Geschichte

Vor 90 Jahren: Reichstag billigt „Ermächtigungsgesetz“

Einmarsch SA in Reichstag / 23.3.1933 Zweite Sitzung des neuen Reichstages, 23. März 1933 / Abstimmung über das 'Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich' (sog. Ermächtigungsgesetz). - Einmarsch von SA- und SS-Männern in den Reichstag (Kroll-Oper) zur Einschüchterung der Abgeordneten der Opposition.

Einschüchterung der Opposition: Einmarsch von SA- und SS-Männern in die provisorisch zum Sitzungssaal hergerichtete Kroll-Oper. (© picture alliance / akg-images)

Vor 90 Jahren, am 23. März 1933, verabschiedete der Reichstag in der Berliner Kroll-Oper das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das sogenannte Ermächtigungsgesetz. Mit der Verabschiedung des Gesetzentwurfes der Fraktionen NSDAP und DNVP vom 21. März 1933 übertrug das Parlament der Regierung des Deutschen Reiches unter Reichskanzler Adolf Hitler (1889-1945) nahezu unbeschränkte Befugnisse zum Erlass von Gesetzen ohne parlamentarische Zustimmung, Kontrolle oder Einspruchsmöglichkeit.

Die Reichsregierung konnte damit ohne Zustimmung des weiterhin bestehenden Reichstages oder des Reichsrates und ohne Gegenzeichnung durch den Reichspräsidenten Gesetze erlassen oder Verträge mit anderen Staaten schließen. Selbst Gesetze, die von der Weimarer Reichsverfassung abwichen, konnten danach von der Reichsregierung verabschiedet werden. Im Gesetz „zur Behebung der Not von Volk und Reich“, das aus lediglich fünf Artikeln bestand, heißt es dazu „Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden. (...) Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen.“

Abstimmung in der Kroll-Oper

Nachdem der Plenarsaal des Reichstagsgebäudes seit dem Brand in der Nacht des 27. Februar 1933 zerstört war, hatte man den Großen Theatersaal des Operngebäudes zum provisorischen Sitzungssaal umfunktioniert. Die Absperrung vor der Kroll-Oper hatte die SS übernommen. Im Innern des provisorischen Parlamentsgebäudes sorgten bewaffnete Angehörige der sogenannten Sturmabteilung (SA), einer Unterabteilung der NSDAP, für den „Saalschutz“. Parlamentarier der Opposition, allen voran die Sozialdemokraten, wurden beleidigt und eingeschüchtert.

Die gesamte Szenerie der Sitzung wurde von den Farben und Symbolen der Nationalsozialisten dominiert. Hinter dem Gestühl des Reichstagspräsidiums war an der Stirnwand der Oper eine große Hakenkreuzfahne gespannt. Rechts und links davon hing als Zugeständnis an den Koalitionspartner, DNVP-Fraktion, die schwarz-weiß-rote Fahne des Kaiserreiches. Der Reichskanzler und Vorsitzende der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), Adolf Hitler, erschien in brauner Uniform und nicht im typischen dreiteiligen Anzug der Weimarer Republik mit schwarz-grau gestreifter Hose, Weste, Cut, und Zylinder.

Verfassungsändernde Zweitdrittelmehrheit notwendig

Für die Verabschiedung des Gesetzes war nicht nur eine verfassungsändernde Zweitdrittelmehrheit, sondern auch die Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Reichstagsabgeordneten zur Abstimmung nötig. Um die benötigten Voraussetzungen sicherzustellen, waren die in der Reichstagswahl vom 5. März 1933 von der Kommunistischen Partei Deutschlands erlangten 81 Mandate auf Grundlage der am 28. Februar 1933 von Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847-1934) erlassenen „Reichstagsbrandverordnung“ annulliert worden. Viele ihrer Mitglieder waren bereits verhaftet oder geflohen. Auch 26 Abgeordnete der SPD konnten nicht an der Abstimmung teilnehmen. Sie befanden sich in sogenannter „Schutzhaft“ oder waren ebenfalls vor drohender Verfolgung geflohen. Ein Abgeordneter lag im Krankenhaus, nachdem ihn SS- und SA-Männer zusammengeschlagen hatten.

Um die notwendigen Abstimmungsverhältnisse auch wirklich sicher herzustellen, war zu Beginn der Sitzung die Geschäftsordnung geändert worden. Unentschuldigt fehlende Abgeordnete konnten nun als anwesend gelten. Gemeinsam mit dem Koalitionspartner verfügte die NSDAP mit 288 und 52 Sitzen zwar über eine stabile Mehrheit im Reichstag, für eine verfassungsändernde Mehrheit war sie auf die Unterstützung der Zentrumspartei angewiesen.

Erklärung des Reichskanzlers

In einer als Regierungserklärung angelegten Rede warb Adolf Hitler am Nachmittag des 23. März vor den Abgeordneten für die Annahme des „Ermächtigungsgesetzes“. In seiner Rede betonte er die angebliche wirtschaftspolitische Zielrichtung des Gesetzes: „Das Programm des Wiederaufbaus von Volk und Reich ergibt sich aus der Größe der Not unseres politischen, moralischen und wirtschaftlichen Lebens.“ In Bezug auf den Fortbestand der obersten Verfassungsorgane und der Länder machte er abschließend weitgehende Zusagen: „Die Regierung beabsichtigt dabei, von diesem Gesetz nur insoweit Gebrauch zu machen, als es zur Durchführung der lebensnotwendigen Maßnahmen erforderlich ist. Weder die Existenz des Reichstags noch des Reichsrats soll dadurch bedroht sein. Die Stellung und die Rechte des Herrn Reichspräsidenten bleiben unberührt, die innere Übereinstimmung mit seinem Willen herbeizuführen, wird stets die oberste Aufgabe der Regierung sein. Der Bestand der Länder wird nicht beseitigt, die Rechte der Kirchen werden nicht geschmälert, ihre Stellung zum Staate nicht geändert.

Da die Regierung an sich über eine klare Mehrheit verfügt, ist die Zahl der Fälle, in denen eine innere Notwendigkeit vorliegt, zu einem solchen Gesetz die Zuflucht zu nehmen, an sich eine begrenzte. Umso mehr aber besteht die Regierung der nationalen Erhebung auf der Verabschiedung dieses Gesetzes. Sie zieht in jedem Falle eine klare Entscheidung vor. Sie bietet den Parteien des Reichstags die Möglichkeit einer ruhigen deutschen Entwicklung und einer sich daraus in der Zukunft anbahnenden Verständigung sie ist aber ebenso entschlossen und bereit, die Bekundung der Ablehnung und damit die Ansage des Widerstands entgegenzunehmen. Mögen Sie, meine Herren, nunmehr selbst die Entscheidung treffen über Frieden oder Krieg.“

Gegenrede des Vorsitzenden der Sozialdemokraten

Viele Parlamentarier glaubten Hitlers Worten, andere waren eingeschüchtert. Otto Wels (1873-1939), Vorsitzender der Sozialdemokraten, hielt eine mutige Gegenrede. Die Ablehnung des „Ermächtigungsgesetzes“ verknüpfte er mit einem leidenschaftlichen Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie: „Die Wahlen vom 5. März haben den Regierungsparteien die Mehrheit gebracht und damit die Möglichkeit gegeben, streng nach Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren. Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht. Kritik ist heilsam und notwendig. Noch niemals, seit es einen deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muss sich umso schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt.“

„Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.“ Uneingeschüchtert vom Terror der Nationalsozialisten sagte er: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“ Mutig erwähnte er die bereits verhafteten Oppositionellen: „Wir grüßen die Verfolgten und Bedrängten.“

Diese Gegenrede konnte Hitler nicht unerwidert stehen lassen und redete sich in Rage. „Und verwechseln Sie uns nicht mit einer bürgerlichen Welt! Sie meinen, dass Ihr Stern wieder aufgehen könnte! Meine Herren, der Stern Deutschlands wird aufgehen und Ihrer wird sinken.“ Er wurde deutlich: „Auch Ihre Stunde hat geschlagen, und nur weil wir Deutschland sehen und seine Not und die Notwendigkeiten des nationalen Lebens, appellieren wir in dieser Stunde an den Deutschen Reichstag, uns zu genehmigen, was wir auch ohnedem hätten nehmen können.“

Annahme des Gesetzes gegen die Stimmen der SPD

Trotz dieser deutlichen Worte und des Aufzeigens der Folgen, die die Verabschiedung des Gesetzes haben würde, stimmten nur die 94 anwesenden Abgeordneten der SPD gegen die Vorlage, alle anderen 444 Abgeordneten der NSDAP, der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), des Zentrums, der Bayerischen Volkspartei, der Deutschen Staatspartei, des Volksdienstes, der Deutschen Bauernpartei sowie der Deutschen Volkspartei votierten dafür.

Damit wäre die verfassungsändernde Mehrheit auch ohne die Annullierung der KPD-Mandate erreicht worden. Der Vorsitzende der katholischen Zentrumspartei, Dr. Ludwig Kaas (1881-1952), unterstützte die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes über alle parteipolitischen und sonstigen Bedenken hinweg mit viel Pathos: „Ihr Gesetz, ihr einziges, ihr beherrschendes Gesetz ist das der raschen, bewahrenden, aufbauenden und rettenden Tat.“

Ende der Weimarer Demokratie

Mit seinen größtenteils nicht eingelösten Versprechungen war es Adolf Hitler gelungen, die Unterstützung des Zentrums und damit die nötige parlamentarische Mehrheit zu erhalten.

Bereits am 31. März 1933 verabschiedete die Regierung das Gesetz über die Gleichschaltung der Länder, deren Selbständigkeit damit aufgegeben und durch einen strikten Zentralismus ersetzt wurde. Zehn Monate später hob das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches“ die Länderparlamente auf. Am 14. Februar 1934 folgte die Auflösung des Reichsrates, der Ländervertretung auf Reichsebene.

Am 17. Mai 1933 kam der Reichstag zu seiner letzten Sitzung als Mehrparteienparlament zusammen. Am 22. Juni 1933 folgte das Verbot der SPD, die Selbstauflösung aller bürgerlichen Parteien und das „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“ vom 14. Juli 1933, welches als einzige politische Partei die NSDAP zuließ. Zur Reichstagswahl vom 12. November 1933 blieb den Wählern nur noch ein Votum nach Einheitslisten, denen sie entweder uneingeschränkt zustimmen oder sie ablehnen konnten.

Verlängerung des Ermächtigungsgesetzes

Nach dem Tod Hindenburgs am 2. August 1934 wurde Hitler mit dem Gesetz über die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers zum „Führer und Reichskanzler“ ernannt. Damit wurde er oberster Befehlshaber der Wehrmacht, die auf ihn persönlich und nicht mehr auf die Weimarer Verfassung vereidigt wurde.

Nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes trat der Reichstag noch 19 Mal zusammen. Den sieben von ihm verabschiedeten Gesetzen standen 986 Gesetze gegenüber, die durch die Regierung beschlossen wurden. Das „Ermächtigungsgesetz“ war zunächst auf vier Jahre befristet, wurde allerdings jeweils 1937, 1939 und 1943 verlängert. Es blieb bis zur Zerschlagung der Diktatur durch die Alliierten Grundlage der Gesetzgebung und wurde erst durch das „Kontrollratsgesetz Nr. 1“ vom 20. September 1945 der Alliierten aufgehoben. (klz/17.03.2023)

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