Rede bei der Eröffnung des 28. Bundeskongress unter dem Leitthema:
„‚… mit Wirkung vom 3. Oktober 1990‘. 35 Jahre Grundgesetz in den ostdeutschen Bundesländern“ im Roten Rathaus Berlin

Die SED-Opferbeauftragte hält zur Eröffnung des Bundeskongresses eine Rede. (© Team Zupke)
Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste,
in der letzten Woche fand die konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages statt. Viele von Ihnen haben, wie ich, diese aufmerksam verfolgt.
Ein neu gewähltes Parlament ist Zeichen der Kontinuität und des Aufbruchs zugleich. Erstmals gehören dem Parlament keine Abgeordneten mehr an, die in der letzten freien Volkskammer und dem Deutschen Bundestag mit ihrer Stimme den Weg zur deutschen Einheit geebnet haben.
In seiner Rede nahm der Alterspräsident Gregor Gysi, der damals gegen die Wiedervereinigung stimmte, auch Bezug auf 35 Jahre Deutsche Einheit. „Selbstverständlich haben die Menschen im Osten an Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewonnen“, führte er vom Präsidentenpult des Bundestages aus. Gleichzeitig empörte er sich, dass man über Jahrzehnte die DDR nur auf Stasi und Mauertote reduziert habe und forderte in seiner Rede unter johlendem Beifall seiner Fraktion von einer kommenden Bundesregierung eine Entschuldigung. Eine Entschuldigung für die Fehler der Deutschen Einheit.
Die systematische Repression als viel zu sehr beachteter Nebenaspekt der DDR?
Die Deutsche Einheit, lediglich nur als ein Zugewinn an Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit für die Menschen im Osten?
Nein.
Die Menschen in der DDR, sie haben 1989 nicht, wie der Alterspräsident es suggerierte, an Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gewonnen.
Sie haben sich durch jahrzehntelangen Widerstand, der in eine friedliche Revolution mündete, Demokratie, Freiheit und den Rechtsstaat hart erkämpft.
Es waren Widerspruch und Widerstand, die für viele nicht wie im Herbst 1989 in der Freiheit endeten, sondern in den Gefängniszellen einer unmenschlichen Diktatur. Viele von Ihnen hier wissen dies aus leidvoller eigener Erfahrung.
Nein, es war nicht der Zugewinn an Freiheit. Sondern, es war die Freiheit überhaupt, die Menschen sich erkämpften.
Das, was wir bei der Eröffnung des neuen Bundestages erleben mussten, zeigt uns eindrücklich, wie wichtig es ist – gerade jetzt nach 35 Jahren – über die Deutsche Einheit und über das Leben in Diktatur und das Leben in Demokratie zu sprechen.
Ich bin Dir, lieber Frank, daher besonders dankbar, dass du den diesjährigen Bundeskongress unter dieses Leitthema gestellt hast. Wie sind wir in den letzten 35 Jahren mit dem staatlichen Unrecht in der DDR als wiedervereinigtes Deutschland umgegangen? Empfinden die Menschen Demokratie und Wiedervereinigung als einen Gewinn für ihr ganz persönliches Leben?
All das sind Fragen, bei denen es wichtig ist, dass wir uns als Gesellschaft mit ihnen auseinandersetzen. Und es ist wichtig, auch den Austausch mit den Menschen zu suchen, die einen anderen Blick auf die Dinge haben.
Wenn man probiert, das Leben in einer Diktatur zu beschreiben, gibt es keine einfachen Antworten. Weder waren die Menschen in der DDR in ihrer breiten Mehrheit entschiedene Träger des Systems und einverstanden mit Repression und Unterdrückung Andersdenkender. Noch waren die meisten Menschen in einer dauerhaften Auseinandersetzung mit dem System, in Opposition und Widerstand.
Gerade die Schattierungen in der Gesellschaft, das Spannungsfeld zwischen Konformität und Widerspruch, sind wichtig, um das Leben in der DDR besser zu verstehen.
Aber auch im Westen Deutschlands haben sich zur Zeit der Teilung viele Menschen nicht näher mit den Menschenrechtsverletzungen in der DDR auseinandergesetzt. An die Diktatur vor der eigenen Haustür, daran hatten die meisten Bundesbürger sich gewöhnt.
So verkauften westdeutsche Firmen Produkte, die von politischen Gefangenen in den Gefängnissen gefertigt wurden. Und auch als Medien darüber umfassend darüber berichteten, gab es keinen öffentlichen Aufschrei, keinen Boykott. Und die Produktion, sei es in Hoheneck oder Cottbus, sie lief einfach weiter.
Auch darüber müssen wir sprechen!
Die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur und ihren Folgen, sie ist eben keine ostdeutsche Angelegenheit. Sie geht uns alle an!
Vor ein paar Wochen fragte mich eine Journalistin, was für mich persönlich „Deutsche Einheit“ bedeutet. „Frau Zupke, nehmen wir uns denn überhaupt gegenseitig wahr?“ Sie fragte mich dies am Tag vor dem wegweisenden Beschluss des Bundestages zur besseren Unterstützung der SED-Opfer. Dem Beschluss, mit dem unter anderem:
- die Opferrente spürbar erhöht,
die Bedürftigkeitsgrenzen gestrichen,
- die Zwangsausgesiedelten endlich anständig gewürdigt,
-die Möglichkeit der generellen erneuten Antragsstellung geschaffen,
- ein bundesweiter Härtefallfonds eingerichtet,
- und die Opfer, die unter den gesundheitlichen Folgen der erlebten Repression leiden, endlich von entwürdigenden und chancenlosen Verfahren befreit wurden.
Meine Antwort an die Journalistin war daher eindeutig:
Dass Abgeordnete aus vier unterschiedlichen Fraktionen, Abgeordnete aus Ost- und Westdeutschland, ostdeutsche Abgeordnete, die die Diktatur selbst erlebt haben oder nach dem Ende der DDR geboren wurden, gemeinsam mit Abgeordneten aus Westdeutschland einen solchen Beschluss für die Opfer der SED-Diktatur auf den Weg gebracht haben, ist gegenseitige Wahrnehmung.
Es ist ein Beschluss, der einstimmig im Deutschen Bundestag und einstimmig im Bundesrat durch die ost- und westdeutschen Länder verabschiedet wurde.
Es ist ein Beschluss, für den ich Ihnen, lieber Kai Wegner, ganz persönlich und auch stellvertretend für all die Menschen, die mit uns in der Politik gekämpft haben, außerordentlich dankbar bin.
Dieser Paradigmenwechsel im Umgang mit den Opfern der Diktatur, das ist für mich Ausdruck unserer besonderen gesamtdeutschen Verantwortung im Umgang mit unserer Geschichte.
Das ist für mich gelebte Deutsche Einheit.
Vielen Dank!