Vor 25 Jahren: Feierstunde des Bundestages zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls
Vor 25 Jahren, am Dienstag, 9. November 1999, erinnerten die Wegbereiter der deutschen Einheit – der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, George H. W. Bush, der ehemalige Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow und Bundeskanzler a. D. Dr. Helmut Kohl – in einer Feierstunde des Deutschen Bundestages aus Anlass des zehnten Jahrestages des Mauerfalls gemeinsam an die Ereignisse, die den Fall der Mauer bewirkt hatten und endgültig einen Prozess in Gang setzten, der zur deutschen Einheit führte.
George Bush: Nie eine so schwierige Situation
Der frühere amerikanische Präsident George H. W. Bush (1924 bis 2018) erinnerte daran, dass es kaum eine politisch so unvorhersehbare Situation gegeben habe wie die im Herbst des Jahres 1989, als die Völker Mittel- und Osteuropas begonnen hätten, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. „Blicke ich auf meine vier Jahre als Präsident der Vereinigten Staaten zurück, so kann ich auf vieles verweisen, was schwer war und mich hart ankam – und die Operation Wüstensturm zählte mit Sicherheit dazu. In keiner Situation aber standen die Dinge auch nur entfernt so auf Spitz und Knopf wie in jener, der wir am 9. November 1989 gegenüberstanden.“
„Der Wandel lag in der Luft, und fast über Nacht fingen die Menschen in Ost- und Mitteleuropa an, sich der Fremdherrschaft zu erwehren, die ihrer Gesellschaft aufgepfropft worden war.“
„Der Damm war gebrochen“
Schwer zu beschreiben seien seine Gefühle damals, als sein Sicherheitsberater Brent Scowcroft am 9. November in sein Büro gekommen sei, um mitzuteilen, es lägen Nachrichten vor, dass die Berliner Mauer geöffnet sei. Im Fernseher habe er daraufhin die Bilder von jubelnden Menschen jeglichen Alters an und auf der Mauer gesehen. Es sei ein nachgerade surrealistisches Bild gewesen, das Dalí gemalt haben könnte. „Dann aber überfiel uns die Erkenntnis, wessen Ereignisses Zeuge wir wurden. Der Damm war gebrochen, die Freiheit schäumte geradezu in Kaskaden über die Mauer.“
Als sein Pressesprecher dann vorgeschlagen habe, eine Stellungnahme für die Öffentlichkeit abzugeben, habe er – gerade auch aus Verantwortung gegenüber dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow – darauf geachtet, keine voreiligen Kommentare abzugeben. Es sei nicht die Stunde für Triumphgefühle gewesen. Jede arrogante Maßnahme des Westens gegenüber Moskau hätte die Gefahr in sich geborgen, den Jubel über die gefallene Mauer wieder zu zerstören, so Bush. Auch im Nachhinein sei er der Überzeugung, dass dieses Verhalten seinerzeit richtig gewesen sei.
Michail Gorbatschow: Politik ist kein Zugfahrplan
Der Tag sei ein Anlass zum Feiern nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die Europäer und die ganze Welt, erklärte der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow (1931 bis 2022). Die Mauer sei ein Zeichen des Widerspruches von Staaten zueinander gewesen, ihre Beseitigung ein langer qualvoller Weg.
Heute, mit einer gewissen historischen Distanz, sei es besser ersichtlich, warum die Mauer gefallen ist. Es mussten entscheidende Veränderungen vor allem in der Sowjetunion stattfinden, um auf den Weg zu Demokratie und Freiheit zu kommen. Es mussten demokratische Veränderungen, Revolutionen in Zentral- und Osteuropa vor sich gehen, bei denen diese Länder ihren freien Willen zum Ausdruck brachten. Auch habe es grundlegender Veränderungen im Verhältnis der Sowjetunion und der USA zueinander bedurft, um die seinerzeitigen Ereignisse möglich zu machen, sagte der Friedensnobelpreisträger von 1990.
Zwei Prozesse entwickelten sich gleichzeitig und beeinflussten sich gegenseitig. Zum einen wurde die Konfrontation durch Dialog und Vertrauen ersetzt; zum anderen wurden die Völker, die ihr Selbstbestimmungsrecht erlangten, tätig. Es sei für die Deutschen nicht leicht, jeden Schritt der Wiedervereinigung mit neuem Inhalt zu füllen. Aber „Politik ist schließlich kein Zugfahrplan.“ „Vielmehr haben wir es mit einer Vision, einer Orientierung, einer Wahl zu tun; und der Schaffensprozess selbst gibt manchmal die Antwort darauf, was zu tun ist.“
Chancen zu „neuer Weltordnung“ versäumt
Der frühere sowjetische Präsident bezeichnete das deutsche und das russische Volk als die eigentlichen Helden der damaligen Zeit. Er würdigte außerdem die Leistungen verschiedener deutscher Politiker auf dem Weg zur Einigung Europas und nannte namentlich Helmut Kohl, Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker und Willy Brandt.
Gorbatschow merkte im Übrigen kritisch an, in den Jahren nach der Einheit Europas hätte man im Westen wie im Osten Chancen auf dem Weg zu der von George Bush propagierten „neuen Weltordnung“ versäumt. Er erklärte zudem, er könne nicht ganz nachvollziehen, warum ausgerechnet die Personen der DDR-Staatsführung vor Gericht stehen, die vor zehn Jahren den Beschluss fassten, die Mauer durchlässig zu machen.
Helmut Kohl: Geschichte eines Triumphs der Freiheit
Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl (1930 bis 2017, CDU) erinnerte in seiner Ansprache „an die vielen Männer und Frauen, an die Bürgerrechtsbewegung, die für die Menschenrechte und Demokratie gelebt, gekämpft und gelitten“ hätten. Ihr Mut und ihre Taten seien ein wesentlicher Bestandteil deutscher Geschichte.
Die Bilder der Freude und des Glücks der Deutschen über den Fall der Mauer, über die Beendigung der gewaltsamen Trennung der geteilten Nation, bezeugten, dass die Mehrheit der Deutschen in Ost und West auch nach vier Jahrzehnten nicht bereit gewesen sei, die Teilung des Vaterlandes als endgültiges Urteil der Geschichte hinzunehmen. Die Bilder erzählten auch die Geschichte eines Triumphs der Freiheit. Möglich sei dies nicht zuletzt durch den Mut und die Kraft der Menschen geworden, die sich überall in den Städten und Gemeinden der damaligen DDR gegen die Diktatur erhoben. „Sie haben sich nicht durch Drohungen und Gewalt einschüchtern lassen; sie haben friedlich demonstriert, bis Mauer und Diktatur fielen.“
„Investition zur Sicherung der Zukunft in Europa“
Es sei Michail Gorbatschow gewesen, der mit dem neuen Denken und der Perestroika die Wende in der sowjetischen Politik begründet habe. Gorbatschows Name sei untrennbar mit dem Ende des Kalten Krieges und des Rüstungswettlaufs verbunden. Ohne sein Wirken wäre die friedliche Revolution in der DDR nicht denkbar gewesen, betonte Kohl. Er dankte dem früheren Präsidenten der USA, George Bush, ohne dessen persönliches Engagement für die Sache der Deutschen die Einheit nicht möglich gewesen wäre.
Das Geschenk der Einheit verpflichte die Deutschen, den Bau des Hauses Europa mit kräftigen Schritten voranzutreiben. Eine Rückkehr in die „Enge nationalstaatlichen Denkens“ dürfe es nicht geben. Kohl appellierte an alle, in ihrer Unterstützung für Russland, die Ukraine und die übrigen Staaten der früheren Sowjetunion nicht nachzulassen: „Jetzt zu helfen, ist eine Investition zur Sicherung der Zukunft in Europa.“ Für Kohl ist eine wichtige Voraussetzung für Frieden und Freiheit in Europa, die über Jahrzehnte bewährte transatlantische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten zu pflegen.
„Wir hatten das Privileg, einander zu vertrauen“
Alle drei Redner betonten wie wichtig das gegenseitige Vertrauen und ihr guter persönlicher Kontakt für die friedliche Wiedervereinigung gewesen waren. Bush sagte: „Der Grund, warum Deutschland in Frieden und Demokratie vereinigt wurde, lag zum großen Teil darin, dass sich die Handelnden auf der Bühne kannten. Und – Helmut Kohl wird mir gewiss zustimmen –, dass wir drei uns respektierten.“
Gorbatschow ergänzte: „Ja, wir hatten das Privileg, einander zu vertrauen und wir haben gründlich gearbeitet. Dabei haben wir beide nie vergessen, dass hinter jedem von uns das eigene Volk, die eigenen nationalen Interessen standen. Damit war uns eine große Verantwortung auferlegt. Dass wir so waren, dass die Beziehungen sich so entwickelten, wie wir es jetzt sehen, war damals von großer Bedeutung, als wir innerhalb von Minuten und Stunden Entscheidungen treffen mussten. Wir haben uns gestritten, hatten Meinungsverschiedenheiten, manchmal gingen wir im harten Streit auseinander, aber ungeachtet dessen fanden wir Lösungen, die den objektiven Bedürfnissen des Geschichtsverlaufs in dem Augenblick entsprachen.“
Kohl hob hervor: „Ohne die Politik der europäischen Integration, der Aussöhnung mit unseren Nachbarn und der Abkehr von nationalstaatlicher Machtpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts hätte es keine deutsche Einheit gegeben und – was noch wichtiger ist für die Zukunft – gäbe es keine friedliche Zukunft für Deutschland in Europa.“
Weitere Redner in der Feierstunde waren, neben dem damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse als Gastgeber, der damalige Bundesbeauftragte für die Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes, Joachim Gauck, und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD).
Wolfgang Thierse: So viele Umarmungen
„Heute vor zehn Jahren war das ostdeutsche Volk der Held. Dem Druck des ostdeutschen Volkes mussten die SED-Herrschaften nachgeben. Seine entschlossene Friedfertigkeit und seine grenzenlose Begeisterung bestimmten den Charakter der geschichtlichen Stunde. So viele Umarmungen zwischen den Berlinern West und Ost, so viele Verschwisterungen unter den Deutschen waren nie zuvor und danach.“ Kein Schuss sei gefallen, kein Blut geflossen. Das Unfassbare des Vorgangs habe sich in dem am häufigsten verwendeten Wort jener Tage ausgedrückt: „Wahnsinn“, so der Bundestagspräsident.
Der SPD-Politiker erinnerte an die fast 1000 Menschen, die seit 1949 an der innerdeutschen Grenze gestorben seien, davon 764 seit dem 13. August 1961, dem Tage des Mauerbaus. Ihrer sei zu gedenken, gerade auch in dieser Stunde glücklicher Erinnerung. Gleiches gelte für die vielen Tausende, denen in der DDR der Prozess gemacht worden sei und die wegen sogenannter Republikflucht in der Regel zu mehrjährigen Strafen verurteilt worden seien.
„Wir Ostdeutsche fanden unsere Sprache wieder“
Der Bundestagspräsident erinnerte an die Vorgeschichte des 9. November 1989: Fünf Tage zuvor habe es die größte Kundgebung jenes Herbstes auf dem Berliner Alexanderplatz gegeben; davor hätten die Monate friedlicher Demonstration in Leipzig und anderswo gelegen, „in denen wir Ostdeutsche unsere Sprache, unseren Mut nach und nach wiederfanden: ‚Wir sind das Volk.“
Gleichzeitig mahnte er, über diesen „vielleicht wirklich glücklichsten Tag der Deutschen in diesem Jahrhundert“ nicht die anderen Erinnerungen zu vergessen, die sich mit dem Datum des 9. November verbinden. „An diesem Tag rief Philipp Scheidemann 1918 von einem Balkon dieses Hauses die erste deutsche Republik aus. An diesem Tag versuchte Hitler 1923 in München seinen ersten Putsch. An diesem Tag begann 1938 in vielen deutschen Städten die systematische Verfolgung und Vernichtung der Juden.“
„Alle vier Anlässe des Gedenkens und Erinnerns, die an jedem 9. November zusammenkommen, mahnen uns, wie prekär Demokratie sein kann, wie schnell der Abgrund zwischen Zivilgesellschaft und barbarischer Diktatur überwunden werden kann, wie leicht verspielt werden kann, was wir uns an Menschenwürde und Freiheit erstritten haben und gesichert glauben.“
Joachim Gauck: Wir begannen selber zu gestalten
Auch der ehemalige Bürgerrechtler und Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Joachim Gauck, erinnerte an die Leistung jener Akteure des Wendeherbstes von 1989, „die den Regierenden in der DDR so viel Druck machten, dass deren Mauern nicht mehr standhielten“.
Die Sehnsucht nach Freiheit und Recht habe die Angst dieser Menschen schrittweise besiegt. Gauck wies daraufhin, heute gebe es gerade bei jenen, die damals aktiv waren, eine Trauer, eine Wehmut, die Aufbruchstimmung von damals verloren zu haben. Nicht in dem, was in den Wochen und Monaten des Umbruchs in der DDR in Bewegungen und Basisgruppen „erfunden“ worden sei, habe das eigentlich Neue gelegen, sondern im Anspruch und in den Haltungen derer, die in der Regel zum ersten Mal in ihrem Leben politisch aktiv geworden seien.
„Wir waren nicht länger Objekt der Politik, sondern begannen selber zu gestalten“, so Gauck. Die Zeit zu experimentieren, die eigenen Kräfte zu erproben, sei im Unterschied zu den Nachbarländern in Mittel- und Osteuropa aber außerordentlich kurz gewesen. „Nach der Einheit waren wir wieder Lehrlinge.“ Viele hätten sich fremd im eigenen Land gefühlt. Sicher erkläre sich deren Bitterkeit deshalb auch aus einer neuen Hilflosigkeit und Enttäuschung. „Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten auf in Nordrhein-Westfalen.“
Gerhard Schröder: Zweite Chance für Deutschland und Europa
Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) wies auf die besondere Bedeutung des Datums 9. November in der deutschen Geschichte hin. Dies sei ein „Tag der Freude, aber auch ein Tag der Scham und des Nachdenkens“, „ein Tag des Aufbruchs, aber auch ein Tag, an dem 1938 der Weg in einen 'bgrund an Unmenschlichkeit“ begann. „Nur wer sich diese Zusammenhänge vor Augen führt, wird den heutigen 9. November als das begehen können, das er inzwischen für die Entwicklung in Deutschland und in Europa bedeutet: als einen Tag des Triumphes von Freiheit und Demokratie.“
Heute vor zehn Jahren seien die Deutschen, wie es der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, spontan ausgedrückt hat, das „glücklichste Volk der Welt“ gewesen. Die Deutschen hätten sich vereint, noch bevor Deutschland vereinigt wurde. Die Mauer sei nicht in Washington, Bonn oder Moskau zum Einsturz gebracht worden, sondern von den „mutigen und unerschrockenen Menschen“ eingedrückt worden, und zwar von Ost nach West. Mit ihrer Zivilcourage hätten die Menschen in der DDR die deutsche Geschichte um die Erfahrung bereichert, dass „friedliche Beharrlichkeit und demokratischer Gemeinsinn Diktaturen zu Fall bringen“.
Schröder dankte Gorbatschow, dessen Reformpolitik die Entwicklung von Frieden und Demokratie in Deutschland und in ganz Europa entscheidend gefördert habe. Er hob auch den „großartigen Beitrag“ der Nachbarn und Verbündeten im Westen hervor. Er dankte auch den Völkern in den heutigen Reformstaaten Ost- und Mitteleuropas. „Ihr mutiger Einsatz für Demokratie und Menschenrechte, aber auch ihre Solidarität und Hilfsbereitschaft waren Voraussetzung dafür, dass der Widerstand gegen das SED-System schließlich erfolgreich sein konnte.“
Perspektive auf Frieden, Demokratie und Freiheit
Der 9. November 1989 stehe für eine realistische Perspektive auf Frieden, Demokratie, Wohlstand und Freiheit in Europa. Im Lichte dieser großartigen Perspektive bleibe Deutschland der Anwalt der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer dürfe Europa nicht ein weiteres Mal geteilt werden in einer gedachten „Wohlstandsgrenze“ zwischen der Union und ihren östlichen Nachbarn. „Nicht zuletzt die Ereignisse im Kosovo in diesem Jahr haben uns gezeigt, dass nur eine europäische Perspektive die Stabilität und den Frieden in einem Europa der Menschen und der Menschenrechte garantieren kann.“
Schröder mahnte, niemand sollte der Versuchung erliegen, die Vergangenheit zu verdrängen. Dies gelte für die „schreckliche Vergangenheit“ des 9. November 1938, aber auch für jenes politische System, das durch den Mauerfall beseitigt wurde. (klz/31.10.2024)