Ereignisse, die zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten werden und die auch zur Situation in Deutschland im Jahr 2024 gehören – den Jubiläen und Feiertagen zum Trotz. Dass dies nun unter dem Titel „Innere Sicherheit. Eine Intervention“ im Parlamentsviertel, zumal im Mauer-Mahnmal gezeigt wird, verleiht den Installationen eine besondere Brisanz und wirft andere, vor allem keine versöhnlichen, sondern alarmierende Fragen auf – die auch eine Gefährdung des Grundgesetzes beinhalten. Sie wird in einem zum Sniper umgebauten Marcel-Breuer-Stuhl, dessen imaginäre Schusswaffe auf das Reichstagsgebäude gerichtet ist, versinnbildlicht.
Alle Installationen, die Henrike Naumann bislang realisiert hat, sind außergewöhnliche Neuerfindungen einer Bildsprache, in denen sich das Publikum in aus Möbeln gebauten, mit Symbolen überhäuften Räumen (wen wundert es, dass sie zunächst Bühnenbild studierte) wiederfindet, und er selbst einen Bezug finden muss. Ihre Bildsprache ist nicht nur wegen ihrer Radikalität in der zeitgenössischen Kunst einmalig, sie ist vor allem eine besondere, eine besonders kraftvolle Stimme aus Ostdeutschland, die sich weder vor Konflikten noch vor ungelösten Problemen scheut, sondern uns zumutet, hinzuschauen, selbst Haltung zu entwickeln. Das ist, was wir mit dem Dialog zwischen Kunst und Politik meinen – jenem Motto, dem sich das Kunstprogramm des Deutschen Bundestages verschrieben hat. (kvo)