Zeitenwende in der europäischen Sicherheitsordnung
Wenige Begriffe dürften so sinnbildlich für die 20. Wahlperiode stehen wie dieser: Zeitenwende. Drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine kommt der Deutsche Bundestag zu einer Sondersitzung zusammen. Es ist der 27. Februar 2022, ein Sonntag – allein das: Ausdruck einer neuen Dringlichkeit.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), erst 81 Tage im Amt, tritt vor das Plenum und verkündet eine Zäsur in der Zeitrechnung der europäischen Nachkriegsordnung. „Die Welt danach“, sagt er mit Blick auf den 24. Februar, als russische Truppen gleichzeitig von Süden, Osten und Norden in die Ukraine einfielen, „ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Und er spricht das aus, was nicht nur in den Stunden, sondern auch in den Jahren danach immer wieder in Schlagzeilen gegossen wird: „Wir erleben eine Zeitenwende.“ Die politische Antwort des Kanzlers auf eben diese Zeitenwende ist unter anderem ein 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für die Bundeswehr.
„Den Weg mit dem Kanzler gehen“
Das Plenum – noch sichtbar gezeichnet von der anhaltenden Corona-Krise; es herrscht Maskenpflicht, Abgeordnete sprechen aufgrund von Hygienevorschriften teils von der Tribüne aus – ist einig wie selten zuvor. Nachdem Scholz das Rednerpult verlassen hat, erheben sich neben den Koalitionspartnern auch die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion von ihren Plätzen und applaudieren dem Regierungschef. Die Union werde, das verspricht Oppositionsführer Friedrich Merz, bei der Ertüchtigung der Bundeswehr den Weg mit dem Kanzler gehen – „auch gegen Widerstände“.
Und Gleiches gilt für die anderen Themen, die Scholz in seiner Rede aufs Tableau bringt: die teils auch für die heimische Wirtschaft empfindlichen Sanktionen gegen das russische Regime, das nach heftigen Kontroversen nun umso bestimmtere Ja zu Waffenlieferungen in die Ukraine.
Was lange nicht gesagt werden musste
Es herrscht eine angespannte Stimmung in dieser 19. Sitzung des 20. Deutschen Bundestages. Empathie für und Solidarität mit dem überfallenen Land sind die eine rhetorische Zielrichtung der im Plenum vorgetragen Reden, die Einsicht, dass dieser Krieg auch die Sicherheitslage in Deutschland und im Rest Europas massiv in Gefahr bringen kann, die andere. In seinem Schlusssatz beschwört der Kanzler das „freie und offene, gerechte und friedliche Europa“ und fügt hinzu, was in diesem Sinne lange nicht hinzugefügt werden musste: „Wir werden es verteidigen.“
Gemeinsam mit der Union legen die Ampelkoalitionäre von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP einen Entschließungsantrag (20/846) vor, mit dem die „unverbrüchliche“ Solidarität mit der Ukraine per Votum noch formal bekundet wird. Inklusive sind auch Forderungen nach weiteren Sanktionen gegen Russland, nach einer Modernisierung der Bundeswehr oder nach dem Ausschluss Russlands aus dem Europarat. AfD und Linke stimmen gegen den Antrag und bringen stattdessen eigene Vorlagen ein. Die Linke wendet sich gegen Waffenlieferungen in die Ukraine (20/845), die AfD fordert eine Erneuerung des deutschen Vetos einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine (20/843) und die sofortige Wiedereinführung der Wehrpflicht (20/844).
„Wir sind nicht ohnmächtig“
„Wir sind nicht ohnmächtig“, verspricht Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk, der neben Bundespräsident a. D. Joachim Gauck der Debatte von der Ehrentribüne aus beiwohnt. „Wir lassen Sie nicht alleine“, versichert sie dem Diplomaten aus Kyjiw. Und auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) gibt sich selbstbewusst: „Wir brauchen einen langen Atem“, sagt er mit Blick auf die auf Dauer angelegten Sanktionen. „Wir haben diesen langen Atem“, schiebt er nach.
Aus der Opposition sind die Töne kritischer. Zwar sei die „Verwerflichkeit des russischen Einmarsches“ nicht zu leugnen, sagt etwa AfD-Fraktionschefin Dr. Alice Weidel. Doch trage der Westen eine Mitverantwortung für den Angriff Russlands auf die Ukraine. „Hardliner“ hätten starr an der Nato-Beitrittsperspektive für das Land festgehalten und dabei Russland überheblich den Großmachtstatus abgesprochen, sagt sie. „Das ist das historische Versagen des Westens: die Kränkung Russlands.“ Von Deutschland erwartet sie die Rolle des „ehrlichen Maklers“ in diesem Konflikt.
Die letzte Debatte der Wahlperiode
Für Die Linke zeigt sich deren Vorsitzende Amira Mohamed Ali betont nachdenklich. „Für meine Partei Die Linke räume ich in aller Deutlichkeit ein, dass wir die Absichten der russischen Regierung falsch eingeschätzt haben“, sagt sie und betont: „Wir bewerten die Lage heute anders.“ Das Hochrüsten aber, die Militarisierung, so Mohamed Ali, „die können und werden wir als Linke nicht mittragen“. Gut zwei Jahre später wird Mohamed Ali ihre Partei und ihre Fraktion verlassen und in das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) eintreten – in der Rolle als Co-Parteivorsitzende.
Knapp drei Jahre nach dieser historischen Debatte endet die 20. Wahlperiode – mit einer nicht minder historischen Sitzung: Am 18. März 2025 kommt der Bundestag wenige Tage vor der Konstituierung seines Nachfolgers ein letztes Mal zusammen. In der Zwischenzeit wurde Donald Trump in den USA erneut ins Weiße Haus gewählt, der Krieg in der Ukraine tobt noch immer und Europa diskutiert über Wiederaufrüstung und Verteidigungsfähigkeit. Mit den Mehrheiten des 20. Bundestages beschließt das Parlament im Eiltempo eine Reform der Schuldenbremse für Investitionen in die Verteidigung und die Infrastruktur. 512 Abgeordnete stimmen für die Grundgesetzänderung. Damit wird die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht. (ste/31.03.2025)