Die Grundrechte
Ist vom Grundgesetz die Rede, denken viele Bürgerinnen und Bürger zuerst an die Grundrechte: An den Grundsatz der Menschenwürde in Artikel 1 und die dann folgenden Freiheits- und Gleichheitsrechte. Die Grundrechte sind das Rückgrat des Grundgesetzes, und sie bilden die Werteordnung unseres Landes. Sie haben buchstäblich vorrangige Bedeutung, da die Väter und Mütter des Grundgesetzes sie an den Anfang stellten. „Vor dem Staat soll der Mensch kommen“, lautete die Botschaft derer, die das Grundgesetz im Konvent von Herrenchiemsee vorbereiteten und dann im Parlamentarischen Rat 1948/1949 ausarbeiteten.
Geprägt durch die Erfahrungen der Führerideologie, des totalitären Machtanspruchs und der massenhaften Inhumanität der Nationalsozialisten stand die Sicherung grundlegender Bürgerrechte im Parlamentarischen Rat ganz oben auf der Tagesordnung. Auch die Erinnerungen an die Schwächen des Grundrechtsschutzes in der Weimarer Republik spielten eine wichtige Rolle in den Beratungen. Zwar enthielt die Weimarer Reichsverfassung einen Katalog von Grundrechten, aber diese waren nicht einklagbar und konnten durch Notverordnungen außer Kraft gesetzt werden.
„Grundrechte sind unmittelbar geltendes Recht“
Für die Väter und Mütter des Grundgesetzes stand deshalb fest, die Grundrechte dürfen nicht nur „ein Stück Literatur“ sein, sondern sie müssen im Leben der Menschen Wirkung entfalten. Deshalb sind die Grundrechte „unmittelbar geltendes Recht“, das heißt, die Bürgerinnen und Bürger können sich gegenüber der Verwaltung, der Gesetzgebung und den Gerichten auf sie berufen. Heute mag das selbstverständlich klingen, aber die damalige „Pflanzaktion“ des Grundrechtschutzes in den Trümmern der Nachkriegszeit war begleitet von großer Ungewissheit, auch über das Schicksal des Grundgesetzes.
Tod, Zerstörung, Hunger, Flucht, Vertreibung und Teilung prägten den Lebensalltag. Die Menschen hatten anderes zu tun, als sich um die Formulierung eines neuen Grundrechtskatalogs Gedanken zu machen.
Außerdem war das Grundgesetz als Ganzes wegen der deutschen Teilung als Provisorium gedacht. Mit Blick auf die Grundrechte allerdings galt im Parlamentarischen Rat die Devise, dass sie trotz aller Ungewissheiten schon ihrem Wesen nach als etwas Dauerhaftes zu konzipieren seien. Umso sorgfältiger war zu erwägen, welche Grundrechte geschützt werden sollten. Rasch kam man überein, sich auf Abwehrrechte konzentrieren zu wollen, also auf Rechte, die den Schutz vor staatlichen Eingriffen garantieren: Dazu zählen die Meinung-, Religions- und Pressefreiheit, die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, auch die Berufsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung sowie den Schutz des Post- und Fernmeldegeheimnisses.
Schutz der Handlungsfreiheit und des Persönlichkeitsrechts
Diesen speziellen Freiheitsrechten ist der in Artikel 2 Absatz 1 verbürgte Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorgeschaltet. Beide Gewährleistungen, die nicht wörtlich in Artikel 2 genannt werden, sind ein Beispiel dafür, wie das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte entfaltet hat, damit sie die Bürgerinnen und Bürger trotz aller Veränderungen, die es seit Verabschiedung des Grundgesetzes gegeben hat, wirksam schützen.
Zu den Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gehört zum Beispiel das Recht am eigenen Bild, das bei heimlichen Aufnahmen von Prominenten Bedeutung erlangte. Auch umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das eine wichtige Rolle für den Datenschutz spielt. Eine weitere Variante des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist das sogenannte IT-Grundrecht, welches das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zur Infiltration von Computersystem aus der Taufe hob. In der Gerichtssprache ist vom Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme die Rede.
Sichtbare Spuren politischer Kontroversen
Im Grundrechtskatalog ist außerdem der Schutz bestimmter privater Einrichtungen und Rechtsinstitute verbürgt, zum Beispiel Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1) Privatschulen (Art. 7 Abs. 4) oder Eigentum (Art. 14). Leidenschaftlich gestritten wurde im Parlamentarischen Rat über die Aufnahme und Ausformulierung des sogenannten Elternrechts (Art. 6 Abs. 2) zum Schutz vor staatlichen Eingriffen in die Kindererziehung, das vor allem der katholischen Kirche ein wichtiges Anliegen war. Sozialdemokratische und liberale Vertreter im Parlamentarischen Rat standen der Forderung kritisch gegenüber. Gewissermaßen in Fortsetzung des Streits über das Dreiecksverhältnis zwischen Eltern, Kindern und Staat wird heutzutage über die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz debattiert.
In manchen Artikeln des Grundgesetzes haben politische Kontroversen sichtbare Spuren hinterlassen.
Um das geheime Abhören von Gesprächen in Wohnungen zu ermöglichen („großer Lauschangriff“) wurde 1998 das Grundrecht zur Unverletzlichkeit der Wohnung geändert. Der neue Artikel 13 ist viermal so lang wie die ursprüngliche Vorschrift. Artikel 16a, mit dem 1993 nach langer, hitziger Debatte das Grundrecht auf Asyl eingeschränkt wurde, ist vierzigmal so lang wie Artikel 16 in seiner ursprünglichen Fassung.
Manchen Vorschriften dagegen sieht man die erbitterten Auseinandersetzungen, die um sie geführt wurden, nicht an.
Gleichberechtigung der Geschlechter
Für den Grundsatz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Art. 3 Abs. 1 Satz 1) hatte die sozialdemokratische Rechtsanwältin Elisabeth Selbert gemeinsam mit ihren drei Kolleginnen im Parlamentarischen Rat kämpfen müssen. Doch sollte es noch Jahre dauern und mehrfach eines Machtwortes des Bundesverfassungsgerichts bedürfen, bis der Gesetzgeber das Familienrecht, in dem traditionell der Wille des Mannes zählte, vollständig dem Gebot der Gleichberechtigung anpasste.
Die Debatte über Gleichberechtigung nach dem Grundgesetz war damit aber nicht zu Ende. Wiederum nach schwierigen Verhandlungen wurde im Zuge der Beratungen von Grundgesetzänderungen nach der Wiedervereinigung 1993 in Art. 3 Abs. 2 der Auftrag an den Staat eingefügt, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Gleichberechtigung der Geschlechter aktiv voranzubringen. Wie weit dieser Gleichstellungsauftrag reicht, darüber wird weiter gestritten, etwa jüngst in der Diskussion über verbindliche Vorgaben für eine stärkere Repräsentanz von Frauen im Bundestag und in den Landtagen. (gel/01.05.2019)
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Artikel | Kapitel |
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1 - 19 | |
20 - 37 | |
38 - 49 | |
50 - 53 | |
53a | |
54 - 61 | |
62 - 69 | |
70 - 82 | |
83 - 91 | |
91a - e | |
92 - 104 | |
104a - 115 | |
115a - l | |
116 - 146 |