Zeit:
Donnerstag, 14. November 2024,
12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal (4.900)
Die ehemalige Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hat am Donnerstag, 14. November 2024, vor dem 1. Untersuchungsausschuss „Afghanistan“ angegeben, dass sie 2021 beim Abzug aus Afghanistan beschlossen habe, die Entscheidungen voranzutreiben. Ihr Hauptziel sei gewesen, „unsere Soldatinnen und Soldaten sicher nach Hause zu bringen.“ Aber auch das Thema Ortskräfte habe sie und die Bundeswehr sehr beschäftigt.
„Ortskräfteverfahren zu komplex und zu langsam“
Kramp-Karrenbauer wurde vom 1. Untersuchungsausschuss als Zeugin vernommen. Der Ausschuss untersucht die Ereignisse zwischen der Unterzeichnung des Doha-Abkommens Ende Februar 2020 durch die USA und die Taliban, mit dem der Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan geregelt wurde, und der chaotischen militärischen Evakuierungsmission Mitte August 2021.
Die Ex-Ministerin äußerte sich kritisch über das Doha-Abkommen wegen des festen Abzugsdatums und der „relativ schwach formulierten Bedingungen“ für die Taliban und bezeichnete das Ortskräfteverfahren (OKV) als „zu komplex und zu langsam.“ Die Abzugsdebatte habe zum Jahreswechsel begonnen, erläuterte sie, und sei hochkompliziert gewesen, weil es nicht nur die Bundeswehr betroffen habe, sondern auch mit der Nato koordiniert werden musste.
„Bundeswehr hat komplexen Auftrag gemeistert“
Erschwert worden sei die Evakuierung durch die knappe Zeit, die dafür zur Verfügung gestanden habe, so Kramp-Karrenbauer. „Ich kann heute feststellen, dass die Bundeswehr diesen komplexen Auftrag gemeistert hat“, sagte sie. Die gute Nachricht sei, „bei allem, was wir über die Bundeswehr diskutieren, dass die Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag mit einer guten, richtigen Einstellung erfüllen“.
Die ehemalige Ministerin schilderte sehr ausführlich, wie sich die Lage in den letzten Tagen vor der militärischen Evakuierungsoperation in Berlin entwickelte. Am 12. August habe sie erfahren, dass US-Truppen zum Flughafen Kabul verlegt worden seien. Diese Nachricht habe sie alarmiert, und sie habe darauf gedrängt, eine bereits geplante Krisenstabsitzung vorzuziehen, um eine „robuste Evakuierungsmission“ zu planen.
Keine normale Evakuierungsmission
Außerdem habe sie mit der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und später auch mit den betroffenen Ressorts telefoniert. „Durch diese Gespräche gab es keinerlei Verzögerungen“, beteuerte die ehemalige Spitzenpolitikerin. Am 15. August hätten sich die Ereignisse in Kabul weiter beschleunigt, und die Evakuierungsmission sei ausgelöst worden. Die Soldatinnen und Soldaten seien abgeflogen.
Es sei keine normale Evakuierungsmission gewesen, bei der nur das Botschaftspersonal sowie eine bestimmte Anzahl von deutschen Staatsangehörigen ausgeflogen worden seien. Vielmehr habe sie sich zu einer improvisierten Mission, einer internationalen Luftbrücke unter der Führung der USA, entwickelt. Es seien Tausende Menschen evakuiert worden, deren Land gerade zusammengebrochen war.
„Keine Kameraden zurücklassen“
Das Thema Ortskräfte sei für sie ein emotionales gewesen, sagte Kramp-Karrenbauer. „Es gibt kein anderes Ressort, wo die emotionale Bindung mit den Ortskräften so hoch ist wie beim Bundesministerium der Verteidigung. Für die Soldatinnen und Soldaten ist es wichtig, keine Kameraden zurückzulassen. Es gab eine emotionale Reaktion aller, die in den 20 Jahren in Afghanistan gedient haben.“
Sie habe verfügt, dass sie engmaschig über die Evakuierung der Ortskräfte informiert werde, berichtete die Ex-Ministerin. Das OKV sei ein gut aufgesetztes und überlegtes, aber auch „unglaublich kompliziertes“ Verfahren gewesen. 2021 habe es eine latente Bedrohung für die Ortskräfte gegeben. Im April 2021 habe sie öffentlich gesagt, dass sie der Auffassung sei, dass „wir eine andere Fürsorgepflicht, eine moralische Verpflichtung gegenüber den Ortskräften“ hätten. Das sei „entgegen den Gepflogenheiten gewesen“, gestand sie während der Anhörung, aber es habe funktioniert. Dadurch sei das OKV für die Ortskräfte der Bundeswehr gelockert worden.
„Charterflüge haben nicht stattgefunden“
Viel schwieriger sei es gewesen, den Kreis der Aufnahmeberechtigten zu erweitern, wofür sie sich ebenfalls persönlich eingesetzt habe. „Das geschah durch Kabinettsbeschluss“, erzählte sie. „Der Druck der Bundeskanzlerin und ihr Wort bei anderen Kollegen“ habe das ermöglicht. Im Spätsommer 2021 sei Wahlkampf gewesen, und die öffentliche Debatte über Migration habe in der Diskussion eine große Rolle gespielt.
Die Charterflüge, die sie gefordert und mit Merkels Unterstützung durchgesetzt habe, hätten jedoch letztendlich nicht stattgefunden – aus Sicherheitsbedenken, aber auch deshalb, weil man befürchtet habe, ein falsches Signal zu senden, so Kramp-Karrenbauer. „Gestern habe ich erfahren“, sagte sie vor dem Ausschuss, „dass ein sehr hoher Prozentsatz unserer Ortskräfte Afghanistan verlassen konnte.“ Trotzdem bleibe die Frage, ob nicht weniger hätten zurückgelassen werden müssen, wäre der Kreis der Aufnahmeberechtigten früher erweitert und Charterflüge ermöglicht worden.
Olaf Scholz im Zeugenstand
Im weiteren Verlauf der Sitzung vernahm der Ausschuss Bundeskanzler Olaf Scholz als Zeugen, gefolgt vom ehemaligen Leiter des Ministerbüros im Auswärtigen Amt (AA). Olaf Scholz, nach eigenen Angaben damals „kein zentraler Akteur“ in der Afghanistan-Politik der Bundesregierung, thematisierte generell die Nachrichtendienste weltweit, die nicht voraussagen konnten, wann Kabul fallen würde, sowie die damalige afghanische Regierung, die das Land „kampflos“ den Taliban überlassen habe. Er stellte auch die Idee des „nation building“ infrage.
Er habe nie geglaubt, dass in Afghanistan „mit Hilfe eines militärischen Einsatzes ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland entstehen“ könne. Es habe jedoch viele gegeben, die dies so gesehen hätten. „Am Ende muss ein Demokratisierungsprozess aus dem Land heraus getragen werden“, sagte Scholz. „Die kampflose Aufgabe des Landes ist ein Zeichen dafür, dass dieser Einsatz keinen Erfolg hatte, sondern alle nach ihren eigenen Interessen gehandelt haben. Das müssen wir in Zukunft im Kopf behalten.“
Kosten von rund 17 Milliarden Euro
Scholz, der damals Finanzminister im Kabinett Merkel und Vizekanzler war und deshalb als Zeuge angehört wurde, erklärte, der gesamte Afghanistan-Einsatz habe insgesamt rund 17 Milliarden Euro gekostet. Das sei ungefähr der Betrag, den Deutschland jährlich für die Unterstützung der Ukraine nach dem Angriff Russlands 2022 ausgebe. „Ich wollte die Dimensionen darstellen“, betonte Scholz.
Es sei unübersehbar gewesen, dass es zwischen der damaligen Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und dem damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in der Frage des OKV „Dissens“ gegeben habe. Er selbst sei immer für pragmatische Lösungen gewesen, wie sie auch Kramp-Karrenbauer vorgeschlagen habe, erklärte der Bundeskanzler. Seehofer habe aus Sicherheitsgründen am herkömmlichen OKV festhalten wollen, was er nachvollziehen konnte. „Am Ende war es die pragmatische Lösung“, sagte Scholz, „auch wenn sie nicht sehr früh kam“.
„Das Ergebnis war nicht zufriedenstellend“
Hätte man gewusst, wie schnell die afghanische Regierung zusammenbrechen und die Taliban das Land erobern würden, hätte man die Ortskräfte viel schneller aus dem Land gebracht, glaubt Scholz. Doch alle seien der Meinung gewesen, dass man noch Zeit habe. „Das war falsch, wie wir wissen“, sagte Scholz und fügte hinzu: „Das Ergebnis war nicht zufriedenstellend.“
Befragt zu den Abschiebeflügen, die noch kurz vor der Machtübernahme der Taliban geplant worden waren, erklärte der Bundeskanzler, er sei damals wie heute der Meinung, dass man Straftäter, wenn möglich, auch nach Afghanistan abschieben können müsse.
Lösung für Ortskräfte gesucht
Als letzter Zeuge wurde der ehemalige Leiter des Ministerbüros des damaligen Außenministers Heiko Maas (SPD) angehört. Der Beamte beschrieb sein Verhältnis zu Maas als „gut und vertrauensvoll“. Bis auf die Dokumente der Staatssekretäre seien alle AA-internen Dokumente über seinen Tisch gegangen, erzählte er.
Nach der Unterzeichnung des Doha-Abkommens sei es das Ziel des Ministers gewesen, einen geordneten Übergang zu schaffen, das deutsche Engagement erfolgreich abzuschließen und die in den 20 Jahren zuvor geschaffenen Strukturen sowie die Stabilisierungsarbeit zu erhalten. Nachdem sich die Lage jedoch krisenhaft zugespitzt habe, habe Maas versucht, „eine Lösung für Ortskräfte zu finden, und zwar nicht nur für die Bundeswehr-Ortskräfte“. Für den damaligen Außenminister sei es wichtig gewesen, dass alle Ortskräfte gleichbehandelt würden, so der Zeuge.
Evakuierungsentscheidung am Abend des 15. August
Der Diplomat bestätigte, dass das AA argumentiert habe, man müsse so viele Ortskräfte wie möglich nach Deutschland bringen, und dass dies nur mit einem Verfahren möglich sei, bei dem das Visum an der Grenze ausgestellt werde – dem sogenannten „Visa-on-Arrival“ (VoA). Doch bis zum Ende sei in dieser Frage kein Einvernehmen erzielt worden.
Nach dem Fall Kabuls sei Maas jeden Tag im Ministerium gewesen. „Er war von morgens bis abends im Büro“, sagte der Zeuge. Er habe an allen Krisensitzungen teilgenommen, die täglich stattgefunden hätten. Maas habe am Abend des 15. August entschieden, die Botschaft in Kabul zu evakuieren.
Handlungsfähigkeit sollte erhalten bleiben
Dass diese Entscheidung erst dann getroffen wurde, erklärte der Zeuge mit dem Wunsch, einen Ort zu haben, an dem die Handlungsfähigkeit erhalten bleiben könnte. Es sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt gewesen, dass die Botschaft auch am Flughafen hätte weiterarbeiten können. Nach seiner persönlichen Meinung habe es damals keinen sichereren Ort gegeben, um die Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Der Plan sei gewesen, das Botschaftsgelände als Sammelplatz für die zu evakuierenden Personen zu nutzen und sie dann geschützt zum Flughafen zu fahren.
Auch dieser Zeuge, wie viele andere vor ihm, wies darauf hin, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) selbst in der akuten Krise noch gesagt habe, man habe bis zum 11. September Zeit.
Untersuchungsauftrag
Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.
Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren.
Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/15.11.2024)