30.08.2024 | Parlament

Rede anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „AN DER GRENZE ERSCHOSSEN – Erinnerung an die Todesopfer des DDR-Grenzregimes in Sachsen-Anhalt“ in Helmstedt

Das Bild zeigt eine Frau, die vor Menschen an einem Rednerpult steht und in ein Mikrofon spricht. Ihr sitzen Menschen in stuhlreihen gegenüber und schauen sie an.

Die SED-Opferbeauftragte hält eine Rede bei der feierlichen Eröffnung der Ausstellung. (© Team Zupke)

Sehr geehrter Herr Meinhardt, 
Liebe Kreistagsabgeordnete,
Sehr geehrter Herr Wendt, 
Sehr geehrte Frau Mattfeldt-Kloth,
Sehr geehrter Herr Ludwig,
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Opferverbände,
lieber Michael Teupel,
lieber Hugo Diederich,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

in diesen Tagen ging es viel durch die Medien. Vor genau dreißig Jahren erfolgte der Abzug der russischen Truppen aus dem wiedervereinigten Deutschland. 

Viele von Ihnen erinnern sich noch an die Bilder im Fernsehen oder waren selbst dabei, als die Konvois der Panzer über die Straßen und die Schienen rollten. 

Auch keine zwanzig Kilometer von hier, in Ausleben in Sachsen-Anhalt, endet dieses Kapitel deutsch-deutscher und europäischer Geschichte. 

Der damalige russische Präsident Jelzin sprach bei einem Festakt zum Truppenabzug vom Ende der Gewalt in der Welt und ja sogar vom Beginn eines dauerhaften Friedens.

Die Mauer und der Eiserne Vorhang waren gefallen und wir erlebten einen der glücklichsten Momente in unserer Geschichte. Demokratie hatte über Diktatur gesiegt. Der kalte Krieg, die ständige Sorge über einen Krieg mitten in Europa, schien für immer in die Geschichtsbücher verbannt. 

Dieses Gefühl, diese Erleichterung, als die Mauer vor 35 Jahren fiel. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern und ich denke vielen von Ihnen geht es genauso. 

Wenn wir heute in die Welt schauen, dann sehen wir ein anderes Bild. Freiheit und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit – auch nicht bei uns in Europa. 

Was bedeutet es in einer Diktatur zu leben? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist wichtig. Mit Blick auf die Vergangenheit, um unsere Geschichte zu verstehen. Aber ebenso auch, wenn wir heute vor der Entscheidung stehen, wie wir uns gegenüber den heutigen autoritären Regimen verhalten. Und wenn wir erleben, dass mitten in unserer heutigen Gesellschaft immer wieder Menschen das Autoritäre als das vermeintlich bessere Gesellschaftsmodell propagieren.

Was bedeutet es in einer Diktatur zu leben? Was bedeutet es, wenn der Staat nicht die Freiheit der Menschen garantiert, sondern sie einsperrt?  

Die innerdeutsche Grenze, wie hier zwischen Helmstedt und Marienborn. Sie war mehr als nur ein Riss durch unser Land. Sie war das zu Stein, Beton und Stacheldraht gewordene Signal eines repressiven Staates an seine Bürger: „Eure Freiheit liegt in unseren Händen!“

Diese Grenze teilte nicht nur Helmstedt von Marienborn. Diese Grenze teilte die damalige Welt. Demokratie auf der einen Seite. Diktatur auf der anderen. Aber diese Grenze. Sie war mehr als das. 

An Stacheldraht und Mauer trennten sich viele Wege. Paare, Familien, Freunde. Bleibe ich oder gehe ich? Diese Entscheidung traf niemand für sich allein. 

Die innerdeutsche Grenze war eben nicht nur ein Riss durch unser Land. Mauer und Grenze waren ein Riss durch die Gesellschaft und durch viele tausende Familien. 

Häufig sehen wir in Filmen nur die Geschichten der erfolgreichen Fluchten. Menschen, die mithilfe von Tunneln oder Ballons ihren Weg in die Freiheit fanden. Die Flucht über Mauer und Grenze führte jedoch eben nicht für jeden in die Freiheit. Viel zu häufig führte dieser Weg in die Gefängniszellen der Diktatur und ja, für manche auch in den Tod. 

Die Toten an den Grenzen. Sie waren in der DDR ein Staatsgeheimnis. Nicht die Erinnerung an die Opfer, sondern das Schweigen und das Vergessen war das Ziel des SED-Staates. Umso wichtiger ist es, dass wir heute die Opfer beim Namen nennen.  So, wie es die Ausstellung, die wir heute hier gemeinsam eröffnen, tut. Es ist wichtig, dass wir die Opfer beim Namen nennen. Dass wir ihre Geschichte erzählen. Ich bin der VOS und ebenso auch dem Landesbeauftragten aus Sachsen-Anhalt gerade deshalb so dankbar für diese Ausstellung. 

Mein Dank gilt ebenso dem Landkreis Helmstedt und dem Zonengrenz-Museum. Dafür, dass sie dem Gedenken an die Opfer und der Aufklärung über die SED-Diktatur ganz bewusst Raum geben. Dies ist heute nicht selbstverständlich und daher umso wertvoller.

Opfer haben einen Namen. Opfer haben ein Gesicht. 

Mich bewegt es sehr, wenn ich sehe, dass die Menschen, die hier in der Ausstellung gezeigt werden, nur eines wollten: 

In Freiheit leben. 

In Freiheit leben, dass wollte auch Michael Gartenschläger. Als junger Mensch wollte er die Teilung Berlins und die Teilung unseres Landes nicht akzeptieren. Er demonstrierte gegen den Bau der Mauer. Im August 1961 wurde er als 17-Jähriger bei einer gewagten Protestaktion gemeinsam mit fünf Freunden verhaftet. In einem Schauprozess wurde er vom Bezirksgericht Frankfurt zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach zehn Jahren Haft gelangte er durch den Häftlingsfreikauf in den Westen. Das SED-Regime stahl Michael Gartenschläger seine Jugend.

Seinen Willen aber, seinen Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung, den konnte das System nicht brechen. In den Westen freigekauft, setzt er seinen Kampf fort. Als Fluchthelfer verhalf er 31 Menschen zur Freiheit. Mit Mauer, Stacheldraht und Grenze aber, blieb für ihn die Freiheit des Westens nur eine halbe Freiheit. 

Michael Gartenschläger war ein Mahner in einer westdeutschen Gesellschaft, die häufig die Augen verschloss vor den Menschenrechtsverletzungen im zweiten Deutschland. Die Diktatur vor der eigenen Haustür. Viel zu viele hatten sich daran gewöhnt. Michael Gartenschläger aber konnte sich nie an Teilung und Grenze gewöhnen. 

Um auf das mörderische Grenzregime aufmerksam zu machen, demontiere er im März 76 im Todesstreifen eine Splitter-Mine. Die Verwendung dieser Selbstschussanlagen hatte die DDR-Führung zuvor stets geleugnet. Als er im April des gleichen Jahres erneut eine Selbstschussanlage demontierte, wurde er von einem Sondereinsatzkommando der Staatssicherheit erwartet und eiskalt erschossen. 

Michael Gartenschläger ist ein Opfer des DDR-Grenzregimes. Gleichzeitig ist er ein früher Kämpfer für die deutsche Einheit. Ein Opfer und ein Kämpfer, von dem viel zu wenig Menschen bis heute wissen. 

Es beschämt mich daher zutiefst, wenn ich sehe, dass im wiedervereinigten Deutschland noch immer rund 20 Straßen benannt sind nach Wilhelm Pieck, dem DDR-Präsidenten und Verantwortlichen für Todesurteile gegen Andersdenkende. Bis heute aber gibt es keine einzige Straße benannt nach Michael Gartenschläger. 

Es liegt an uns, dass die Erinnerung an die Opfer der Grenze, an die Opfer der SED-Diktatur, nicht verblasst. Daher werbe ich auch heute hier in Helmstedt, dass wir, wenn Straßen-Benennungen neu erfolgen, dass wir die Opfer der Diktatur nicht vergessen. 

Und wenn wir in diesem Jahr „35 Jahre Friedliche Revolution und 35 Jahre Mauerfall“ bei Gedenkstunden und Festakten feiern, denke ich an die Menschen, die für ihre und unsere Freiheit gekämpft haben und dafür ihr Leben ließen. An Menschen, die wir hier in der Ausstellung sehen. An Menschen wie Michael Gartenschläger. Ihre Schicksale sind eine Mahnung und ein Auftrag an unsere heutige demokratische Gesellschaft zugleich:

„Nie wieder Diktatur“

Vielen Dank!

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