Parlament

Rede von Joachim Gauck, Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR

Sehr geehrter Herr Präsident des Deutschen Bundestages!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Hochverehrter Herr Bush!
Hochverehrter Herr Gorbatschow!
Sehr verehrter Herr Dr. Kohl!
Meine Damen und Herren!
Liebe Freunde und Mitstreiterinnen!

 

Während ich Sie, George Bush, begrüße, schaut über Ihre Schultern Martin Luther King, von dem wir hier im Osten 1989 gelernt haben, ohne Gewalt mächtig zu werden. Während ich Sie, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, anspreche und begrüße, schaut Ihnen Andrej Sacharow über die Schulter mit seiner Fähigkeit, Denken und Widerstehen zusammenzubringen.

Und dem Deutschen Bundestag schauen in dieser Stunde andere Menschen über die Schulter - vom „Neuen Forum“ Bärbel Bohley und Jens Reich, Dietlind Glüer aus Rostock, Heidi Bohley aus Halle und Martin Böttcher aus Sachsen, von der SPD Martin Gutzeit und Markus Meckel, die diese alte Partei hier neu gründeten, von „Demokratie Jetzt“, dem „Demokratischen Aufbruch“ und der „Initiative für Frieden und Menschenrechte“ Rainer Eppelmann, Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß, Wolfgang Templin, Gerd und Ulrike Poppe, Marianne Birthler. Wie viele wären noch zu nennen!

Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer danken wir auch den Politikern, die daran mitgewirkt haben. Ich möchte Helmut Kohl, George Bush und Michail Gorbatschow auch ein ganz spezielles persönliches Dankeswort sagen. Aber mein Dank gilt vor allem anderen Akteuren, eben jenen, die den Regierenden in der DDR so viel Druck machten, daß deren Mauern nicht mehr standhielten: den vielen Unbekannten in Plauen, Potsdam, Guben, Görlitz, Arnstadt, Erfurt, Halle, Magdeburg, Leipzig, Dresden, Schwerin, Neubrandenburg, Greifswald, Bautzen und auch in Berlin. Ich kann und will nicht alle Akteure von einst vertreten; zu vielgestaltig war das Spektrum. Aber als einer von ihnen, der 1989 in Rostock aktiv war, möchte ich an sie alle erinnern - mit großem Ernst und tiefem Dank. Ohne sie hätte sich unser Land nicht verändert und nicht geöffnet.

Die Sehnsucht nach Freiheit und Recht hat die Angst dieser Menschen schrittweise besiegt. Beim Gorbatschow-Besuch Anfang Oktober konnte man in Berlin und anderswo noch die Rufe hören: „Gorbi, hilf!“ - Appelle derer, die sich nur vorstellen konnten, daß Hilfe von oben kommen müsse. Aber schon kurz danach riefen oft dieselben Menschen: „Wir sind das Volk!“. So sprachen schon Bürger, jedenfalls solche, die Bürger werden wollten. Es ist unbeschreiblich, was in einem vorgeht, der sich ein ganzes Leben lang nach Freiheit gesehnt hat und der dann zum erstenmal in seiner eigenen Stadt mit seinen eigenen ängstlichen Landsleuten auf die Straße geht: Ich bin da, ich finde meine Würde wieder, ich bin wertvoll, ich bin nicht länger Gefangener meiner ständigen Begleiterin Angst; ich kann aufstehen. In der Heiligen Schrift der Christen gibt es eine wunderbare Geschichte: Ein Gelähmter wird zu Jesus gebracht; der schaut dem Kranken in die Augen und spricht ihm in seine Seele: „Steh auf, nimm dein Bett und wandle.“

Die Herbstrevolutionäre von 1989 wissen, was dieser Text im Politischen bedeutet. Als sie durch den Atem der Freiheit ermutigt waren, konnten sie im frühen Dezember die Zwingburgen der Geheimpolizei besetzen und der allmächtigen Partei ihre Macht aberkennen - ein Traum vom Leben. Und ganz unerwartet wirklich. Ganz sicher haben wir dabei von den Erfahrungen der Polen gezehrt - der Herr Präsident des Hauses hat daran erinnert -, die zehn Jahre vor uns aufgestanden waren, weit mehr riskiert und schließlich gewonnen hatten. Ich freue mich besonders über die Anwesenheit von zwei Außenministern des neuen Polen, Herrn Professor Skubiszewski und Herrn Professor Geremek.

Liebe Landsleute und Gäste, wir alle haben gemerkt, daß die Deutschen in diesen Tagen nicht unbeschwert feiern. Manchmal gibt es gerade bei denen, die damals aktiv waren, Trauer und Wehmut, weil sie auch etwas verloren haben, nämlich die Aufbruchstimmung dieser so hektischen, lebendigen Zeit des heißen Herbstes 1989. Dieses Laboratorium der Politik, das damals entstand, hatte etwas so Lebendiges und Anrührendes: Basisgruppen in den Städten. Recht, Verfassung, Bildung, Kultur, Wahlrecht, Verwaltung, Justiz: Alles sollte neu erfunden werden, bei manchen auch die Wirtschaft, denn sie suchten nach dem sogenannten dritten Weg. Überall Aktivität der Inaktiven und Engagement der lange Entmündigten. Da mochtet ihr vom Westen lange ulken: Freunde, das Rad ist doch schon erfunden, mochtet „rührend“ finden, was sich unter uns vollzog. Es war aber traumhaft für jeden, der mittat, und riß selbst viele SED-Genossen mit: Es war ein Traum vom Leben und ganz wirklich!

Wenn wir aber aus der nostalgischen Rückschau über den Verlust dieses Zustandes heraustreten, erkennen wir zweierlei, einmal etwas Vergängliches: Der schöne Frühling währt auch in der Politik nicht lange. Und auch etwas Bleibendes: Nicht in dem, was in dieser Zeit in den Bewegungen und Basisgruppen erfunden wurde, lag das Neue; das Neue waren der Anspruch und die Haltungen derer, die in der Regel zum erstenmal in ihrem Leben politisch aktiv wurden. Als wir damals sagten „Wir sind das Volk“, knüpften wir an jene Tradition von Aufbegehrenden an, die einst in Frankreich Liberté, Egalité, Fraternité gefordert und sich in der Verfassung der Vereinigten Staaten selbstbewußt zum Souverän erhoben hatten mit dem Satz: „We, the people ...“. Wir waren nicht länger Objekt der Politik, sondern begannen selber zu gestalten. Wir ermächtigten uns, indem wir an unsere neue Rolle glaubten und sie annahmen. Manche lernten dabei, Bürgermeister zu sein, andere Abgeordnete und einige gar Minister. Laienspieler wurden diese ersten Aktiven von Beobachtern aus dem Westen, liebe Bayern, und aus dem Osten, liebe Berliner, gerne genannt. Wer damals mittat, weiß: Ein schönes Laienspiel war das.

Hätte es doch länger gedauert, daß die Laien in der Politik mitspielten, und, so setzen wir hinzu, käme es doch auch jetzt häufiger vor, daß ganz normale Mitbürger mitspielen!

Die Zeit, die uns damals verblieb, um zu experimentieren und die eigenen Kräfte zu erproben, war im Unterschied zu der unserer Nachbarländer in Mittelosteuropa außerordentlich kurz. Nach der Einheit waren wir wieder Lehrlinge. Viele fühlten sich fremd im eigenen Land. Sicher erklärt sich ihre Bitterkeit auch aus neu erfahrener Hilflosigkeit und Enttäuschung. Sie hatten vom Paradies geträumt und wachten in Nordrhein-Westfalen auf.

Befreiung war also der erste Schritt. Der Wunsch nach Einheit stand in der ersten Zeit nicht im Vordergrund, und gerade die Bürgerrechtler waren spät dran mit dieser Erkenntnis. Es waren Intuition und Ungeduld des Volkes, die aus dem „Wir sind das Volk“ das „Wir sind ein Volk“ machten. Der erste Satz hatte uns die Würde zurückgegeben. Der zweite ließ nicht nur die lange verschüttete Sehnsucht nach der Einheit der Nation aller Deutschen wieder aufleben, er gab uns den Realismus, er enthielt die Weisheit des nächsten Schrittes: Nicht eine neu zu erfindende Demokratie war die Hoffnung der Massen, sondern die real existierende Demokratie vom Rhein.

Uns Deutschen in West wie Ost war die Perspektive der Einheit ja fast gänzlich abhanden gekommen. Haben wir nicht geradezu herablassend über Ronald Reagan gelächelt, als er dem sowjetischen Staatschef vor dem Brandenburger Tor über die Mauer hinweg seine berühmten Worte zuraunte: „Please, Mr. Gorbatschow ...“? An dieser Stelle sei auch an jene erinnert - der Herr Präsident hat es schon getan -, die nicht auf eine ferne Einheit warten wollten und einzeln ihren Weg ins Freie suchten: Ausreiser und Flüchtlinge. An sie zu denken heißt auch, sich derer zu erinnern, die ihren persönlichen Traum von der Freiheit mit dem Leben bezahlt haben. Beschämt denke ich manchmal daran, daß auch wir dagebliebenen Oppositionellen den Freiheitswillen der Weggehenden nicht richtig würdigen konnten. Tatsächlich hatten sie aber die individuelle Selbstbestimmung im Leben lange vor anderen umgesetzt.

Ich habe dankbar vernommen, daß mein Vorredner bereits die Toten des DDR-Grenzregimes gewürdigt hat. Wir denken in dieser Stunde auch an all die anderen, die die Tage der Befreiung und der Freude über die Einheit nicht mehr erleben konnten. Ich schließe die Aufständischen, Frauen und Männer, des 17. Juni hier ausdrücklich ein.

Gerade an diesem schönen 9. November war es mir wichtig, daran zu erinnern, daß vor der Einheit die Freiheit unser Thema war. Wir machen uns diese politische Erfahrung als etwas besonders Kostbares bewußt, eben weil diese Nation eine so lange Tradition der Unterdrückung hat: fürstlich, absolutistisch, kaiserlich, diktatorisch.

Ebenso vielfältig war die politische Ohnmacht der Untertanen. Wie spärlich ist in dieser Nation die Tradition von Selbstbestimmung und Freiheitsrevolution! Tatsächlich haben die Ostdeutschen mir ihrer - freilich kurzen  - Revolution nicht nur sich selbst, sondern allen Deutschen ein historisches Geschenk gemacht. Wir alle gehören nun zur Familie der Völker, die durch Freiheitsrevolutionen gekennzeichnet sind, und haben für unsere niederländischen, französischen, polnischen und tschechischen Nachbarn ein besseres, vertrauenswürdigeres Gesicht.

Das, liebe Landsleute im Westen, ist das Geschenk der Ostdeutschen an euch. Gerade angesichts unserer 56jährigen politischen Ohnmacht in Nationalsozialismus und Herrschaftskommunismus erstrahlt der Mut der Widerständigen von 1989 um so heller. Trotz aller Erblasten der Diktaturen können wir euch im Westen nunmehr auf Augenhöhe begegnen - zwar ärmer, aber nicht als Gebrochene und ganz bestimmt nicht als Bettler.

Aber gleichzeitig, liebe Landsleute im Osten, gibt es auch ein Geschenk der Westdeutschen an uns; es ist nicht in erster Linie materiell. Aus Nazi-Untertanen und Nostalgikern der Nachkriegszeit sind Demokraten geworden, wohl auch, weil die Generation der Söhne und Töchter 1968 so unbequem nach Schuld und Verantwortung fragte. Eine zivile Gesellschaft ist entstanden. Mit der Einheit haben auch wir Anteil an diesen Erfahrungen. 40 Jahre Freiheit und Demokratie und Frieden hatte die deutsche Nation in ihrer Geschichte bis dahin noch nicht erlebt.

Die Menschen dieser Nation haben sich also gegenseitig beschenkt. Hoffentlich können wir, wenn wir uns in 10 Jahren erneut hier treffen, dieses Geschenk bewußter und freudiger annehmen.