Rede von Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler a. D.
Herr Bundestagspräsident!
Meine Damen und Herren Abgeordneten!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Exzellenzen!
Lieber Herr Präsident George Bush!
Lieber Herr Präsident Michail Gorbatschow!
Zehn Jahre sind nun seit den bewegenden Bildern vergangen, Bildern der Freude und des Glücks der Deutschen über den Fall der Mauer, über die Beendigung der gewaltsamen Trennung unserer geteilten Nation, Bildern, die von hier aus, von Berlin, um die Welt gingen. Diese Bilder bezeugten, daß die Mehrheit der Deutschen in Ost und West auch nach vier Jahrzehnten nicht bereit war, die Teilung unseres Vaterlandes als endgültiges Urteil der Geschichte hinzunehmen.
Die Bilder erzählen auch die Geschichte eines Triumphs der Freiheit. Möglich wurden diese Bilder nicht zuletzt durch den Mut und die Kraft der Menschen, die sich überall in den Städten und Gemeinden der damaligen DDR gegen die Diktatur erhoben. Sie haben sich nicht durch Drohungen und Gewalt einschüchtern lassen; sie haben friedlich demonstriert, bis Mauer und Diktatur fielen.
Die Männer und Frauen, ob in Leipzig, Ostberlin, Dresden oder an einem anderen der vielen Orte der damaligen DDR, traten für die Freiheit, für die Herrschaft des Rechts und für die Achtung der Menschenwürde ein. Diese Sehnsucht nach den uns verbindenden Werten hat sich über Jahrzehnte in den Ländern des ehemaligen Ostblocks erhalten.
Ich denke in dieser Stunde mit besonderer Dankbarkeit an unsere Freunde in Ungarn.
Ich denke ebenso an das Jahr 1956 wie an jenen Sommer 1989, als die Grenze zwischen Ungarn und Österreich fiel.
Ich denke an unsere Freunde in Prag, an den Prager Frühling des Jahres 1968, aber auch an vieles, was von dort als Botschaft um die Welt ging.
Ich denke mit ganz besonderer Herzlichkeit an unsere Freunde in Polen, an den Kampf der Solidarnosc, an jene Männer und Frauen, die - wie die Männer und Frauen damals, vor weit über 100 Jahren, auf dem Hambacher Schloss beim Hambacher Fest - gesungen haben: „Noch ist Polen nicht verloren.“ – Diese Botschaft ging damals um die Welt und später auch wieder.
Wir erinnern uns in Dankbarkeit und Anerkennung - es war gut, daß dies heute in einer so menschlich bewegenden Weise hier auch vom Pult aus gesagt wurde - an die vielen Männer und Frauen, an die Bürgerrechtsbewegung, die für Menschenrechte und Demokratie gelebt, gekämpft und gelitten haben.
Ihr Mut und ihre Taten sind ein wesentlicher Bestandteil deutscher Geschichte.
Im Jahr 1989 riefen die Demonstranten, wenige Schritte von hier entfernt, Ihnen, Michail Gorbatschow, zu. Sie hatten Vertrauen zu Ihnen; denn Sie waren der, die mit seinem neuen Denken und der Perestrojka die Wende der sowjetischen Politik begründete - eine Wende, die auch eine neue Zukunft für die Völker der Sowjetunion bedeutete. Ihre Politik, Michail Gorbatschow, verhalf auch den Reformbewegungen in allen Ländern des damaligen Warschauer Paktes zum Sieg.
Ich habe es gestern gesagt, und ich wiederhole es: Nach einem Telefonat mit Ministerpräsident Nemeth, in dem wir letzte Gespräche über die Öffnung der Grenze führten, fragte ich Sie telefonisch: „Was halten Sie von dieser Regierung?“ Sie sagten ganz knapp und prägnant: „Das sind gute Leute.“ - Da wußten wir: Die Grenze geht auf.
Ihr Name ist untrennbar mit dem Ende des kalten Krieges und des Rüstungswettlaufes verbunden. Ohne Ihr Wirken und - das muß man hinzufügen - das Ihrer Mitstreiter in Moskau wäre die friedliche Revolution in der DDR nicht denkbar gewesen. Ich danke Ihnen ganz herzlich, daß Sie hier heute zu uns gesprochen haben und wie Sie zu uns gesprochen haben: als ein Freund unseres Volkes. Ich sage das mit großer Dankbarkeit, und ich füge ganz persönlich hinzu: Wir erinnern uns in dieser Stunde an Ihre Gattin Raissa Gorbatschowa, die Sie in diesen Jahren herzlich begleitet und uns viel geholfen hat.
An dem Abend morgen vor zehn Jahren ließen Sie mir die Frage zukommen, ob die Gefahr bestehe, daß diese friedliche Demonstration überbordet, ob Einheiten und Einrichtungen der Roten Armee gefährdet seien. Wir wissen heute ziemlich sicher, daß diese Gefahr bestand, daß es Kräfte gab - in Ostberlin wie auch in Moskau -, die es gerne gesehen hätten, wenn die Vorkommnisse an jene erinnert hätten, die in Berlin vor Jahrzehnten, 1953, stattgefunden haben. Sie sagten damals, Sie vertrauten uns. Unsere und meine Botschaft, daß mit den Rufen der Menschen auf den Straßen „Wir sind das Volk!“ und „Wir sind ein Volk!“ die Sehnsucht nach Frieden und Freiheit deutlich werde, haben Sie verstanden - weil das neue Denken unterwegs war. Das hat uns in einer der kritischsten Stunden unserer Geschichte geholfen. Die Soldaten blieben in ihren Kasernen, und die dramatischen Veränderungen, die zur deutschen Einheit führten, nahmen ihren Fortgang. Dies war und bleibt eine der entscheidenden Voraussetzungen dafür, daß wir Deutsche die Einheit gewinnen konnten.
Unsere wichtigsten Weggenossen waren dabei unsere amerikanischen Freunde und Verbündeten, allen voran der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika George Bush.
Lieber George, ich bin froh, daß du hier bist, und ich bin besonders froh, daß die Stadt Berlin, unsere Hauptstadt, dich mit dem Ehrenbürgerrecht ausgezeichnet hat. Das ist eine Auszeichnung für dich, aber auch eine Auszeichnung für Berlin und für uns alle in Deutschland.
Als Amerikaner, von den großen Ideen der Freiheit und Selbstbestimmung ganz selbstverständlich überzeugt, stand George Bush immer zu seiner Überzeugung, daß ein freies und souveränes Deutschland ein wiedervereinigtes Deutschland sein müsse. Durch Ihr persönliches Engagement für die Sache der Deutschen war es möglich, viele andere, die Probleme mit dieser historischen Entwicklung hatten, zu überzeugen. Ich sage es in einem Satz, George: Für uns Deutsche war und ist der Präsident George Bush ein Glücksfall.
In der unglaublich kurzen Zeit von knapp elf Monaten wurde die deutsche Einheit Wirklichkeit. Viele andere - ich nenne noch einmal die ungarische Regierung, die im Sommer 1989 die Grenze öffnete - hatten Anteil an unserem Erfolg. Die Vision, meine Damen und Herren, liebe Landsleute, und der Traum, das in der Präambel des Grundgesetzes verankerte Ziel, in „freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, wurde am 3. Oktober 1990 erreicht. Ich denke, es ist gut, wenn wir uns - bei aller Dankbarkeit - daran erinnern, daß dies gelegentlich auch bei uns, im Westen unseres Vaterlandes, durch die Jahre hindurch langsam zu einer bloßen Formel geriet. Dann wurde es Wirklichkeit, und dafür haben wir zu danken.
Es geschah mit Zustimmung all unserer Nachbarn. Vergleichbares hat es in der europäischen Geschichte nie gegeben. Nach all dem, was auch an einem Tag wie dem heutigen nachklingt, war auch nicht zu erwarten, daß Vergleichbares gerade den Deutschen zuteil werden wird.
Daß wir dieses Ziel erreicht haben - auch dies gehört in diesen Saal, in diese Stunde -, verdanken wir auch der Arbeit derer, die in den Jahrzehnten der Geschichte der alten Bundesrepublik politische Verantwortung getragen haben. Ich nenne hier alle meine Amtsvorgänger - Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt und Helmut Schmidt -, ich nenne auch ausdrücklich die erste frei gewählte Regierung der DDR und Ministerpräsident Lothar de Maizière.
Wir Deutsche haben nach den großen Katastrophen zweier Weltkriege und den schlimmen Taten, die in deutschem Namen vielen Menschen angetan wurden, am Ende dieses Jahrhunderts großes Glück erfahren. Ich denke, wir sollten die Einheit daher als ein Geschenk und als eine Chance für die Zukunft begreifen und bei allen Sorgen des Tages - die berechtigt sind - nicht in Kleinmut verharren.
Das Geschenk der Einheit verpflichtet uns, so sehe ich es, immer wieder, den Bau des Hauses Europa mit kräftigen Schritten voranzutreiben. Denn ohne diesen Weg nach Europa wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Ohne die Politik der europäischen Integration, der Aussöhnung mit unseren Nachbarn und der Abkehr von nationalstaatlicher Machtpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts hätte es keine deutsche Einheit gegeben und - was noch wichtiger ist für die Zukunft - gäbe es keine friedliche Zukunft für Deutschland in Europa.
Für ein Land im Herzen Europas mit 80 Millionen Einwohnern und mit einer beachtlichen wirtschaftlichen Stärke ist es entscheidend, daß wir unseren Nachbarn und Freunden mit Offenheit und Sensibilität begegnen. Wenn wir in wenigen Wochen in das neue Jahrhundert gehen, sollten wir diese wichtige, entscheidende Erfahrung mit hinüber nehmen.
Wir müssen uns bewußt sein, daß es für uns niemals eine Rückkehr in die Enge eines nationalstaatlichen Denkens geben darf.
Das ist keine Abkehr vom gelebten deutschen Patriotismus. Wir werden unsere Identität als Nation in Europa nicht aufgeben. Thomas Mann hat es, wie ich denke, zeitlos so formuliert: „Wir sind deutsche Europäer und europäische Deutsche.“
Deshalb ist es wichtig, daß wir immer wieder daran denken, daß die einzigartige Freundschaft mit unseren französischen Nachbarn von uns allen gepflegt wird.
Wichtig ist auch - das muß von uns immer wieder neu bedacht werden -, daß uns genauso, wie die Aussöhnung mit Frankreich möglich war, die Freundschaft und Partnerschaft mit unseren polnischen Nachbarn gelingen möge. Polen ist für uns genauso ein Teil des Hauses Europa wie Frankreich und Deutschland.
Gerade auch in Anwesenheit von Michail Gorbatschow möchte ich sagen: Zu einer glücklichen Zukunft unseres alten Kontinents gehören auch stabile wirtschaftliche und politische Verhältnisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
Ich appelliere deshalb an alle Verantwortlichen, aber nicht nur an andere, sondern insbesondere an uns selbst, an die Mitglieder dieses Hohen Hauses, daß wir in unserer Unterstützung für Rußland, die Ukraine und die übrigen Staaten, die damals die Sowjetunion bildeten, nicht nachlassen. Wer
jetzt hilft, der hilft bei einer Investition in die Zukunft Europas. Das dürfen wir gerade an einem solchen Tag nicht vergessen.
Und lassen Sie uns weiterhin die über Jahrzehnte bewährte transatlantische Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten pflegen. Sie ist ein hohes Gut, George Bush, und eine wichtige Voraussetzung für Frieden und Freiheit in Europa.
Meine Damen und Herren, dies sind wichtige Aufgaben für uns Deutsche im neuen Jahrhundert. Es liegt jetzt auch an uns, daß es ein Jahrhundert des Friedens und der Freiheit, der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen den Völkern wird. Das ist die Botschaft der Geschichte an diesem Tag, der in die Geschichte unseres Volkes eingeht als einer der ganz großen Tage der Freude und der Dankbarkeit. Das Wort „Dankbarkeit“ möchte ich dabei noch einmal unterstreichen.