Rede von Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt zur Ausstellungseröffnung „Innere Sicherheit. Eine Intervention“
am 12. Juni 2024 im Mauer-Mahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
[Es gilt das gesprochene Wort]
Sehr geehrte Frau Naumann,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste!
Herzlich willkommen zur Eröffnung der Ausstellung von
Henrike Naumann hier im Mauer-Mahnmal des Bundestags.
Ich freue mich, dass Sie alle der Einladung gefolgt sind.
Die Ausstellung findet vor dem Hintergrund des Verfassungsjubiläums statt: Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz. 75 Jahre Grundgesetz, das heißt auch 35 Jahre Friedliche Revolution – ein Grund, stolz zu sein. Denn vor 35 Jahren begann das Neue, das Ganze:
Einigkeit und Recht und Freiheit für alle in unserem Land. Erst seitdem ist es unser aller Grundgesetz.
35 Jahre später werden die Werte unseres Grundgesetzes infrage gestellt. Wenn die Freiheiten des Grundgesetzes nur für ausgewählte Gruppen gelten sollen – und wer nicht ins Schema passt, remigriert werden soll. Wenn Jüdinnen und Juden Angst um Gesundheit und Leben haben müssen. Wenn man Angst haben muss, nicht mehr sagen, denken, glauben zu können, wie man will, wenn man nicht mehr lieben darf, wen man will. Wenn die freie Presse der Lüge bezichtigt wird, um sich stattdessen lieber an „Fakten“ zu halten, die man wirklich nur in Anführungsstrichen so bezeichnen kann. Wenn statt politischem Wettstreit gleich das ganze Parteiensystem und der Rechtsstaat abgeschafft werden sollen.
Ich bin froh, dass die Mehrheit der Menschen diesen Missbrauch nicht hinnimmt. Hunderttausende sind auf die Straße gegangen. Zuletzt am Samstag. Die Menschen haben demonstriert für die vielfältige Demokratie – und für ein vielfältiges Deutschland.
Und zwar in ganz Deutschland, egal ob Ost ob West, ob Nord ob Süd, ob Stadt ob Land. Demonstriert wurde von Jena bis Jever, von Apolda bis Aachen, von Nordhausen bis Nürnberg. Auch in Zwickau, wo Henrike Naumann aufgewachsen ist. Oder in Gotha, wo ich groß geworden bin. Menschen, die bislang noch nie auf einer Demo waren, trafen Menschen, die schon oft demonstriert hatten. Sie alle einte das Gefühl, jetzt aktiv werden zu müssen, um unsere Demokratie zu verteidigen. Um das zu verteidigen, was wir vor 35 Jahren erstritten haben. Was mich besonders gefreut hat: Demonstriert haben die Menschen auch dort, wo sie nicht wissen konnten, wie viele sie sein würden. Wo sie mit Widerspruch rechnen mussten. Es ist viel mutiger, im Zwickau mit zwanzig Leuten anzufangen und darauf zu hoffen, dass es mehr werden als in den großen Städten. Es ist viel mutiger, dort Gesicht zu zeigen, wo man am nächsten Tag auf den Handwerker angewiesen sein könnte, dessen rechter Gesinnung man gerade noch widersprochen hat.
Sehr geehrte Frau Naumann,
Sie haben einmal gesagt: „Möbel sind (…) Träger von Politik im Privaten.“ Ein überraschender Satz. Sie arbeiten in Ihren Installationen mit Möbeln und Designobjekten. Auf den ersten Blick kommen die Möbel unauffällig daher. Aber es zeigt sich, dass auch sie ideologisch aufgeladen sein können. Einen Eindruck davon, was Sie damit meinen, bietet Ihre Diplomarbeit: Sie haben das Jugendzimmer der NSU-Terroristin Beate Zschäpe nachgebaut.
Sehr geehrte Frau Naumann,
Sie kennen diese Zeit aus eigener Erfahrung. Sie waren damals eine Teenagerin in Zwickau. In Ihrer Kunst verarbeiten Sie auch Ihre eigene Jugend. Vor Kurzem haben Sie in den Vereinigten Staaten ausgestellt und sich mit dem sogenannten Sturm auf den Kongress im Januar 2021 beschäftigt. Und auch hier mit der Rolle, die Möbel dabei spielten.
Ich freue mich sehr, dass nun zwei Ihrer Arbeiten hier im Bundestag zu sehen sind. Und danke Ihnen herzlich, dass Sie heute gekommen sind: Die beiden Installationen „Tag X“ und „Das Reich“, die wir nun im Deutschen Bundestag ausstellen, beschäftigen sich mit Rechtsextremen, mit sogenannten Preppern und Reichsbürgern. Diese Gruppierungen schwelgen in mythischen Ideen und Umsturzfantasien. Derzeit steht eine mutmaßliche Reichsbürger-Verschwörung vor Gericht, die sehr konkrete Pläne für den sogenannten Tag X hatte – einschließlich gewaltsamer Aktionen hier im Bundestag.
Sehr geehrte Damen und Herren,
den Ort der Ausstellung hat der Bundestag bewusst gewählt. Wir befinden uns auf dem ehemaligen Mauerstreifen. Die Mauersegmente, die wir hier sehen, sind Originale, die künstlerisch gestaltet wurden. Sie zeigen den tatsächlichen Verlauf der hinteren Sperrmauer. Im Herbst 1989 riefen die Menschen auf den Straßen Ostdeutschlands „Wir sind das Volk!“ Dieses Volk hatte die Macht, eine Diktatur zu stürzen. Und diese Mauer zu Fall zu bringen. Aber das „Volk“ ist ein widersprüchlicher Begriff. In der Diktatur der DDR stand er für den Ruf nach Freiheit. Wird er heute benutzt – ich würde sagen: missbraucht – passiert dies meist anmaßend, ausschließend – völkisch.
Er richtet sich dann gegen die Schwachen und gegen gewählte Volksvertreterinnen und Volksvertreter. Auch wenn Rechtspopulisten anderes behaupten: Sie repräsentieren nicht das Volk. Sie sind auch nicht die Mehrheit. Im Gegenteil, die demokratische Mehrheit ist weit größer. Auch zuletzt bei der Europawahl am Wochenende. Das heißt nicht, dass wir uns beruhigt zurücklehnen sollten. Nein, die Stimmenzuwächse für Verfassungs-, Europa- und Freiheitsfeinde sind besorgniserregend hoch. Das Volk – das sind wir alle. In aller demokratischer Vielfalt. Alle Menschen, die in Deutschland leben. Ostdeutsche wie Westdeutsche. Einheimische ebenso wie Zugewanderte. Die Mehrheit ebenso wie alle Minderheiten. Mit Unterschieden, die uns stärker machen. Ein einheitliches Volk gibt es eben nicht – und das ist auch gut so. Denn nur dann ist es eine Demokratie. Deutschland ist bunt. Es gibt es immer nur in seiner Vielfalt. Einer Vielfalt der Meinungen und der Menschen. Das ist das Deutschland des Grundgesetzes.
Vielen Dank.