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Das Reichstagsgebäude und seine historischen Orte

kyrillische Schriftzeichen im Reichstagsgebäude
Mauer-Mahnmal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
Gedenkkreuze für die Mauertoten am Spreeufer vor dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus
Philipp Scheidemann (SPD) ruft am 9. November 1918, ca. 14 Uhr, von einem Balkon des Reichstagsgebäudes die Republik aus.
Teil des alten Rohrleitungsganges zum Reichstagsgebäude, der bei den Umbauarbeiten gefunden wurde.

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Spuren der Geschichte: kyrillische Schriftzeichen im Reichstagsgebäude (© DBT/Stephan Erfurt)

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Die verdienstvollen Nachforschungen vieler engagierter Personen bilden die Grundlage der im Mauermahnmal aufgeführten Zahlenangaben. (© DBT/Simone M. Neumann)

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Gedenkkreuze für die Mauertoten am Spreeufer vor dem Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (© DBT/Simone M. Neumann)

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Philipp Scheidemann (SPD) ruft am 9. November 1918, ca. 14 Uhr, von einem Balkon des Reichstagsgebäudes die Republik aus. (© picture alliance/akg-images)

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Teil des alten Rohrleitungsganges, der bei den Umbauarbeiten gefunden wurde. (© DBT/Simone M. Neumann)

Das Reichstagsgebäude, ein Ort, an dem Politik gemacht wird, über die später in Geschichtsbüchern nachgelesen werden kann, ist auch ein Ort, an dem die Jahresringe der Geschichte ablesbar sind. Der Verlauf der deutschen Geschichte, außerhalb der Plenardebatten des Parlaments, schlug sich an diesem Handlungsort in besonderer Weise nieder, ist ablesbar geblieben und kann nachvollzogen werden.

Erinnert sei zunächst an die Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann. Der Verlauf des 1. Weltkrieges mit seinen Materialschlachten, die hohe Zahl der Menschenopfer, die katastrophale Ernährungssituation ließen in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung das Vertrauen in die kaiserliche Regierung schwinden, sie verlor die Unterstützung und damit die Legitimität ihres Handelns. Die Situation spitzte sich im November 1918 zu. Aus einer Revolte der Matrosen in Kiel entwickelte sich die Revolution, die ihren wesentlichen Schauplatz in Berlin hatte.

Der Westbalkon

Die Massen bewegten sich am 9. November 1918 in Berlin zwischen dem Schloss, dem Sitz des Kaisers, der Wilhelmstraße, dem Sitz der Reichsregierung und dem Reichstag hin und her. Eine Entscheidung reifte heran und musste getroffen werden. Die Macht lag auf der Straße. Die Mehrheit wollte unter den Bedingungen des Kaiserreiches nicht mehr leben, und von den Regierenden ging keine Lösung der Probleme mehr aus; sie waren handlungsunfähig geworden. In der Luft lagen zwei Lösungsmöglichkeiten, einerseits eine ungezügelte Übernahme der Macht durch einen Militärputsch und anderseits ein Aufstand durch die äußerste Linke nach sowjetrussischem Vorbild. Zwischen den Extremen war zu wählen.

Philipp Scheidemann, einer der beiden Vorsitzenden der SPD und Mitglied des Rates der Volksbeauftragten, wagte am Nachmittag des 9. November 1918 den entscheidenden Schritt. Er sprach spontan zu der vor dem Reichstagsgebäude versammelten Menge vom Westbalkon (zweites Fenster nördlich des Portikus) und rief die Republik aus.

Seine Rede ist in verschiedenen Versionen, die inhaltlich gleichlautend sind, überliefert. Er selbst hat sie 1930 in seinen Memoiren nach der Erinnerung veröffentlicht. Er sagte unter anderem:

„Arbeiter und Soldaten! Furchtbar waren die vier Kriegsjahre. Grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Kriegs, Not und Elend werden noch viele Jahre lang auf uns lasten... Seid einig, treu und pflichtbewusst! Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!“

Es war ein gewagter Schritt, der nicht sofort die Zustimmung der politisch Handelnden fand, aber der Weg zur parlamentarischen Demokratie war damit gelegt. Die politische Führung in Deutschland hatte sich auf die Parteien verlagert, die kaiserliche Macht war gebrochen und der Weg der Extreme verworfen.

Als Handlungsort der Geschichte wurde das Gebäude durch den Brand am 27. Februar 1933 in aller Welt bekannt. Das Bild des brennenden Reichstags ging um die Welt. Die an die Macht gekommene Regierung Hitler nutzte mit der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar diesen Brand und beseitigte die Grundlage des Rechtsstaates. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 wurde die parlamentarische Staatsform beseitigt und die Diktatur der Nazis ausgeformt.

Der unterirdische Gang

Die Spuren des Brandes wurden erst in den 60er Jahren beseitigt. Bei den Umbaumaßnahmen in den 90er Jahren wurde der Rohrleitungsgang, der einst unter der Straße hinter dem Reichstag zum Palais des Reichstagspräsidenten (heute Sitz der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft) führte, gefunden. Er wurde als archäologischer Fund gesichert. Der Legende nach sollen SA-Angehörige durch diesen Gang in das Reichstagsgebäude eingedrungen sein, um das Haus in Brand zu setzen. Bewiesen werden konnte es nicht. Ein Teil des Heizungsgangs ist bei den Bauarbeiten herausgesägt worden und wurde in der Fußgänger-Unterführung im Berliner Parlamentsviertel, auf dem Weg vom Reichstagsgebäude zum Jakob-Kaiser-Haus, aufgestellt. Er soll an diesen Brand erinnern und zugleich an Marinus van der Lubbe, der als Brandstifter vom Reichsgericht in Leipzig durch ein nachträglich erlassenes Gesetz zum Tode verurteilt wurde.

Die Graffiti der sowjetischen Soldaten

Der Reichstag als international bekanntes Bauwerk stand in der Zeit der NS-Herrschaft weitestgehend ungenutzt. Das markante Gebäude stellte in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs ein geographisches Ziel, einen Endpunkt des Krieges dar und wurde deshalb vor allem von der sowjetischen Propaganda genutzt. Zunächst zeigten die Plakate und Bilder das Brandenburger Tor als Ziel, dann aber in der Schlussphase des Krieges das Reichstagsgebäude. Es war zwar in der NS-Zeit bedeutungslos geworden, hatte aber einen hohen Symbolwert und war durch seine Größe und seine Lage hervorgehoben. Die Schlacht um Berlin begann am 21. April 1945, der Kampf um den Reichstag am 30. April 1945. Erst am 2. Mai 1945 wurde das Gebäude endgültig erobert. In den Tagen danach wollte sich jeder, der dazu Gelegenheit fand, gerade in diesem Gebäude verewigen, seinen Namenszug oder eine Botschaft hinterlassen als Ausdruck des Sieges. Auch dies eine Spur der Geschichte, die zum Teil erhalten werden konnte.

Der sowjetische Marschall Shukow schrieb in seinen Erinnerungen:

„... Jeder Schritt, Boden, jeder Stein zeugten besser als alle Worte davon, dass es im Vorgelände der Reichskanzlei und des Reichstages wie in den Gebäuden selbst einen Kampf auf Leben und Tod gegeben hatte. Den Mauern des riesigen Gebäudes hatte die mittlere Artillerie nichts anhaben können, sodass schwere Kaliber hatten aufgefahren werden müssen. Dabei konnte der Gegner von der Kuppel und den anderen massiven Aufbauten aus das ganze Vorfeld bestreichen.“

Die Rote Fahne auf dem Reichstag

So wurde das Gebäude Zeichen für den Beginn und das Ende der NS-Herrschaft, ohne in dieser Zeit selbst eine große Rolle gespielt zu haben. Wichtig wurde das Hissen der Roten Fahne. Der sachliche Hintergrund war folgender: In den Kämpfen um die Stadt hatten die sowjetischen Soldaten ein relativ wirkungsvolles Zeichen für die Markierung der von ihnen eroberten Ziele angewandt. Jedes Ziel hatte eine bestimmte Nummer, war es erreicht, hatte eine Rote Fahne dies zu signalisieren, um in der unübersichtlichen, zerstörten Stadt Orientierung darüber zu erhalten, welchen Teil der Stadt man bereits erobert hatte.

So war es auch beim Reichstag, allerdings hier mit der besonderen Betonung des geographischen Endpunktes. Mehrere Gruppen trugen eine derartige Fahne, um sicher zu stellen, dass eine das Gebäude auch wirklich erreichte.

Nach der Eroberung des Gebäudes wurde die Rote Fahne auf dem östlichen Hauptgesims des Gebäudes angebracht, von zwei sowietischen Soldaten gehalten und aus der Luft fotografiert. Dieses Foto ging um die Welt, zeigte es doch das Ende des Krieges in Europa an. Die Fahne auf dem Reichstag war mehr Symbol als tatsächliches Geschehen. Tatsächlich wurde schließlich eine Rote Fahne auf dem Südostturm des Reichstages angebracht. Die Wochenschau-Aufnahmen, die in vielen Dokumentarfilmen gezeigt werden, sind in den folgenden Tagen nachgestellt worden. Sie sind aber wegen ihres Zeitgeistes von hohem Wert.

Die Mauer

Das Gebäude des Reichstages lag nach dem Ende des Krieges an der Grenze zwischen Ost und West in der Stadt, am Scheidepunkt der Welt. Es stellte durch die Lage an dieser markanten Stelle der Stadt wiederum ein Symbol dar; ein Symbol der Spaltung Deutschlands, der Zerrissenheit der politischen Verhältnisse und der anhaltenden Perspektivlosigkeit; ein Zustand, der nur langsam verändert werden konnte. Der Wiederaufbau der Ruine in den fünfziger und sechziger Jahren zeigte die langsame Veränderung der Situation.

Mehr und mehr, zuerst unmerklich, aber dann 1948 und vor allem nach dem 13. August 1961 immer deutlicher, stand der Bau aufgrund seines Standorts unmittelbar an der Grenze im Mittelpunkt aller Auseinandersetzungen. Die Grenze zwischen den beiden Berliner Verwaltungsbezirken Mitte und Tiergarten war Teil des sensibelsten Ortes der Welt geworden. Zwei hochgerüstete Militärblöcke standen sich misstrauisch beobachtend gegenüber. Jede Bewegung wurde kontrolliert, jeder Fehler des Einen konnte Fehlreaktionen des Anderen auslösen, und das hätte Krieg bedeutet.

Hinter dem Reichstagsgebäude stand die Mauer, und als diese Grenze im November 1989 fiel, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch an dieser Stelle dieses hässliche Bauwerk verschwand.

An mehreren Stellen wird konkret an die Mauer erinnert. Auf ihrer Westseite war aus privater Initiative ein Gedenkhain entstanden, der an die jungen Menschen erinnern soll, die an der Grenze in Berlin auf dem Weg in die Freiheit ihr Leben verloren hatten. Schlichte Kreuze halten ihre Namen für die Nachwelt fest. Zwischen Brandenburger Tor und Reichstagsgebäude bis zur Spree ist der Mauerverlauf außerdem mit einer Steinmarkierung auf der Straße und auf dem Ebertplatz gekennzeichnet.

Ferner bleibt ein Stück der Mauer in den neuen Bundestagsbauten erhalten. Die Reihe der Neubauten für Parlament und Regierung überquert als „Band des Bundes“ die Spree, die hier bis 1990 die Grenze bildete. Die Architektur symbolisiert so das Zusammenwachsen der einst geteilten Stadt als Ausdruck der Überwindung der Spaltung. Dabei wird im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das östlich der Spree im Entstehen ist, auch die ehemalige Grenzanlage überbaut. An der Originalstelle wird in diesem Neubau als mahnendes Zeichen ein Teil der „Hinterlandsicherungsmauer“ einbezogen und so eine weitere Spur der Geschichte bewahrt.

Das vom Bundestag genutzte Reichstagsgebäude zeigt sich den Abgeordneten und den Besuchern als Symbol der deutschen Geschichte und des Parlamentarismus, aber durch die ablesbaren Spuren auch als „Zeitzeuge“ der Geschichte.

erschienen im Blickpunkt Bundestag, Ausgabe August Extra/2000
Text: Laurenz Demps