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Frank Schwabe: Europarat ist in seiner schwierigsten Phase seit Bestehen

Frank Schwabe (SPD)

Frank Schwabe (SPD) ist Leiter der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates. (© DBT/Thomas Köhler / photothek)

„Der Europarat ist in seiner schwierigsten Phase seit Bestehen“, sagt Frank Schwabe (SPD), Leiter der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PVER), die vom 7. bis 11. April 2025 zu ihrer zweiten Sitzungswoche in Straßburg zusammenkam. Gleichzeitig sei der Europarat, in einer Zeit der Orientierungslosigkeit und des Extremismus, mit seinen Werten Hoffnungsort für hunderte Millionen Menschen in ganz Europa.

Für viele trete er bei der Durchsetzung der gemeinsamen Werte zu leise auf. Im Interview spricht Schwabe über die Lage in Georgien, in Serbien, auf dem Westbalkan, in der Türkei aber auch in der Ukraine. An die Jugend appelliert der SPD-Politiker, angesichts autoritärer Tendenzen wachsam zu bleiben, sich nicht entmutigen zu lassen und die Zukunft Europas in die Hand zu nehmen. Das Interview im Wortlaut:

Herr Schwabe, Massenproteste gegen Regierungen mit autoritärem Habitus oder unter Korruptionsverdacht in Georgien, in Serbien, in der Türkei. Der andauernde Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Die stille Erosion des Rechtsstaates selbst in EU-Ländern, beispielsweise in Ungarn. Menschenrechte sind vielerorts unter Druck. Es gab schon mal ruhigere Zeiten, oder?

Der Europarat ist in seiner schwierigsten Phase seit Bestehen. Und das sage ich mit Bedacht. Die Trumps Europas heißen Vučić, Iwanischwili, Orban, Fico, Le Pen oder auch Weidel. Das ist ein und dieselbe Denke, nämlich: Das Modell einer auf Aufklärung und wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Demokratie infrage zu stellen. Das ist mit den Werten des Europarats von Demokratie und der Achtung von Rechtsstaat und Menschenrechten schlichtweg nicht vereinbar. Der Europarat soll den Staaten Richtung geben. Und er ist dann stark, wenn er konsequent zu seinen Werten steht und sie nicht aufweicht. Er ist mit seinen Werten weiterhin der Hoffnungsort für hunderte Millionen Menschen in Europa. Wenn er von Millionen Demonstrierenden in Tiflis, Belgrad oder Istanbul kritisiert wird, dann ja nicht wegen seiner Werte, sondern weil er in der Vertretung dieser seiner Werte zu leise ist.

Mit der Lage in Georgien haben sich die Delegierten während der zweiten Sitzungswoche in einer Dringlichkeitsdebatte befasst. Kann der Europarat den freiheitswilligen Demonstranten in Tiflis angesichts der irritierenden Einmischung Russlands in die Geschicke des Landes irgendwelche Rettungsinstrumente zuwerfen? 

Wir können keine Länder retten. Wir können nur mahnen, bewerten, aufklären, beobachten und Menschen einen Rechtsschutz bieten, durch das System der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Wir müssen die Autoritäten in Ländern respektieren, aber wir dürfen uns nicht mit ihnen gemein machen, sondern sie da kritisieren, wo sie zu kritisieren sind. Alles andere macht uns unglaubwürdig und entmutigt diejenigen, die für unsere Werte Gesundheit und Leben geben. Und es macht uns da unsichtbar, wo wir mit unseren Werten sichtbar sein müssen.

Die georgische Delegation hat auf eine Teilnahme an der Versammlung verzichtet. Will sich die Führung in Tiflis auf diese Weise den mit der Mitgliedschaft im Europarat verbundenen Verpflichtungen entziehen? 

So sieht es aus. In Georgien sehen wir eine galoppierende autoritäre Entwicklung. Ständig werden neue Gesetze gemacht, die die Zivilgesellschaft weiter einschränken sollen. Täglich entfernt sich Georgien weiter von der Europäischen Union. Wir haben das in einem Beschluss vom Januar heftig kritisiert und mit Konsequenzen gedroht. Es ist aber nichts besser geworden. Im Gegenteil. Deshalb ist Georgien lieber gar nicht angereist.

Welchen Widerhall fanden die Proteste in Serbien und die Lage auf dem Westbalkan in der Versammlung? Dazu war für die Sitzungswoche eine Aktualitätsdebatte beantragt und zu den jüngsten Wahlen in Kosovo ein Bericht vorgestellt worden. 

Mit George Papandreou war einer der erfahrensten Parlamentarier der Berichterstatter. In der Debatte wurde eine große Besorgnis deutlich, weil vor allem ausgehend vom serbischen Präsidenten der Westbalkan in einer gefährlichen Lage ist. Wer Ländergrenzen entlang ethnischer Zugehörigkeiten, insbesondere in Bosnien und Herzegowina, neu ziehen will, öffnet die Büchse der Pandora und befördert weitere Kriege. Das gilt auch für Kosovo. Kosovo ist eine Realität. Und Kosovo funktioniert als Land. Sie haben Wahlen nach guten internationalen Standards abgehalten – mit einem nationalen Pathos, das nicht jedem gefällt, das aber nicht infrage stellt, dass die Wahlen frei und fair waren.

Zum Thema Korruption, gegen die nicht nur in Serbien demonstriert wird, haben Sie einen Bericht vorgelegt: „Respect for the rule of law and the fight against corruption within the Council of Europe“. Welche Botschaft geht von dem Bericht aus?

Wir waren von einem schweren Korruptionsskandal als Europarat selbst erschüttert. Als eine Konsequenz werden die Fälle der ehemaligen Bundestagsabgeordneten Eduard Lintner, Axel Fischer und Karin Strenz seit Monaten vor Gericht in München verhandelt. Es gibt den Verdacht der Bestechlichkeit und der Bestechung durch Aserbaidschan. Allein hier reden wir über rund vier Millionen Euro. So etwas darf es nie wieder geben. Jedenfalls müssen wir dafür alles tun. Der Bericht sorgt dafür, dass alle Abgeordneten eine noch größere Transparenz an den Tag legen müssen. Und es wird strenger geprüft. Und es gibt ein Organ, das im Falle von Verfehlungen einen externen Bericht erstellen kann. Außerdem wird die Funktion eines Generalberichterstatters für Ethik und Antikorruption geschaffen. Vor allem müssen wir aber eine Kultur der Antikorruption etablieren.

Die Türkei hat die Versammlung in den vergangenen Jahren bereits vielfach beschäftigt. Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gerieten dort immer wieder unter Druck, Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wurden nicht umgesetzt. Wie hat die Versammlung nun, nach der Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters und den Massenprotesten gegen Präsident Erdoğan, die Lage der Demokratie und der Menschenrechte in der Türkei bewertet? 

Als höchst schwierig. Die Lage war vorher schon problematisch. Mit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu gibt es aber nochmal eine neue Dimension. Bisher war das ganze Wahlumfeld in der Türkei nicht fair. Keine freien Medien, keine freie Zivilgesellschaft, Druck auf die Opposition. Aber es schien trotzdem möglich, dass bei Wahlen die Opposition gewinnt. So war es ja dann auch bei den letzten Kommunalwahlen. Mit der Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu will Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu offensichtlich denjenigen beiseite räumen, der ihn nach heutiger Lage der Dinge bei den nächsten Wahlen schlagen würde. Die Parlamentarische Versammlung hat das erkannt und seine sofortige und bedingungslose Freilassung gefordert.

Noch 2022, in dem Jahr des russischen Überfalls auf die Ukraine, hat der Europarat einen Wiederaufbauplan für die Ukraine beschlossen, der darauf zielt, die Institutionen des Landes zu stärken und die Grundrechte der Bürger zu schützen, indem er die demokratische Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit unterstützt. Wie steht es um dieses Vorhaben?

Die Ukraine ist seit dem vollständigen russischen Angriffskrieg auf das Land beständiges Thema des Europarats. So auch bei dieser Parlamentarischen Versammlung. Dabei geht es um ein Sondertribunal, um Putin und seine Helfershelfer zur Rechenschaft zu ziehen, ebenso wie um eine Registrierung der Schäden, um Schadensersatz geltend machen zu können. Die Verpflichtungen der Ukraine selbst stehen nicht so sehr im Mittelpunkt. Das ist ja auch schwierig unter Kriegsbedingungen. Wahlen sind grundlegend für eine Demokratie, können unter den aktuellen Bedingungen aber nicht stattfinden.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und die Menschenrechtsverletzungen russischer Streitkräfte sollen von einem internationalen Tribunal juristisch aufgearbeitet, Opfer entschädigt werden. Der Europarat will mit einem Schadensregister zur Dokumentation von Kriegsverbrechen beitragen. Wie weit ist dieses Vorhaben?

Das Schadensregister funktioniert gut. Bereits zehntausende Fälle sind angezeigt. Leider kommen ja täglich neue Fälle dazu. Jetzt geht es darum, aus der Registrierung heraus in eine Entwicklung der Kriterien einer Entschädigung zu kommen. Und in einem weiteren Schritt muss klar werden, woher das Geld kommt, bevor in einem letzten Schritt die praktische Entschädigung folgt.

Im Wahlkampf in Deutschland spielte das Thema Migration eine dominante Rolle. Was kann der Europarat dazu beitragen, damit einerseits Hilfe für Menschen in Not und andererseits eine gesteuerte Zuwanderung mit Zugang von dringend benötigten Fachkräften zum Arbeitsmarkt voneinander getrennt behandelt werden?

Der Europarat ist darüber genauso gespalten wie alle europäischen Gesellschaften. Wir haben aber in einem viel diskutierten Beschluss deutlich gemacht, dass lange entwickelte internationale Standards nicht einfach so über Bord geworfen werden dürfen. Geflüchtete haben Rechte. Zum Beispiel darauf, dass ihr Gesuch geprüft werden muss.

Herr Schwabe, angesichts der vielen Krisenherde, die sich momentan auftun und bei denen vielfach auch der Europarat gefragt ist: Wie schaffen Sie es als Delegationsleiter, aber auch als erfahrener Parlamentarier, Außen- und Europapolitiker, bei Ihrer Arbeit die Orientierung zu behalten? 

Ich spüre diese Verunsicherung, die ja nicht nur Deutschland, sondern viele europäische Staaten erfasst hat, ja auch. Das hat Gründe. In Osteuropa andere als in Westeuropa. Gemeinsam ist, dass alte Zwänge, aber auch alte Gewissheiten weggefallen sind: zu wissen, wer und wo man ist, wie es weitergeht. Im Osten gab es klare Vorgaben, gegen die bei Strafe durch den Staat nicht verstoßen werden durfte. Im Westen waren es eher Zuordnungen in einer an Klassen orientierten Gesellschaft und einem auf das unmittelbare Umfeld bezogenen Lebensumfeld. Das hat eingeengt, aber auch Orientierung gegeben. Das alles zerfällt oder ist zerfallen – verbunden mit mehr Freiheit, aber auch mit Orientierungslosigkeit. Das machen sich Extremisten zunutze, die im Kern unsere Demokratien durch Autokratien ersetzen wollen. Darauf muss man mit Abscheu, aber auch mit Klarheit blicken. Der Kampf ist nicht verloren. Die Mehrheit will, dass wir demokratisch sind, dass alle gleich vor dem Recht sind und dass ihre Rechte vor der Obrigkeit geschützt werden. Darum geht es, darum ringe ich jeden Tag. Und dabei bin ich keineswegs allein.

Wie ermutigen Sie, als Repräsentant einer Organisation, die für grundlegende Werte unseres Lebens in Europa einsteht, die jungen Leute angesichts der schwierigen Lage in vielen Ländern? Geben Sie ein paar Stichworte!

Die Europäische Jugendbildungsstätte Magdeburg wurde gerade für ihre Jugendarbeit ausgezeichnet – für ihre „herausragende Art, sich für Demokratiebildung, Menschenrechte und internationale Kooperation zu engagieren“. Ich trete dafür ein – die alte und die neue Bundesregierung tun das auch –, dass wir der Jugend eine Stimme geben. Diejenigen, die sich im Rahmen des Europarats engagieren, vertreten unsere Werte, klar und ungefiltert, ohne diplomatische Kompromisse. Deshalb eine klare Botschaft für die Jugend: Ihr entscheidet, in welche Richtung sich unser Land und damit auch das Europa des Europarats wendet. Reist in andere Länder, sucht den Austausch, kämpft für eure Reisefreiheit! Lasst sie euch nicht nehmen! Nutzt eure Reichweite in den sozialen Medien! Erzählt die Geschichten eures Engagements für Menschenrechte und Demokratie! Lest Bücher über die Vergangenheit, über die Entstehung des Europarats und darüber, was das mit der deutschen Geschichte zu tun hat. Bleibt wachsam und lasst euch nicht entmutigen! (ll/16.04.2025)

Parlament

Der Gemeinsame Ausschuss und seine Geschäftsordnung

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner. Im Hintergrund (verschwommen) hinter einer Glasscheibe ein Turm des Reichstagsgebäudes mit Deutschlandfahne.

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner ist kraft Amtes Vorsitzende des Gemeinsamen Ausschusses. (© CDU/CSU-Bundestagsfraktion / Michael Wittig)

Zu den ersten Beschlüssen, die der Bundestag in der neuen Wahlperiode gefasst hat, zählt der Beschluss über die Weitergeltung der Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss (21/1). Regelmäßig übernimmt das Parlament in seiner konstituierenden Sitzung nach Bundestagswahlen vier Geschäftsordnungen, die bereits in der vorhergehenden Wahlperiode gültig waren. Neben der Geschäftsordnung für den Bundestag selbst sind das die Geschäftsordnungen für den Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat, die Geschäftsordnung für dringliche Gesetzesvorlagen im Verteidigungsfall nach Artikel 115d des Grundgesetzes – und eben die Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss.

Der Begriff „Gemeinsamer Ausschuss“ führt in die Irre, denn trotz dieser Bezeichnung handelt es sich bei dem Gremium nicht um einen Ausschuss des Bundestages. Vielmehr ist er eine Art Notparlament, das sich zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestages und zu einem Drittel aus Vertretern der Bundesländer zusammensetzt. Der Artikel 53a des Grundgesetzes, der den Gemeinsamen Ausschuss beschreibt, bildet wie die Artikel zum Bundestag und zum Bundesrat einen eigenen Abschnitt in der Gliederung des Grundgesetzes. Der Gemeinsame Ausschuss hat also den Rang eines obersten Bundesorgans.

Feststellung des Verteidigungsfalls

Ins Grundgesetz aufgenommen wurde der Artikel 53a im Zuge der Notstandsgesetze, die vom Bundestag während der ersten Großen Koalition am 30. Mai 1968 verabschiedet wurden (5/1879, 5/2873, 5/2917). Ebenfalls ins Grundgesetz aufgenommen wurde damals der Abschnitt über den Verteidigungsfall (Artikel 115a bis 115l). Im zweiten Absatz des Artikels 115a findet sich dann auch die Regelung, wann der Gemeinsame Ausschuss tätig werden soll: wenn „die Lage“ unabweisbar ein sofortiges Handeln erfordert und einem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder der Bundestag nicht beschlussfähig ist.

In dieser Situation ist es Aufgabe des Gemeinsamen Ausschusses, den Verteidigungsfall festzustellen. Das bedeutet, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Artikel 115a Absatz 1). Die Bundesregierung muss die Feststellung des Verteidigungsfalls beantragen, und beschlossen werden muss sie mit einer Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen, mindestens aber mit der Mehrheit der Mitglieder des Ausschusses. Der Gemeinsame Ausschuss wird nur aktiv, wenn der Bundestag selbst aus den genannten Gründen nicht oder nicht schnell genug handlungsfähig ist. Liegen diese Gründe nicht vor, ist es Aufgabe des Bundestages, den Verteidigungsfall festzustellen.

Bundestag muss verhindert oder beschlussunfähig sein

Bevor der Gemeinsame Ausschuss den Verteidigungsfall feststellen kann, muss er daher etwas anderes feststellen: dass dem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen oder dass dieser nicht beschlussfähig ist. Diese Feststellung muss ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen, mindestens aber mit den Stimmen der Mehrheit der Mitglieder getroffen werden (Artikel 115e).

Der Gemeinsame Ausschuss darf weder das Grundgesetz ändern noch es ganz oder teilweise außer Kraft oder außer Anwendung setzen. Er darf allerdings seine eigene Geschäftsordnung ändern oder im Einzelfall mit Zweidrittelmehrheit davon abweichen – allerdings erst, wenn er zuvor den Verteidigungsfall festgestellt hat.

Erst 33 Mitglieder, jetzt 48 Mitglieder

Ein Jahr nach der Verfassungsänderung, am 2. Juli 1969, verabschiedete der Bundestag eine Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuss, der der Bundesrat am 10. Juli 1969 zustimmte (5/4349, 5/4509). 22 Abgeordnete und elf Ländervertreter sollten den Gemeinsamen Ausschuss bilden (einschließlich Berlins zählte die alte Bundesrepublik elf Bundesländer).

Als nach der deutschen Vereinigung fünf neue Länder hinzukamen, vergrößerte sich der Gemeinsame Ausschuss: Der Bundesrat war nun mit 16 Mitgliedern vertreten, der Bundestag mit 32 Abgeordneten. Insgesamt stieg die Mitgliederzahl also von 33 auf 48. Am 20. Dezember 1990, 18 Tage nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, wurde die Geschäftsordnung in der konstituierenden Sitzung des 12. Deutschen Bundestages entsprechend geändert. Der Bundesrat stimmte der Änderung am 1. März 1991 zu.

Stärkeverhältnis der Fraktionen 

Letztmals geändert wurde die Geschäftsordnung am 27. Mai 1993 mit Zustimmung des Bundesrates am 9. Juli 1993. Zuvor war vorgeschrieben, dass der Gemeinsame Ausschuss von seinem Vorsitzenden mindestens zweimal jährlich zu Informationssitzungen einberufen wird. Nach der Änderung hieß es, dass der Vorsitzende den Gemeinsamen Ausschuss nur dann einberufen muss, wenn der Bundespräsident, der Bundeskanzler oder sechs Mitglieder des Ausschusses es verlangen oder wenn der Bundestag außerstande ist, den Verteidigungsfall festzustellen (Artikel 115a Absatz 2 des Grundgesetzes).

Die 32 Abgeordneten des Bundestages, die dem Ausschuss angehören, setzen sich entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen zusammen. Sie dürfen nicht der Bundesregierung angehören. Das Grundgesetz spricht hier ausdrücklich von „Fraktionen“, obwohl dem Bundestag immer wieder auch fraktionslose Abgeordnete angehört haben und angehören.

Bundestagspräsidentin als Vorsitzende

Demnächst wird der Bundestag festlegen müssen, welche Abgeordneten er in dieser Wahlperiode in den Gemeinsamen Ausschuss entsendet. Dazu werden die Fraktionen Vorschläge vorlegen, über die im Plenum abgestimmt wird. Ein Mitglied steht bereits fest: Bundestagspräsidentin Julia Klöckner wird dem Gemeinsamen Ausschuss kraft Amtes angehören und auch den Vorsitz übernehmen (Paragraf 7 Absatz 1 der Geschäftsordnung). Stellvertretender Vorsitzender wird ein Mitglied des Bundesrates, wobei durchaus mehrere stellvertretende Vorsitzende möglich sind.

Der Gemeinsame Ausschuss tagt nichtöffentlich. Aus der Geschäftsordnung des Bundestages übernommen wurde die Möglichkeit, dass Abgeordnete, die dem Ausschuss nicht angehören, als Zuhörer an den Sitzungen teilnehmen können – es sei denn, der Bundestag beschließt bei der Einsetzung der Ausschüsse, das Zutrittsrecht auf die ordentlichen Mitglieder und deren Stellvertreter zu beschränken.

Kanzlerwahl durch den Gemeinsamen Ausschuss

Dagegen ist der Bundespräsident berechtigt, an allen Sitzungen teilzunehmen. Anwesend sein dürfen auch die Mitglieder der Bundesregierung, ja, sie können sogar dazu verpflichtet werden, wenn der Ausschuss dies verlangt. An geheimen Beratungen des Ausschusses sowie an den Informationssitzungen dürfen dagegen nur die ordentlichen Mitglieder und deren Stellvertreter teilnehmen. Der Ausschuss hat aber die Möglichkeit, anderen Personen die Teilnahme an seinen Sitzungen zu erlauben.

Beschlussfähig ist das Gremium, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder oder der Stellvertreter anwesend ist. Beschlossen wird mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen, außer das Grundgesetz sieht etwas anderes vor. Das gilt etwa für den Fall, dass der Gemeinsame Ausschuss dem Bundeskanzler das Misstrauen ausspricht, indem er einen Nachfolger wählt. Dafür wäre eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Eine einfache Mehrheit genügt, wenn der Gemeinsame Ausschuss auf Vorschlag des Bundespräsidenten einen neuen Bundeskanzler wählt (Artikel 115h des Grundgesetzes). (vom/14.04.2025)

Parlament

Bundesdatenschutz­beauftragte übergibt Tätigkeitsbericht

Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Louisa Riemenschneide und Bundestagspräsidentin Julia Klöckner stehen einander vor der deutschen und der Europaflagge gegenüber und halten beide ein Exemplar des Tätigkeitsberichts 2024 der Datenschutzbeauftragten.

Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Louisa Specht-Riemenschneider (links) übergab ihren Tätigkeitsbericht 2024 an Bundestagspräsidentin Julia Klöckner. (© DBT/Thomas Koehler/photothek)

Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI), Prof. Dr. Louisa Specht-Riemenschneider, hat am Donnerstag, 10. April 2025, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner ihren Tätigkeitsbericht 2024 übergeben. Specht-Riemenschneider blickt darin auf die aktuellen Herausforderungen für einen ermöglichenden Datenschutz und verteidigt die Informationsfreiheit.

Die seit September 2024 amtierende Bundesbeauftragte setzt auf einen Paradigmenwechsel und stellt den frühzeitigen Dialog mit allen relevanten Akteuren in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. Besonders im Fokus stünden dabei die Themen digitale Gesundheit und die europäische KI-Verordnung.

Rollout der elektronischen Patientenakte  

Mit Blick auf das anstehende bundesweite Rollout der elektronischen Patientenakte (ePA) spricht sich Specht-Riemenschneider für mehr Transparenz aus. Wichtig sei, dass das Nutzungsverhalten der ePA nicht vom Informationsgrad abhängt. 

Als Erfolg könne man daher verbuchen, dass die Krankenkassen ihrer Informationspflicht nachkommen und Versicherte ihren Widerspruch via unterschiedlicher Kommunikationswege einreichen können. Auch beim Forschungsdatenzentrum habe die BfDI erreichen können, dass die Prinzipien der Vertraulichkeit und der Datenminimierung beachtet und eingehalten werden. 

Zusammenspiel von KI-Verordnung und Datenschutzrecht

Im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) stelle das Zusammenspiel der im vergangenen Jahr verabschiedeten europäischen KI-Verordnung und dem nationalen Datenschutzrecht eine Herausforderung dar. 

Um KI grundrechtskonform zu trainieren und zu entwickeln, seien auch hier Beratungsangebote notwendig. 

Klöckner: Datenschutz nicht als Hemmnis begreifen

Anlässlich der Berichtsübergabe haben sich die Bundestagspräsidentin und die Datenschutzbeauftragte über die Möglichkeiten ausgetauscht, digitale Daten ohne Abstriche beim Datenschutz vermehrt und effizienter zu nutzen. 

In der öffentlichen Wahrnehmung werde der Datenschutz nach wie vor als Hemmnis betrachtet, durch das Chancen einer erleichterten Datennutzung und des digitalen Fortschritts oft unnötigerweise ausgelassen würden. Eine latente Rechtsunsicherheit führe in der freien Wirtschaft bereits zur Abwanderung hiesiger Unternehmen ins Ausland.

„Unternehmen und Institutionen frühzeitig beraten“

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner unterstützt daher das Plädoyer von Louisa Specht-Riemenschneider für eine frühzeitige Beratung der Unternehmen und Institutionen: „Auf diese Weise sorgt der Datenschutz dafür, Pläne und Projekte gezielt zu ermöglichen, anstatt sie zu verhindern. Diese Umkehrung in der grundsätzlichen Denkweise sollte uns gelingen!“

Auch der Datenschutz im Bundestag spielte in dem Gespräch eine Rolle. Neben benutzerfreundlichen digitalen Arbeitsmöglichkeiten für die Abgeordneten ist für das Parlament auch die digitale Souveränität bedeutsam. Die Herausforderung bestehe auch darin, nicht auf ausländische Kommunikationsplattformen und Messengerdienste angewiesen zu sein, deren Sicherheitsstandards schwer zu beurteilen sind, sondern auf eigene, sichere Einrichtungen zugreifen zu können. (mtt/11.04.2025)

Geschichte

Wolfgang Schäuble: 51 Jahre lang Abgeordneter

Ein älterer Mann im Anzug blickt in die Kamera.
Wolfgang Schäuble sitztam Rednerpult des Bundestages und spricht in das Mikrofon.
Wolfgang Schäuble sitzt in einem Sitzungssaal und spricht.
Wolfgang Schäuble spricht im Bonner Plenarsaal am Rednerpult.
Schwarz-weiß-Aufnahme aus einem Plenarsaal, in dem sich zwei Männer, Wolfgang Schäuble und Philipp Jenninger, gegenüberstehen, umgeben von weiteren Personen.
Wolfgang Schäuble und Horst Waffenschmidt sitzen nebeneinander.

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Wolfgang Schäuble ist der 13. Präsident des Deutschen Bundestages und Abgeordneter seit 1972. (© DBT/Melde)

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Wolfgang Schäuble während seiner Rede zur Einbringung des Bundeshaushalts 2010 in den Bundestag am 19. Januar 2010. (© DBT/photothek)

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Wolfgang Schäuble am 21. April 2010 während einer Sitzung des Finanzausschusses des Bundestages. (© DBT/Marc-Steffen Unger)

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Wolfgang Schäuble spricht am 20. Juni 1991 im Bonner Wasserwerk als Abgeordneter in der Debatte zum Umzug des Bundestages nach Berlin. (© DBT/Presse-Service Steponaitis)

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Wolfgang Schäuble wird am 15. November 1984 von Bundestagspräsident Philipp Jenninger als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes vereidigt. (© DBT/Presse-Service Steponaitis)

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Innenminister Wolfgang Schäuble bei der abschließenden Beratung des Staatsvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 21. Juni 1990 im Wasserwerk in Bonn; rechts sein Parlamentarischer Staatssekretär Horst Waffenschmidt. (© DBT/Hans-Günther Oed)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Dr. Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident vom 24. Oktober 2017 bis zum 26. Oktober 2021.

Schwarzwälder Heimat

Er war Fraktions- und Parteivorsitzender, Kanzleramtsminister, zweimal Bundesinnenminister und acht Jahre Bundesfinanzminister – Wolfgang Schäuble hat in seiner mehr als 50-jährigen politischen Karriere viele Ämter übernommen. In seiner 13. Wahlperiode als Abgeordneter wurde der Jurist zum 13. Präsidenten des Deutschen Bundestages gewählt. Als dienstältester Abgeordneter und damit Alterspräsident eröffnete er am 26. Oktober 2021 die konstituierende Sitzung des 20. Deutschen Bundestages. Schäuble starb am 26. Dezember 2023 im Alter von 81 Jahren. Er hatte dem Bundestag 51 Jahre und 13 Tage angehört.

Geboren am 18. September 1942 in Freiburg im Breisgau, wuchs Schäuble als mittlerer von drei Söhnen des Prokuristen, Steuerberaters und Landtagsabgeordneten Karl Schäuble in Hornberg im Schwarzwald auf. Wie auch seine Brüder Frieder und Thomas studierte Wolfgang Schäuble Jura: Nach Abschluss des Ersten und Zweiten Staatsexamens folgte 1971 seine Promotion zum Dr. jur. Seine berufliche Laufbahn startete er noch im gleichen Jahr als Regierungsrat beim Finanzamt in Freiburg. Später war Schäuble auch als Rechtsanwalt tätig.

Frühe politische Karriere

Wie sein Vater und seine Brüder betätigte sich Wolfgang Schäuble schon früh politisch: Seit 1965 Mitglied der CDU, kandidierte er 1972 erfolgreich für den Bundestag, wo er zunächst dem Finanzausschuss angehörte. Das Direktmandat im Wahlkreis Offenburg hat er stets verteidigt.

Seine Unterstützung galt zu dieser Zeit bereits Helmut Kohl, der 1973 Rainer Barzel als Bundesvorsitzender der CDU ablöste. Als Kohl 1982 Bundeskanzler wurde, war Schäuble an seiner Seite. Er profilierte sich zunächst in der Funktion des Parlamentarischen Geschäftsführers – organisierte effizient Mehrheiten und lieferte Strategiepapiere.

Politisches Ausnahmetalent

Schäuble galt rasch als großes politisches Talent: intelligent, ehrgeizig, fachlich versiert, dabei ebenso loyal wie eigenständig. Nach dem Regierungswechsel 1982 machte er steil Karriere: 1984 wurde Schäuble Chef des Bundeskanzleramtes, zuständig unter anderem für die Verhandlungen mit der DDR, 1989 dann Bundesinnenminister.

Als die Berliner Mauer fiel, war er einer der „Architekten der Deutschen Einheit“: Als Verhandlungsführer der Bundesrepublik handelte er mit Günther Krause den deutsch-deutschen Einigungsvertrag aus – „diskret und pragmatisch“, wie sich Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel anlässlich Schäubles 70. Geburtstages erinnerte. Es sei eine „einzigartige Bewährungsprobe“ gewesen, so Merkel.

Attentat im Wahlkampf

Die Unterzeichnung des Vertrags am 31. August 1990 war somit auch ein persönlicher Erfolg für den Politiker. Doch neun Tage nach dem offiziellen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober wurde der damals 48-Jährige bei einer Wahlkampfveranstaltung nahe seines Wohnortes Gengenbach von einem psychisch kranken Mann niedergeschossen und am Rückenmark verletzt.

Seitdem auf einen Rollstuhl angewiesen, kämpfte sich Schäuble wieder zurück auf die politische Bühne. Noch im Krankenhaus begann er wieder zu arbeiten, sechs Wochen später zeigte er sich wieder öffentlich. „Man wird sich, so wie ich bin, an mich gewöhnen müssen“, sei sein nüchternes Statement gewesen, so die „Neue Zürcher Zeitung“ 2018 in einem Porträt des Politikers. 

Entscheidende Rede in der Bonn-Berlin-Debatte

Umso flammender fiel Schäubles Plädoyer für Berlin als Hauptstadt aus: Als der Bundestag 1991 fast zwölf Stunden lang über den Regierungssitz des vereinten Deutschlands debattierte, war es seine Rede, die den Ausschlag gab.

Es gehe nicht um einen Wettkampf zwischen zwei Städten, so Schäuble damals. „Es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss.“ Das Symbol für Einheit, Freiheit und Demokratie in Deutschland sei wie keine andere Stadt immer Berlin gewesen. Mit hauchdünner Mehrheit beschloss der Bundestag, die Regierung an die Spree zu verlegen.

Fraktionsvorsitzender, „Kronprinz“ und Parteichef

Noch im gleichen Jahr, im November 1991, wählte die CDU/CSU-Fraktion Schäuble zu ihrem Vorsitzenden. Rasch habe er sie zum „stärksten Machtzentrum im Regierungslager“ neben dem Kanzleramt ausgebaut, bemerkte die Süddeutsche Zeitung 1994.

Entsprechend spekulierte die Presse immer wieder über die Ambitionen des Südbadeners und eine mögliche Kanzlerschaft. Doch Helmut Kohl erklärte zwar seinen engsten politischen Weggefährten zu seinem Wunschkandidaten, ohne sich jedoch zeitlich festzulegen, und erneuerte seinen Anspruch, Kanzler zu bleiben.

Rücktritt nach CDU-Spendenaffäre

Der Führungswechsel an der Parteispitze erfolgte, als Kohl nach verlorener Bundestagswahl im September 1998 vom CDU-Vorsitz zurücktrat. Doch Ende 1999 wurde nach Enthüllungen über geheime Konten und illegale Parteispenden die CDU-Parteispendenaffäre publik. Während der Altkanzler sich weigerte, die Namen der Spender zu nennen, bemühte sich Schäuble öffentlich um Aufklärung und Schadensbegrenzung.

Im Januar 2000 musste aber auch er einräumen, dass er eine Barspende des Rüstungslobbyisten Karlheinz Schreiber entgegengenommen hatte. Daraufhin trat Schäuble im Februar 2000 vom Fraktions- und Parteivorsitz zurück.

Comeback als Bundesinnenminister

Zurück in die erste Reihe der Bundespolitik kehrte Schäuble 2005, als Kanzlerin Angela Merkel ihn in ihr Kabinett holte. Als Innenminister der Großen Koalition machte er die Innere Sicherheit zum Kernthema.

Ob die Ausweitung der Rasterfahndung, heimliche Online-Durchsuchungen oder die Vorratsdatenspeicherung – seine Vorhaben zur Verschärfung der Sicherheitsgesetze im Kampf gegen den Terror lösten kontroverse Debatten aus. Um die Integration der in Deutschland lebenden Muslime zu fördern, startete Schäuble 2006 die Islamkonferenz als Gesprächsforum.

Wechsel ins Finanzressort

Vor dem Hintergrund der globalen Finanzkrise übernahm Schäuble nach der Bundestagswahl 2009 den wohl schwierigsten Posten in Merkels Kabinett: das Amt des Finanzministers. Seine Mission hier: den defizitären und durch Bankenrettungs- und Konjunkturpakete belasteten Bundeshaushalt wieder zu konsolidieren.

Angesichts der 2010 sich ausweitenden Schuldenkrise kam Schäuble als Vertreter des wirtschaftsstärksten EU-Landes in der sogenannten Euro-Gruppe der Finanzminister eine Schlüsselrolle zu. Trotz teils deutlicher Kritik an seiner Sparpolitik genoss Schäuble hier hohes Ansehen. Seine Amtskollegen lobten ihn, so die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ 2017, „als zuverlässig und vertrauenswürdig, als extrem belastbar und hellwach selbst in zähen Marathonsitzungen“.

„Europäischer Patriot“

Schäuble sei „auch ein europäischer Patriot“, sagte Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker 2012 in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Karlspreises, mit dem der Beitrag des Deutschen zur Stabilisierung des Euro gewürdigt wurde. In der eigenen Partei war die Euro-Rettung umstritten. Schäubles Beliebtheit bei den Wählern aber erreichte aufgrund seines rigiden Sparkurses gegenüber Griechenland auf dem Höhepunkt der Krise Spitzenwerte.

Auch die positive Entwicklung der Staatsfinanzen in Deutschland seit 2008 und das Erreichen der „schwarzen Null“ ab 2014 wurden als „historischer Erfolg“ vor allem dem Finanzminister zugeschrieben. Kritiker jedoch verwiesen auf die gesunkenen Zinsen als begünstigender Faktor und hielten ihm vor, eine überfällige Steuerreform nicht angegangen zu haben.

Eine „Respektsperson“ als Bundestagspräsident

Nach der Bundestagswahl 2017 schied Schäuble aus dem Kabinett aus. Am 24. Oktober 2017 wählte der Bundestag den damals 75-Jährigen zum Präsidenten. Ein Wechsel, der in den Medien, aber auch parteiübergreifend angesichts des Einzugs der AfD ins Parlament begrüßt wurde. Schäuble sei eine „Respektsperson“ und „wie kaum ein anderer“ geeignet, um die Abgeordneten der neuen Fraktion „in die Pflicht“ zu nehmen, so der Tenor. Mit seinen 45 Parlamentsjahren verfüge der konservative Politiker über die „nötige Erfahrung, Gelassenheit und Autorität“, schrieb etwa die „Süddeutsche Zeitung“.

Als Parlamentspräsident pocht Schäuble darauf, dass alle Gewählten über die gleichen Rechte verfügen und entsprechend behandelt werden, aber auch über die gleichen Pflichten. Gegenüber „Tönen der Verächtlichmachung und Erniedrigung im Meinungsstreit“ dringt er auf die Wahrung parlamentarischer Umgangsformen als Vorbild für die gesellschaftliche Debatte. Das Parlament sei insgesamt „lebendiger“ geworden, lautete seine Bilanz nach etwa einem Jahr im Amt. „Es findet mehr Aufmerksamkeit, und das ist auch unsere Aufgabe.“

Ringen um eine Parlamentsverkleinerung

Mit der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung wurde in seiner Amtszeit auf parlamentarischer Ebene eine neue Stufe der Zusammenarbeit erreicht, um – weltweit einzigartig – zwischen beiden Ländern Übereinstimmung in zentralen politischen Standpunkten anzubahnen und die parallele Umsetzung in politisches Handeln zu ermöglichen. Als eine seiner Aufgaben als Parlamentspräsident betrachtet es Schäuble überdies, wie schon sein Vorgänger Norbert Lammert, eine Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Parlaments voranzubringen.

Eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe, die unter seiner Leitung nach einer Lösung suchte, ging zwar ergebnislos auseinander. Doch der amtierende Bundestagspräsident ist beharrlich – 2021 konstituierte sich im Bundestag eine Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts. Und er ist einflussreich. Dass er mehr sei als „ein Zeremonienmeister“, so die „Frankfurter Rundschau“, zeige etwa seine vermittelnde Rolle im unionsinternen Streit um die Flüchtlingspolitik. Schäuble sei nach wie vor „eine der zentralen Figuren der Regierung, obwohl ihr der als Parlamentspräsident gar nicht angehört“. (sas/08.04.2025)

Geschichte

Norbert Lammert: Feingeist mit Hang zu Klartext

Porträt von Norbert Lammert.
Aufnahme von Norbert Lammert wie er lacht.
Norbert Lammert steht vor zwei Gemälden und spricht in ein Mikrofon.
Norbert Lammert hält einen Kugelschreiber in der Hand, mit der sich an die Stirn fasst.
Norbert Lammert sitzt an einem Tisch und spricht mit einer Person im Bildanschnitt. 13. März 2008: Bundestagspräsident Norbert Lammert, CDU/CSU, MdB, während des Seminars Berlin-Exkursion.
Norbert Lammert lächelt und ist umgeben von Menschen.
Norbert Lammert steht umgeben von Personen an einem Mikrofon.
Norbert Lammert hebt seine Hände während einer Rede.

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Norbert Lammert war von 2005 bis 2017 Bundestagspräsident. (© DBT/Melde)

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Bundestagspräsident Norbert Lammert während eines Interviews am 11. November 2009 in Berlin. (© DBT/Marc-Steffen Unger)

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Norbert Lammert eröffnet am 27. Mai 2008 die Ausstellung „Von Bäumen und Menschen“ des Malers Hans Jürgen Kallmann. (© DBT/Melde)

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Norbert Lammert und der französische Parlamentspräsident Bernard Accoyer (nicht im Bild) eröffnen am 17. Januar 2009 in Hamburg das siebte Deutsch-Französische Parlamentarierkolloquium „Paris-Berlin“. (© DBT/Werner Schüring)

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Bundestagspräsident Norbert Lammert am 13. März 2008 während eines Seminars „Berlin-Exkursion“. (© DBT/Sylvia Bohn)

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Norbert Lammert signiert Grundgesetze am Stand des Deutschen Bundestages beim Bürgerfest zum 60-jährigen Bestehen des Grundgesetzes 2009. (© DBT/Julia Nowak-Katz)

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Norbert Lammert (Mitte) in der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages am 18. Oktober 2005; rechts neben ihm Klaus Brähmig (CDU/CSU), links Cornelia Behm (Bündnis 90/Die Grünen). (© DBT/ Lichtblick/Achim Melde)

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Norbert Lammert während seiner Rede beim festlichen Konzert anlässlich des 20. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer im November 2009 im Foyer des Berliner Paul-Löbe-Hauses. (© DBT/Marco Urban)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Prof. Dr. Norbert Lammert, Bundestagspräsident vom 18. Oktober 2005 bis 23. Oktober 2017.

Dem Bundestag Gehör verschaffen

Seine dritte und letzte Amtszeit begann am 22. Oktober 2013, als der Bundestag Norbert Lammert erneut an die Spitze des Parlaments wählte. Bei der Wahl 2017 kandidierte er nicht mehr für den Bundestag. Lammert ist damit der zwölfte Bundestagspräsident in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. Er gilt als Liebhaber klassischer Musik und der Literatur, kurz: als Feingeist.

Ein „Leisetreter“ ist der in Bochum geborene CDU-Politiker aber keineswegs: Er scheut sich durchaus nicht Klartext zu reden, wenn es nötig ist. Vor allem, wenn es darum geht, dem Parlament als zentralem Verfassungsorgan der Bundesrepublik Beachtung und Gehör zu verschaffen. In seiner Antrittsrede nach seiner Wiederwahl las Lammert nicht nur den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF die Leviten, weil diese anstatt wichtiger Parlamentssitzungen zunehmend Seifenopern sendeten. Auch an die Adresse des eigenen Hauses wie der Regierung richtete der Präsident kritische Worte.

Studium in Bochum und Oxford

Norbert Lammert kam am 16. November 1948 als ältestes von sieben Kindern des Bäckermeisters Ferdinand Lammert und dessen Frau Hildegard in Bochum zur Welt. Dort besuchte er die katholische Volksschule und das altsprachlich-humanistische Gymnasium. Nach dem Abitur 1967 und dem Wehrdienst, den er bis 1969 in Ahlen und Dülmen bei der Artillerie absolvierte, begann Lammert in Bochum ein Studium der Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Sozialökonomie.

Ein Semester seiner Studienzeit (1971) verbrachte Lammert im englischen Oxford, bevor er 1972 sein Diplom erhielt. 1975 promovierte er mit der Arbeit über „Lokale Organisationsstrukturen innerparteilicher Willensbildung“ zum Doktor der Sozialwissenschaften.

Danach arbeitete Lammert als freiberuflicher Dozent in der Erwachsenenbildung, später lehrte er Politikwissenschaft an den Fachhochschulen in Bochum und Hagen. Seit 2004 hat er einen Lehrauftrag an der Ruhr-Universität Bochum. 2008 wurde er dort Honorarprofessor.

Abgeordneter und Parlamentarischer Staatssekretär

Bereits als 16-Jähriger war Lammert 1964 Mitglied der Jungen Union (JU), 1966 trat er der CDU bei. 1975 wurde er in den Bochumer Stadtrat gewählt, wo er bis 1980 sogar mit seinem Vater gemeinsam saß. 1977 übernahm Lammert zudem den stellvertretenden Vorsitz der Bochumer CDU, den er bis 1985 innehatte. Sechs Jahre, von 1978 bis 1984, war er auch stellvertretender Landesvorsitzender der JU Westfalen-Lippe.

1980 gelang ihm der Einzug in den Bundestag, wo er unter anderem Mitglied im Wirtschaftsausschuss und stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung war. 1989 wurde Lammert zum Parlamentarischen Staatssekretär beim damaligen Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Jürgen Möllemann (FDP), ernannt. Eine Position, die er trotz zweifachen Ministerwechsels behielt, bevor er 1994 als Staatssekretär ins Bundeswirtschaftsministerium unter Minister Günter Rexrodt (FDP) berufen wurde.

Bildung, Verkehr, Luft- und Raumfahrt

Bereits seit 1986 leitete Lammert den CDU-Bezirksverband Ruhrgebiet und war damit auch Mitglied des Landesvorstandes in Nordrhein-Westfalen, doch bei der im Mai 1994 erstmals durchgeführten Mitglieder-Urwahl für das Amt des Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl 1995 unterlag Lammert seinem Konkurrenten Helmut Linssen mit 39,4 zu 59,6 Prozent.

Seiner bundespolitischen Karriere schadete dieses Ergebnis nicht: Im folgenden Jahr, im Januar 1995, wurde Lammert zum Koordinator der Bundesregierung für die deutsche Luft- und Raumfahrt berufen. 1997 wechselte er dann – erneut als Parlamentarischer Staatssekretär – ins Verkehrsministerium unter Minister Matthias Wissmann (CDU). Die Funktion des Koordinators für die deutsche Luft- und Raumfahrt behielt er bei.

„Geübter Strippenzieher im Hintergrund“

Nach der Bildung der rot-grünen Regierungskoalition im September 1998 schied Lammert als Staatssekretär aus, zog aber erneut als Abgeordneter in den Bundestag ein und wurde kultur- und medienpolitischer Sprecher der Unionsfraktion. Da galt er längst als „geübter Strippenzieher hinter den Kulissen“, wie ihn „Die Welt“ einmal bezeichnete. Man schätzt ihn zudem für seinen „analytischen Verstand und seine sachliche Art“.

Vor den Bundestagswahlen 2002 holte Angela Merkel den bereits seit 1996 als Vorsitzender der einflussreichen nordrhein-westfälischen Landesgruppe amtierenden Lammert in ihr Kompetenzteam. SPD und Grüne konnten bei der Wahl ihre Mehrheit knapp verteidigen. Lammert wurde in der konstituierenden Sitzung des 15. Deutschen Bundestages zum Vizepräsidenten des Parlaments gewählt.

An der Spitze des Parlaments

Drei Jahre gehörte er dem Präsidium an, bevor die rot-grüne Bundesregierung 2005 nach vorgezogenen Neuwahlen die Mehrheit im Bundestag verlor. Da die Union stärkste Fraktion geworden war, konnte Lammert an die Spitze des Parlaments aufrücken. Am 18. Oktober wählten ihn die Abgeordneten mit 93,1 Prozent der Stimmen zum Bundestagspräsidenten – eine Zustimmung, die vom Vertrauen in den auf Ausgleich bedachten Politiker zeugte.

Lammert selbst kommentiert das Ergebnis mit den Worten, er sei „geradezu erschüttert über den Vertrauensbonus“. Es ist der Höhepunkt seiner zu diesem Zeitpunkt beinahe 25-jährigen parlamentarischen Karriere.

Dabei hatte Lammert in jungen Jahren eigentlich Musiker werden wollen, dann aber „eingesehen, dass meine Begeisterung für die Musik als Grundlage für einen Beruf nicht reichen würde“. Die Berliner Philharmoniker hat er dennoch einmal – kurz nach seinem Amtsantritt als Bundestagspräsident – dirigieren dürfen.

Gegen den Ansehensverlust des Bundestages

Auf die Frage nach seiner dringlichsten Aufgabe sagte Lammert schon 2005 in einem Interview mit der „Zeit“, der „Ansehensverlust von Politikern, von Regierungen wie von Oppositionen“, bewege ihn sehr. Im Oktober 2008 verhängte er gegen den früheren Innenminister Otto Schily (SPD) ein Ordnungsgeld von 22.000 Euro, weil dieser sich geweigert hatte, Angaben über seine Nebentätigkeit als Anwalt zu machen. Die vom Bundestag beschlossenen Transparenzregeln müssten für alle gelten, betonte Lammert.

Auch nach seiner Wiederwahl am 27. Oktober 2009 monierte er, „die Parlamente, ihre Arbeit und ihre öffentliche Wirkung“ seien „nicht immer so gut wie sie sein könnten und sein sollten“. Lammert empfahl dem Hohen Haus unter anderem, über das Verhältnis von Parlament und Regierung, über die Wahrnehmung der originären parlamentarischen Aufgaben sowie über Mehrheits- und Minderheitenrechte im Bundestag nachzudenken.

„Parlament muss und darf sich nicht verstecken“

Ein weiteres Anliegen verfolgte der Präsident ebenso beharrlich: dem Bundestag Beachtung und Gehör zu verschaffen. Er müsse und dürfe sich nicht hinter anderen Verfassungsorganen verstecken, schließlich sei er das „Herz der politischen Willensbildung“ und kein „Hilfsorgan“, so Lammert.

Dementsprechend setzte er sich dafür ein, dass die öffentlich-rechtlichen Sender ihre Parlamentsberichterstattung erweitern. „Alle, die die Plenardebatten sehen wollen, sollen ein Angebot auf ihren Fernsehbildschirmen bekommen“, sagte er im September 2008 vor der Presse. Vorausgegangen waren Verhandlungen mit den Rundfunkanstalten, die dazu führten, dass der Sender Phoenix seine Übertragungszeiten der Plenardebatten ausdehnte. Diese Entscheidung versetze den Bundestag in die Lage, so der Präsident damals, auf eine eigene bundesweite Ausstrahlung seines Parlamentsfernsehens verzichten zu können.

Als die öffentlich-rechtlichen Sender aber 2009 nicht einmal die Konstituierung des 17. Bundestages, sondern stattdessen Telenovelas übertrugen, kritisierte Lammert dies ungewöhnlich scharf – und ließ nebenbei auch seinen Sinn für Ironie aufblitzen: „Da die Chefredaktionen in ihren Entscheidungen so frei sind wie ich in meinem Urteil, kündige ich an, dass ich es bei jeder ähnlichen Gelegenheit erneut vortragen werde.“

„Ehrlicher Makler zwischen den Fronten“

Dem Bundestagspräsidenten werde gelegentlich ein „kunstvoller Spagat“ abverlangt, sagte Lammert einmal über sein Amt, das „mit fast keinem anderen politischen Amt vergleichbar“ sei. Es sei erkennbar nicht jenseits der aktiven Politik angesiedelt, „sondern mitten in der konkreten, operativen Politik“. Gleichzeitig stehe es – definiert durch seine Geschäftsordnung – außerhalb des Parteienstreites.

Lammert zeigte sich darin geübt: Auch wenn er es nicht jedem recht machen konnte, so verstand er es doch, sich großes Ansehen zu erwerben. Über Parteigrenzen hinweg beschreibt man ihn als fachkundig, ausgleichend und humorvoll. Er gilt als „ehrlicher Makler zwischen den Fronten“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ ein Porträt Lammerts betitelte.

Prof. Dr. Norbert Lammert lebt in Bochum und Berlin und ist seit 1971 mit seiner Frau Gertrud verheiratet. Er hat vier Kinder. (sas/08.04.2025)

Geschichte

Wolfgang Thierse: Stimme der Ostdeutschen

Gerhard Schröder steht neben Anke Fuchs und schüttelt die Hand von Wolfgang Thierse.
Wolfgang Thierse sitzt erhöht auf einem Stuhl. Vor ihm hält Peter Struck eine Rede.
Wolfgang Thierse hebt inmitten mehrerer Menschen einen etwa 70 Centimeter langen Schlüssel vor sich in die Höhe.
21. Juli 2005: Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, SPD, gibt eine Stellungnahme gegenüber der Presse ab zur Entscheidung von Bundespräsident Horst Köhler über die Auflösung des 15. Deutschen Bundestages. Er steht vor Mikrofonen.
Wolfgang Thierse, Gerhard Schröder und Franz Müntefering stehen dicht nebeneinander und einander zugewandt.
Nahaufnahme von Wolfgang Thierse.
Nahaufnahme von Wolfgang Thierse.
Nahaufnahme Wolfgang Thierse wie er mit dem Finger in Richtung der Kamera zeigt.

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Der künftige Bundeskanzler Gerhard Schröder (links) gratuliert am 26.Oktober 1998 in Bonn Wolfgang Thierse nach dessen Wahl zum Bundestagspräsidenten; in der Mitte: die designierte Bundestagsvizepräsidentin Anke Fuchs (alle SPD). (© picture-alliance/dpa | Thomas Köhler)

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Bundestagspräsident Wolfgang Thierse auf der Präsidiumsbank während einer Rede von Peter Struck (SPD) am 14. November 2002. (© DBT/MELDEPRESS/Sylvia Bohn)

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Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (Mitte) vor dem Westportal des Reichstagsgebäudes mit dem symbolischen Schlüssel anlässlich der Wiedereröffnung des Gebäudes am 19. April 1999; rechts neben ihm Bundeskanzler Gerhard Schröder und Architekt Sir Norman Foster. (© DBT/ Presse-Service Steponaitis)

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Bundestagspräsident Wolfgang Thierse gibt am 21. Juli 2005 vor der Presse eine Stellungnahme zur Entscheidung von Bundespräsident Horst Köhler ab, den 15. Deutschen Bundestag aufzulösen. (© DBT/Lichtblick/Achim Melde)

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Bundeskanzler Gerhard Schröder (Mitte) und der SPD-Fraktionsvorsitzende Franz Müntefering (rrechts) gratulieren am 17. Oktober 2002 im Berliner Reichstagsgebäude Wolfgang Thierse zu seiner Wiederwahl als Bundestagspräsident. Bei der konstituierenden Sitzung des Parlaments wurde der 58-jährige SPD-Politiker mit 357 Stimmen in seinem Amt bestätigt. 219 stimmten in geheimer Wahl gegen Thierse, 20 enthielten sich. Zuvor hatte sich im Berliner Reichstag der 15. Deutsche Bundestag konstituiert. (© picture-alliance / dpa/dpaweb | Peer Grimm)

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Bundestagspräsident Wolfgang Thierse am 15. Januar 2003 (© DBT/Werner Schüring)

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Wolfgang Thierse war von 1998 bis 2005 Bundestagspräsident. (© DBT/Werner Schüring)

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Wolfgang Thierse wurde 1943 in Breslau geboren. (© DBT/Werner Schüring)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident vom 26. Oktober 1998 bis zum 18. Oktober 2005.

Ein Ostdeutscher übernimmt das zweithöchste Amt

Als der Deutsche Bundestag Wolfgang Thierse zum Nachfolger von Prof. Dr. Rita Süssmuth im Amt des Bundestagspräsidenten wählt, ist dies in zweierlei Hinsicht eine historische Entscheidung: Erstmals seit der deutschen Wiedervereinigung übernimmt ein Ostdeutscher das zweithöchste Amt im Staat.

Gleichzeitig ist der Sozialdemokrat der erste, der die Geschicke des deutschen Parlaments wieder vom Reichstagsgebäude aus lenkt – der Bundestag zieht unter seiner Ägide zurück in die alte und neue deutsche Hauptstadt an der Spree. Für Thierse ist dies mehr als Symbolik: Er will am „zentralen Ort Berlin an der Vollendung der inneren Einheit Deutschlands mitwirken“.

„Radio-Sozialdemokrat“

Wolfgang Thierse kam am 22. Oktober 1943 als Sohn eines Rechtsanwalts in der niederschlesischen Provinzhauptstadt Breslau zur Welt. Als nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Familie von dort vertrieben worden war, ließ sie sich im thüringischen Eisfeld nieder, wo Thierse aufwuchs.

Für Politik interessierte er sich früh: Sein Vater war Mitglied der Zentrumspartei während der Weimarer Republik, nach der Neugründung der Ost-CDU vertrat er sie im Kreistag als Abgeordneter. Regelmäßig hörte der Vater den West-Berliner Rundfunksender RIAS.

So verfolgte der junge Thierse schon früh Debattenübertragungen aus dem Bundestag: Carlo Schmid, Herbert Wehner und später Willy Brandt gehörten zu den Rednern, die ihn begeisterten. Thierse wurde „Radio-Sozialdemokrat“, schrieb der Journalist Franz Sommerfeld 1993.

„Grimmige Idylle in der DDR“

Nach dem Abitur in Hildburghausen erlernte Thierse den Beruf des Schriftsetzers beim „Thüringer Tageblatt“ in Weimar. Journalistik zu studieren, wofür er sich interessierte, war jedoch in der DDR ohne Jugendweihe und Ableistung des Militärdienstes nicht möglich. Statt dessen studierte Thierse von 1964 bis 1968 Germanistik und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Nach dem Diplom wurde er dort auch wissenschaftlicher Assistent für Kulturtheorie/Ästhetik.

1975 wechselte er ins Kulturministerium der DDR, wo er sich vor allem mit architekturbezogener Kunst befasste. Doch seine Tätigkeit war nur von kurzer Dauer: 1976 wurde Thierse aus dem Staatsdienst entlassen, da er aufgrund von Äußerungen gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR denunziert worden war. 1977 fand er eine berufliche Aufnahme im Institut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Der 33-Jährige wurde Mitverfasser des „Historischen Wörterbuchs der ästhetischen Grundbegriffe“ und begann, wie viele andere Intellektuelle in der DDR, ein Nischendasein zu leben. Seine berufliche Existenz bezeichnete Thierse später als „grimmige Idylle in der DDR“.

1989 als politisches Erweckungserlebnis

Der Katholik Thierse war nie SED-Mitglied. Als „Nicht-Genosse“ musste er die DDR zwar in Kauf nehmen, als SED-Mann hätte er sie aber billigend in Kauf nehmen müssen. So definierte Thierse in einem Gespräch mit dem Journalisten Ernst Elitz den Unterschied zwischen SED-Mitgliedschaft und SED-Abstinenz.

Thierse wollte sich nicht einbinden lassen, auch nicht von oppositionellen Gruppen. Das änderte sich 1989. Die Flucht von Zehntausenden aus der DDR wurde für ihn zum „politischen Erweckungserlebnis“. Thierse erzählte, er habe den Druck verspürt zu zeigen, dass nicht nur die „Faulen, Feigen und Folgsamen“ in der DDR blieben. Er wollte mitmischen: „Wenn nicht jetzt, dann schäme ich mich ein ganzes Leben“, zitierte ihn Elitz in dem 1991 erschienenen Porträt „Genosse Rotbart“. Im Oktober 1989 schloss sich Thierse dem Neuen Forum an, im Januar 1990 dann der Ost-SPD.

„Nicht die Wahrheit gepachtet“

Thierse machte in der Politik schnell Karriere: Bei der Wahl zur ersten freien Volkskammer der DDR, am 18. März 1990, erhielt er ein Mandat und wurde stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD. Im Juni wählten ihn die Parteitagsdelegierten dann zum Parteivorsitzenden. Der „Neupolitiker“ profitierte davon, dass er nie den Eindruck erweckte, „die Wahrheit gepachtet zu haben“, so Elitz über Thierse. Als im Streit um die Modalitäten des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Richard Schröder im August vom Fraktionsvorsitz zurücktrat, übernahm Thierse dessen Amt.

Nach der Vereinigung der sozialdemokratischen Parteien der Bundesrepublik und der DDR Ende September 1990 wurde Thierse schließlich einer der stellvertretenden Vorsitzenden. Anlässlich der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember errang er ein Direktmandat im Wahlkreis Berlin-Mitte – Prenzlauer Berg.

„Mundwerk der Ostdeutschen“

Im Bundestag bewährte Thierse sich als glänzender Debattenredner. Als „wortgewaltiger Moralist“, wie ihn die Medien bald betitelten, nahm er nur selten ein Blatt vor den Mund, dachte gern quer – auch wenn er in der eigenen Partei aneckte.

Zum Streit führte so etwa in der Hauptstadt-Debatte sein leidenschaftliches Plädoyer für Berlin oder der Vorschlag eines politisch-moralischen „Tribunals“, worunter er „öffentliche, strenge Formen des Gesprächs“ über die Mechanismen systemstabilisierenden Verhaltens in der DDR verstand.

Auch später war Thierse stets derjenige, der ostdeutsche Befindlichkeiten auf der Tagesordnung hielt. 1998, als Rot-Grün unter Führung Gerhard Schröders (SPD) die Regierungsgeschäfte übernahm, wählte der 14. Bundestag Thierse mit 512 von 666 abgegebenen Stimmen zum neuen Bundestagspräsidenten. Eine „Rolle, wie auf den Leib geschneidert“, urteilte damals „Die Welt“ über den, den sie in der SPD „liebevoll-ironisch Ossi-Bär nennen“.

Aber auch als zweiter Mann im Staat wurde Thierse nicht leise, sondern mischte sich weiterhin in politische Debatten ein. Anlässlich der Diskussionen um das Finanzgebaren der Parteien erklärte Thierse im Jahr 2002, auch als parteipolitisch neutraler Repräsentant aller Abgeordneten des Bundestages müsse er schließlich kein „politischer Eunuch“ werden. Mit seiner Feststellung „der Osten stehe auf der Kippe“, löste Thierse zehn Jahre nach Wiederherstellung der deutschen Einheit eine Debatte über die Zukunft der neuen Bundesländer und die Fortführung staatlicher Förderprogramme aus.

Einsatz für interkulturellen Dialog

Thierse nahm sich insbesondere der Themen Zuwanderung, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus an. Auf seinen Reisen (unter anderem nach Marokko und Ägypten) setzte er sich für den interkulturellen Dialog ein, wobei er die Gelegenheit nutzte, westliche Werte kritisch zu hinterfragen und vor den Folgen ungehinderter Globalisierung und wachsender Individualisierung zu warnen.

Gefordert war Thierse vor allem auch durch Parteispendenaffären sowohl in der Kölner SPD als auch in der Union, die er als Parlamentspräsident mit hohen Strafgeldern ahndete. Zum Konflikt kam es 2000 zwischen Thierse und der Deutschen Lufthansa wegen einer Affäre um privat genutzte, aber dienstlich entstandene Bonusmeilen, welche einige Abgeordnete bereits in Bedrängnis gebracht hatte.

Die Lufthansa verweigerte aus Datenschutzgründen die Herausgabe von Listen der Abgeordneten, die die Bonusmeilen nutzten. In den Medien wurde aber auch über Thierses Mitverantwortung diskutiert, nachdem der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim ihm als Chef der Bundestagsverwaltung einen „guten Teil der Verantwortung“ unterstellt hatte.

Bundestagsvizepräsident von 2005 bis 2013

Als die rot-grüne Bundesregierung 2005 nach den vorgezogenen Neuwahlen die Mehrheit im Bundestag verlor und die CDU/CSU stärkste Fraktion wurde, löste Prof. Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU) Thierse nach zwei Legislaturperioden im Amt des Bundestagspräsidenten ab.

Thierse blieb Bundestagsvizepräsident bis zu seinem Ausschieden aus dem Parlament im Herbst 2013. Seinem Ruf als „Mundwerk der Ostdeutschen“ wurde er auch in dieser Zeit gerecht. So forderte er anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerfalls in einem Beitrag des Online-Magazins „The European“, zwischen dem politischen System der DDR und den darin lebenden Menschen zu unterscheiden. Nur so könne man zu einem differenzierten Urteil in der Debatte um die historische Bewertung der DDR kommen.

Thierse erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter das Bundesverdienstkreuz (1993), den Ignatz-Bubis-Preis (2001) und den Theodor-Heuss-Preis (2001) sowie die Ehrendoktorwürde, verliehen durch die philosophische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er veröffentlichte mehrere Bücher. Thierse lebt in Berlin-Prenzlauer Berg. Seit 1973 ist er mit der Kunsthistorikerin Irmtraud Thierse verheiratet. Das Paar hat zwei Kinder. (08.04.2025)

Geschichte

Rita Süssmuth: Populäre Seiteneinsteigerin

24. Mai 1996: Horst Seehofer, CSU, Bundesminister für Gesundheit, Rede im Deutschen Bundestag, Vorsitz: Bundestagspräsidentin Dr. Rita Süssmuth, CDU, Schriftführer Frank Hofmann, SPD, (li.), Hubert Deittert, CDU, (re.)
Prof. Dr. Rita Süssmuth, CDU/CSU, Bundestagspräsidentin a.D., 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages.
3. Oktober 1985: Rita Süssmuth, CDU, Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit hält eine Rede im Deutschen Bundestag während der 162 Plenarsitzung.
20.12.1990: Rita Süssmuth (Mitte) wird in der konstituierenden Sitzung des ersten gesamtdeutschen Bundestages in ihr Amt als Bundestagspräsidentin wiedergewählt. Zum ersten Mal seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten von 1933 tritt im Reichstagsgebäude ein freigewähltes, gesamtdeutsches Parlament zu einer Bundestagssitzung zusammen.
26.09.1985: Rita Süssmuth wird im Bundestag von Bundestagspräsident Philipp Jenninger als Bundesministerin für Familie, Jugend und Gesundheit vereidigt.
26.07.1990: Rita Süssmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestages (l.), und Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der Volkskammer der DDR (r.), auf der gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse 'Deutsche Einheit' von Bundestag und Volkskammer im Bundeshaus.

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Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer spricht am 24. Mai 1996 im Bundestag; im Hintergrund Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth mit den Schriftführern Frank Hofmann (SPD) links und Hubert Deittert (CDU/CSU) rechts. (© DBT/ Presse-Service Steponaitis)

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Rita Süssmuth war Bundestagspräsidentin von 1988 bis 1998. (© DBT/Foto- und Bildstelle)

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Rita Süssmuth spricht als Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit am 3. Oktober 1985 im Deutschen Bundestag. (© DBT/Presse-Service Steponaitis)

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Rita Süssmuth wird in der konstituierenden Sitzung des ersten gesamtdeutschen Bundestages am 20. Dezember 1990 in ihrem Amt als Bundestagspräsidentin bestätigt. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Klaus Lehnartz)

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Rita Süssmuth wird am 26. September 1985 von Bundestagspräsident Philipp Jenninger als Bundesministerin für Familie, Jugend und Gesundheit vereidigt. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Lutz)

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Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (links) und Volkskammer-Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl in einer gemeinsamen Sitzung der beiden Ausschüsse „Deutsche Einheit“ des Bundestages und der Volkskammer im Bundeshaus in Bonn. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Arne Schambeck)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Prof. Dr. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin vom 25. November 1988 bis zum 26. Oktober 1998.

Politische Seiteneinsteigerin

Länger als sie sind bislang nur Prof. D. Dr. Eugen Gerstenmaier und Prof. Dr. Norbert Lammert in diesem Amt gewesen: Zehn Jahre stand die Christdemokratin an der Spitze des Parlaments. Dabei war Süssmuth eine politische Seiteneinsteigerin. Erst 1985 – noch ziemlich unbekannt – übernahm die Professorin für Erziehungswissenschaft überraschend das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit. Als Dr. Philipp Jenninger wegen einer umstrittenen Rede zur Reichspogromnacht als Bundestagspräsident zurücktreten musste, wurde Süssmuth seine Nachfolgerin. Das Amt an der Spitze des Parlaments führte sie als Instanz, die über die Tagespolitik hinauszuschauen hat. Die gebürtige Wuppertalerin versteht den Bundestag als „Werkstatt der Demokratie“, die stetiger Kreativität und Förderung bedarf.

Rita Süssmuth (geborene Kickuth) wurde am 17. Februar 1937 in Wuppertal geboren. Ihr Vater war Lehrer. Auch Süssmuth schlug zunächst diese Laufbahn ein: Nach dem Abitur, das sie 1956 im westfälischen Rheine gemacht hatte, begann sie 1961 ein Romanistik- und Geschichtsstudium in Münster. Später wechselte sie nach Tübingen und Paris, bevor sie ihr Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien 1961 in Münster ablegte. Danach entschied sich Süssmuth für ein Postgraduiertenstudium der Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychologie. 1964 wurde sie mit der Arbeit „Studien zur Anthropologie des Kindes in der französischen Literatur der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung François Mauriacs“ promoviert.

Wissenschaftliche Karriere

Nach einer dreijährigen Assistenzzeit an den Hochschulen Stuttgart und Osnabrück übernahm sie 1966 ihre erste Dozentenstelle an der Pädagogischen Hochschule Ruhr. 1969 wechselte sie als Wissenschaftliche Rätin und Professorin an die Ruhr-Universität Bochum.

1971 kehrte sie als ordentliche Professorin an die Pädagogische Hochschule zurück, lehrte jedoch bis 1982 weiterhin an der Universität Bochum. 1973 erhielt sie einen Lehrstuhl an der Universität Dortmund. Von 1982 bis 1985 war sie Direktorin des Forschungsinstituts „Frau und Gesellschaft“ in Hannover.

Quereinstieg in die Bonner Politik

Daneben begann sich Süssmuth auch politisch zu engagieren: So arbeitete sie von 1971 bis 1985 im Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen des Bundesfamilienministeriums mit. 1977 wurde sie zudem Mitglied in der dritten Familienberichtskommission, 1982 dann des Bundesjugendkuratoriums.

Ein Jahr zuvor, 1981, war sie bereits der CDU beigetreten. Hier erregte sie insbesondere durch ihre Arbeit im Fachausschuss Familienpolitik die Aufmerksamkeit Heiner Geißlers (CDU), der seit dem 4. Oktober 1982 als Bundesminister für Jugend, Familien und Gesundheit amtierte. Geißler begann Süssmuth zu fördern, und zur Überraschung vieler Beobachter war sie es schließlich, die Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl (CDU) am 26. September 1985 als Geißlers Nachfolgerin berief (1986 wurde das Ressort zudem um den Bereich „Frauen“ erweitert).

Streitbare Ministerin, „Lovely Rita“

Die Übernahme des Ministeriums erwies sich schnell als Herausforderung: Nur ein halbes Jahr nach ihrem Amtsantritt erschütterte die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl die Bevölkerung. Außerdem verbreitete sich zusehends die tödliche Infektionskrankheit Aids. Süssmuth setzte auf Aufklärung. Ihre Devise lautete: „Wir müssen die Krankheit bekämpfen, nicht die Kranken.“

Dabei schreckte sie auch vor unkonventionellen Methoden nicht zurück: Für ein Titelbild des Magazins „Der Spiegel“ ließ sich die Ministerin sogar in einem Ganzkörperkondom abbilden. Während solche Aktionen die eigene Partei provozierten, gewann Süssmuth schnell die Gunst der Öffentlichkeit. Gerade ihr Quereinsteiger-Status und ihr Ansehen als Wissenschaftlerin machten sie populär. Aus Meinungsumfragen ging sie zeitweise sogar als beliebteste Politikerin des Landes hervor. 

Die Medien gaben ihr bald den Namen „Lovely Rita“. In der Union stieß die fortschrittlich denkende Sozialpolitikerin jedoch auf Widerstand. Zum Bruch mit Teilen der Partei kam es, als sie im Frühjahr 1988 massive Kritik am Entwurf des Beratungsgesetzes zum Abtreibungsparagrafen 218 des Strafgesetzbuches übte. 

Als Bundestagspräsidentin kein „Neutrum“

Bei der Bundestagswahl am 25. Januar 1987 kandidierte Rita Süssmuth erstmals im Wahlkreis Göttingen, den sie dreimal hintereinander direkt gewann. 1998 zog sie über die Landesliste Niedersachsen der CDU letztmals in den Bundestag ein.

Nach dem Rücktritt Dr. Philipp Jenningers als Bundestagspräsident 1988 nominierte die Fraktion der CDU/CSU auf Vorschlag von Bundeskanzler Kohl Süssmuth als Nachfolgerin. Am 25. November 1988 wurde sie mit 380 von 473 gültigen Stimmen an die Spitze des Parlaments gewählt. Auch in diesem Amt machte sie von sich reden: Sie leitete die nach Vollendung der deutschen Einheit notwendig gewordene Reform des Parlaments ein und bereitete dessen Umzug nach Berlin vor.

Zudem ließ es sich Süssmuth nicht nehmen, weiterhin offen Stellung zu beziehen – so etwa zu frauenpolitischen Fragen. „Der Bundestagspräsident muss kein Neutrum sein“, verteidigte Süssmuth später einmal in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ ihre Haltung.

„Wunderbare Erfahrung Mauerfall“

Danach gefragt, welche Stunden ihr am wichtigsten waren, antwortete die Politikerin im „Deutschlandradio Kultur“: „Der 9. November, abends im Wasserwerk, als die Nachricht kam: Die Mauer ist offen. Wie spontan Bundestagsabgeordnete dann unsere Nationalhymne angestimmt haben (...), das war schon eine wunderbare Erfahrung.“

1990 wurde Süssmuth im Amt bestätigt, ebenso 1994. Sie führte es mit „stiller Ernsthaftigkeit“ und bisweilen „ätzend konsequent“, wie der verstorbene SPD-Abgeordnete Prof. Dr. Peter Glotz einmal sagte. Doch ihre hohe Popularität nahm 1991 durch eine „Dienstwagen-Affäre“ Schaden. Rechtlich war ihr Handeln nicht zu beanstanden.

1996 wurde Süssmuth zudem angekreidet, die Flugbereitschaft der Bundeswehr zu privaten Zwecken genutzt zu haben. Ein Vorwurf, von dem sie einstimmig durch den Ältestenrat des Bundestages freigesprochen wurde.

Engagement für Zuwanderung und Integration

Nach der Bundestagswahl 1998, bei der die SPD stärkste Fraktion wurde und erstmals eine rot-grüne Regierung an die Macht kam, wurde Süssmuth von Wolfgang Thierse (SPD) als Bundestagspräsident abgelöst. Auch aus dem Präsidium der CDU, dem sie seit 1987 angehört hatte, schied sie aus. Noch bis 2002 blieb die Politikerin aber Mitglied des Bundestages.

In dieser Zeit übernahm sie auch den Vorsitz einer von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) initiierten Zuwanderungskommission. Eine Aufgabe, die ihr erneut Kritik in der Union einbrachte, zumal sich CDU und CSU nicht an dem Gremium beteiligten.

Zahlreiche Auszeichnungen

Ungeachtet dieser Kritik übernahm Süssmuth im September 2002 auch den Vorsitz im Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration, den sie bis Dezember 2004 innehatte.

Rita Süssmuth ist Ehrenpräsidentin des deutschen Polen-Instituts in Darmstadt. Sie war von 2005 bis 2010 Präsidentin und ist seither Ehrenpräsidentin der SRH-Hochschule (Stiftung Rehabilitation Heidelberg) in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und veröffentlichte mehrere  Bücher. Zuletzt erschien 2024 „Über Mut. Vom Zupacken, Durchhalten und Loslassen“. Rita Süssmuth ist seit 2020 verwitwet und hat eine Tochter. (sas/08.04.2025)

Geschichte

Philipp Jenninger: Geschickter Koordinator

Oppositionsführer Helmut Kohl (vorn) und seine Fraktionskollegen Philipp Jenninger (links) und Walther Leisler Kiep (rechts) während der Debatte um die Sicherung der Montan-Mitbestimmung am 20.03.1981 im Deutschen Bundestag in Bonn
Zu einem Eklat kam es am 10.11.1988 im Deutschen Bundestag in Bonn während der Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der NS-Pogrome. Abgeordnete der SPD verlassen demonstrativ die Feierstunde.
10.11.1988: Philipp Jenninger, Präsident des Deutschen Bundestages und Ida Ehre (Hände vor dem Gesicht) während einer Gedenkveranstaltung des Bundestages anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht.
17.08.1986: Bundeskanzler Helmut Kohl (M.) mit Philipp Jenninger, Präsident des Deutschen Bundestages (l.) und Prinz Louis Ferdinand von Preußen (r.) am Rande einer Gedenkfeier anlässlich der 200. Wiederkehr des Todestages von Friedrich II. (Friedrich der Große) auf der Burg Hohenzollern.
05.11.1984: Philipp Jenninger hält nach seiner Wahl zum neuen Bundestagspräsidenten im Bundestag seine Antrittsrede.
10.11.1988: Philipp Jenninger, Präsident des Deutschen Bundestages, während einer Rede im Deutschen Bundestag in einer Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht.
Der CDU-Politiker verläßt am 27. Juni 1986 am Ende der letzten Sitzung des Deutschen Bundestages im alten Plenarsaal den Raum. Seit dem 5. November 1984 bekleidet Philipp Jenninger als Bundestagspräsident das zweithöchste Amt im Staat nach dem des Bundespräsidenten.
07.10.1982: StM Philipp Jenninger / Offizielles Porträt

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Oppositionsführer Helmut Kohl (vorn) und seine Fraktionskollegen Philipp Jenninger (links) und Walther Leisler Kiep (rechts) während der Bundestagsdebatte um die Sicherung der Montan-Mitbestimmung am 20. März 1981 in Bonn (© picture-alliance/dpa | Egon Steiner)

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Zu einem Eklat kam es am 10. November 1988 im Deutschen Bundestag in Bonn während der Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht. Abgeordnete der SPD verlassen demonstrativ die Feierstunde. (© picture-alliance/dpa | Martin Athenstädt)

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Philipp Jenninger, Präsident des Deutschen Bundestages, und Ida Ehre (Hände vor dem Gesicht) während der Gedenkveranstaltung des Bundestages anlässlich des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht am 10. November 1988. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Lothar Schaack)

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Bundestagspräsident Philipp Jenninger (links), Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte) und Prinz Louis Ferdinand von Preußen (rechts) am 17. August 1986 an Rande einer Gedenkfeier anlässlich der 200. Wiederkehr des Todestages von Friedrich II. (Friedrich der Große) auf der Burg Hohenzollern (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Klaus Lehnartz)

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Philipp Jenninger bei seiner Antrittsrede nach seiner Wahl zum Präsidenten des Deutschen Bundestages am 5. November 1984 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Engelbert Reinicke)

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Bundestagspräsident Philipp Jenninger am 10. November 1988 während seiner Rede im Deutschen Bundestag zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Lothar Schaack)

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Bundestagspräsident Philipp Jenninger verlässt am 27. Juni 1986 am Ende der letzten Sitzung des Deutschen Bundestages im alten Plenarsaal in Bonn den Raum. (© picture-alliance/dpa | Heinrich Sanden)

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Philipp Jenninger als Staatsminister im Bundeskanzleramt (Aufnahme vom 7. Oktober 1982) (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Dr. Philipp Jenninger, Bundestagspräsident vom 5. November 1984 bis zum 11. November 1988.

Zentrumsnahes Elternhaus

Der Weggefährte und Vertraute Helmut Kohls (CDU) ist Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion und Kanzleramtsminister, bevor er im November 1984 zum Bundestagspräsidenten gewählt wird. Er folgt Dr. Rainer Barzel (CDU) im Amt, als dieser wegen Vorwürfen im Zusammenhang mit der „Flick-Affäre“ zurücktritt. Jenninger setzt sich für Reformen ein, die die Parlamentsarbeit lebendiger gestalten sollen. Große Anerkennung finden auch zwei Reisen, die er als Bundestagspräsident nach Israel unternimmt. Seine unglücklich vorgetragene Rede zum 50. Jahrestag der Reichpogromnacht löst allerdings 1988 einen Eklat aus. Jenningers Integrität steht zwar außer Frage, doch der Druck der Ereignisse zwingt ihn zur Aufgabe seines Amts.

Philipp Jenninger wird am 10. Juni 1932 im württembergischen Rindelbach, heute ein Stadtteil von Ellwangen im Ostalbkreis, geboren. Das Elternhaus ist katholisch. Politisch steht Jenningers Vater, ein Buchdruckermeister, der Zentrumspartei nahe, weswegen er in der NS-Zeit auch immer wieder Schikanen ausgesetzt ist. Jenningers ältere Brüder Albert und Willi fallen als Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Er selbst beginnt nach seinem Abitur 1952 Rechtswissenschaften in Tübingen zu studieren.1955 legt er das erste Staatsexamen ab, zwei Jahre später promoviert er mit einer Arbeit über „Die Reformbedürftigkeit des Bundesverfassungsgerichts“. 1959 folgt schließlich das zweite Staatsexamen.

Ziehvater Franz-Josef Strauß

Bereits 1960 gelingt Jenninger der Einstieg als Dezernent in die Wehrbereichsleitung V in Stuttgart. 1963 wechselt der junge Jurist ins Bundesverteidigungsministerium nach Bonn. Erste politische Erfahrungen kann er von 1964 bis 1966 als Referent und Pressereferent des Bundesministers für besondere Aufgaben, Heinrich Krone, sammeln.

Danach wird Jenninger Kabinettsreferent des damaligen Bundesfinanzministers Franz-Josef Strauß (CSU), der ihn fördert. 1969 zieht Jenninger selbst als Abgeordneter in den Bundestag ein. Er gewinnt – wie bei allen folgenden Bundestagswahlen bis zu seinem Rückzug aus der Politik – seinen Wahlkreis direkt (erst Crailsheim, dann Schwäbisch Hall). Im Bundestag ist er Mitglied des Haushaltsausschusses und später unter anderem des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung.

Hoffnungsträger der CDU

1973 wird Jenninger einer der Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion. Der gebürtige Schwabe, sachkundig und entscheidungsfreudig, gilt als politisches Talent. Als im Januar 1975 der Erste Parlamentarische Geschäftsführer Leo Wagner zurücktritt, wird Jenninger sein Nachfolger. Schnell erweist er sich als erfolgreicher Koordinator der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Er erwirbt sich aber nicht nur in der eigenen, sondern auch in anderen Fraktionen Ansehen: „So geschickt er die Geschäftsordnung und andere parlamentarische Instrumente zu nutzen wusste, kaum einer hat sich von ihm getäuscht oder überfahren gefühlt, auch wenn der Schwabe Jenninger durchaus robust zu argumentieren versteht und manchmal sogar von cholerischen Anflügen nicht frei war“, so schreibt die „Zeit“ 1982 über Jenninger.

Besonders Helmut Kohl schätzt seine Fähigkeiten. Als Jenninger 1976 das Amt des Parlamentarischen Geschäftsführers aufgeben will, ist es der damalige Unionsfraktionsvorsitzende, der ihn zum Bleiben bewegt.

Kohls Unterhändler im Kanzleramt

Jenninger wird zum engen Vertrauten des Oppositionsführers. Schwabe und Pfälzer stehen sich nach „Wesen und Lebensart so nahe bis hin zur Wertschätzung der kulinarischen Genüsse der Welt“, so die Wochenzeitung „Die Zeit“. Selbst gefastet wird in späteren Jahren gemeinsam in Österreich.

Nach der politischen Wende im Oktober 1982 holt Kohl seinen loyalen Duzfreund ins Kanzleramt: Jenninger wird Staatsminister und ist von da an für die Deutschlandpolitik zuständig. Eine Aufgabe, der er sich mit großem Einsatz widmet.

Fingerspitzengefühl beweist er zudem bei den Verhandlungen um einen 950-Millionen-DM-Kredit für die DDR, der im Juli 1984 zustande kommt und mit dem Erleichterungen im Reiseverkehr zwischen den beiden deutschen Teilstaaten erreicht werden.

An der Spitze des Parlaments

Als überraschend Ende Oktober 1984 Vorwürfe gegen Bundestagspräsident Dr. Rainer Barzel (CDU/CSU) im Zusammenhang mit der Flick-Parteispenden-Affäre erhoben werden, kommt Jenningers Stunde: Am 5. November 1984 wählt ihn der Bundestag mit großer Mehrheit zum neuen Mann an der Spitze des Parlaments.

In seiner Antrittsrede demonstriert er Bescheidenheit: „Der Erste in diesem Hause zu sein, bedeutet für mich nicht besondere Würde und Glanz, sondern vorbildliche Arbeit und Dienst für unser Volk.“ In diesem Sinne bemüht sich Jenninger um Parlamentsreformen. So führt der Bundestag unter seiner Ägide das Instrument der Regierungsbefragung ein.

Um die Debatten lebendiger zu gestalten, wird es den Abgeordneten zudem erlaubt, während einer Debatte nicht nur Zwischenfragen zu stellen, sie können nun auch mit Kurzinterventionen zu Wort zu kommen.

Rücktritt nach Rede zur Reichspogromnacht

Beachtung findet Jenninger als Bundestagspräsident vor allem auch für seine Reisen nach Israel, zuletzt im Mai 1988. Es ist nicht ohne Tragik, dass Jenninger nur wenige Monate später ausgerechnet mit einer Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht einen Skandal auslöst, der ihn zum Rücktritt zwingt. In seiner 45-minütigen Ansprache bei einer Gedenkstunde im Bundestag am 10. November 1988 versucht er eine Erklärung der historischen Ereignisse.

Im gesprochenen Wort wird jedoch anders als bei einer Lektüre des Redetextes die Distanzierung gegenüber dem Geschilderten nicht ausreichend deutlich, etwa wenn vom Nationalsozialismus als „Faszinosum“ die Rede ist. Jenningers Integrität steht außer Frage, doch die heftigen Proteste in der Öffentlichkeit und im Kreis der Abgeordneten stellen seinen Verbleib im Amt des Bundestagspräsidenten infrage.

Mit dem Bedauern, Gefühle verletzt zu haben, tritt Jenninger am 11. November 1988 zurück. 1995 nennt der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ Jenningers Rede „über weite Strecken hervorragend“, aber „rhetorisch miserabel gehalten“. Ein Rücktritt sei aber „wenn es nach uns gegangen wäre“ nicht notwendig gewesen.

Späte Diplomatenkarriere

Jenninger bleibt bis zum Ende der Legislaturperiode Bundestagsabgeordneter. Doch die Enttäuschung über den mangelnden Rückhalt in seiner Partei veranlasst ihn schließlich, sich für die Bundestagswahl 1990 nicht mehr als Kandidat aufstellen zu lassen. Jenninger wechselt in die Diplomatie: 1991 geht er als deutscher Botschafter nach Wien, anschließend ist er von 1995 bis zu seiner Pensionierung 1997 deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl in Rom.

Im Auswärtigen Amt schätzt man ihn wegen seiner „unaufdringlichen Lernbereitschaft, Sachlichkeit und Arbeitskraft“, wie die Berliner Zeitung 1995 schreibt. Nur einmal noch scheint Jenninger die Vergangenheit einzuholen: Der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages gerät in die Kritik, als er 1997 für die Präsidentschaft des Instituts für Auslandsbeziehungen kandidiert.

Jenninger starb am 4. Januar 2018. Er lebte mit seiner Frau Ina, mit der er seit 1964 verheiratet war, in Stuttgart. (sas/08.04.2025)

Geschichte

Eugen Gerstenmaier: Dem Parlament Respekt verschafft

Bundeskanzler Konrad Adenauer (rechts) im Gespräch mit Eugen Gerstenmaier, Präsident des Deutschen Bundestages, am Rande eines Empfangs zum 83. Geburtstag.
05.03.01969: Der Kandidat der CDU für das Amt des Bundespräsidenten, Gerhard Schröder (l.) und der ehemalige Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (r.) warten in der Bundesversammlung auf das Ergebnis der Auszählung zur Wahl des neuen Bundespräsidenten.
Eugen Gerstenmaier (CDU) spricht für die Regierungskoalition während der Fortsetzung der außenpolitischen Debatte im Bundestag in Bonn am 25.03.1958. Während seines Beitrags wurde der amtierende Präsident des Bundestages von seinem Stellvertreter Carlo Schmid (r) vertreten. Thema der Debatte war die Atombewaffnung der Bundeswehr und die Wiedervereinigung.
10.05.1968: Am Rande des Richtfests für das neue Abgeordnetenhaus, den 'Langen Eugen' spricht Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (links) mit Architekt Egon Eiermann.
03.11.1953: Eugen Gerstenmaier, Abgeordneter des Deutschen Bundestages (3.v.r.; MdB CDU) während einer Journalistenrunde in einem Kölner Fernsehstudio.
Das Abgeordnetenhochhaus 'Langer Eugen' in Bonn, benannt nach Eugen Gerstenmaier. Im Vordergrund der Deutsche Bundestag.
13.11.1962: Bundestagspräsident Gerstenmaier / Offizielles Porträt 1962
04.05.1960: Eugen Gerstenmaier, Präsident des Deutschen Bundestages (r.), in einer Bundestagssitzung.
10.05.1968: Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier spricht beim Richtfest für das neue Abgeordnetenhaus, den 'Langen Eugen'.
Eugen Gerstenmaier im Prozess gegen die Verschwörer des 20. Juli 1944 vor dem Volksgerichtshof in Berlin. Dr. theol. Eugen Gerstenmaier, Konsistorialrat im Außenamt der Evangelischen Kirche, geboren am 25. August 1906, Mitglied des Kreisauer Kreises.

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Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (links) mit Bundeskanzler Konrad Adenauer am Rande eines Empfangs zu Adenauers 83. Geburtstag im Jahre 1959. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/ Egon Steiner)

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Gerhard Schröder (links), Kandidat der CDU für das Amt des Bundespräsidenten (links), und Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (rechts) warten während der Bundesversammlung am 5. März 1969 auf das Ergebnis der Auszählung zur Wahl des neuen Bundespräsidenten. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Jens Gathmann)

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Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier spricht am 25. März 1958 für die CDU/DP-Regierungskoalition während der außenpolitischen Debatte. Themen waren die Atombewaffnung der Bundeswehr und die Wiedervereinigung. Hinten rechts Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid (SPD), der während Gerstenmaiers Rede als Bundestagspräsident amtierte. (© picture-alliance/dpa | Kurt Rohwedder)

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Am Rande des Richtfests für das neue Abgeordnetenhochhaus in Bonn, den „Langen Eugen“, spricht Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (links) am 10. Mai 1968 mit dem Architekten Egon Eiermann. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Engelbert Reineke)

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Der CDU-Abgeordnete Eugen Gerstenmaier (Dritter von rechts) am 3. November 1953 während einer Journalistenrunde in einem Kölner Fernsehstudio (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Brodde)

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Das Abgeordnetenhochhaus „Langer Eugen“ in Bonn, benannt nach dem damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier; im Vordergrund der Deutsche Bundestag. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Engelbert Reineke)

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Offizielles Porträt von Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, aufgenommen am 13. November 1962 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Renate Patzek)

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Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier leitet die Sitzung des Deutschen Bundestages am 4. Mai 1960. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Egon Steiner)

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Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier während seiner Rede anlässlich des Richtfests für das neue Abgeordnetenhochhaus in Bonn, den nach ihm benannten „Langen Eugen“, am 10. Mai 1968 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Engelbert Reineke)

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Eugen Gerstenmaier vor dem Volksgerichtshof, wo er am 11. Januar 1945 in einem Prozess gegen die Verschwörer des 20. Juli 1944 zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. (© picture-alliance/akg-images)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Prof. D. Dr. Eugen Gerstenmaier, dritter Bundestagspräsident vom 16. November 1954 bis zu seinem Rücktritt am 31. Januar 1969.

Der Präsident mit der längsten Amtszeit

Er ist mit seiner 14-jährigen Amtszeit der Rekordhalter unter den Bundestagspräsidenten: Eugen Gerstenmaier. Dabei galt das Interesse des CDU-Politikers eigentlich der Außenpolitik und nur auf Wunsch des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer kandidierte er für das Amt des Bundestagspräsidenten.

Doch einmal gewählt, widmete er sich mit Elan und Hartnäckigkeit seiner Aufgabe an der Spitze des Parlaments, dessen Wirkung und Eigenständigkeit er mit inneren Reformen zu stärken suchte. Unter seiner Stabführung wurde so auch das neue Abgeordnetenhochhaus in Bonn gebaut, das in Anspielung auf seine geringe Körpergröße bis heute als „Langer Eugen“ bekannt ist.

Theologiestudium und „Kirchenkampf“

Eugen Gerstenmaier wird am 25. August 1906 im schwäbischen Kirchheim unter Teck als Ältestes von acht Geschwistern geboren. Die Familie lebt in kleinbürgerlichen Verhältnissen; der Vater arbeitet als Betriebsleiter in einer Klavierfabrik. Gerstenmaier besucht die Realschule und beginnt 1921 eine kaufmännische Ausbildung. Die gewünschte akademische Laufbahn liegt aber jenseits des finanziell Möglichen.

Bis 1929 ist Gerstenmaier als kaufmännischer Angestellter tätig; 1931 kann er das Abitur nachholen und ein Studium beginnen. Gerstenmaier studiert Philosophie, Germanistik und evangelische Theologie in Tübingen, Rostock, Zürich und wieder Rostock. Bereits vier Jahre später, 1935, promoviert er und beginnt anschließend mit seiner Habilitation über „Die Kirche und die Schöpfung“.

Eine Lehrbefugnis wird Gerstenmaier allerdings aus politischen Gründen verweigert: Wegen seines Protests im „Kirchenkampf“ gegen den Rücktritt Friedrich von Bodelschwinghs zugunsten des von den Nationalsozialisten unterstützten „Reichsbischofs“ Ludwig Müller war er bereits 1934 aktenkundig geworden.

Von der Bekennenden Kirche zum Kreisauer Kreis

1936 findet Gerstenmaier, der sich der Bekennenden Kirche angeschlossen hatte, eine Anstellung als Beauftragter der Württembergischen Evangelischen Kirche und als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Kirchlichen Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche. Gerstenmaiers Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus wandelt sich in diesen Jahren von Distanz über Ablehnung zu organisiertem Widerstand.

Als das Münchner Abkommen 1938 die Abtretung des Sudetengebietes an das Deutsche Reich festlegt, wird Gerstenmaier aktiv: Er tritt der Gruppe um Helmuth von Moltke, dem „Kreisauer Kreis“, bei. So ist er auch eingeweiht in die Pläne für ein Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944. Als es scheitert, wird auch Gerstenmaier im Umkreis des Grafen Stauffenberg verhaftet. Anders als die Verschwörer entgeht er jedoch einer Hinrichtung. Er wird zu einer siebenjährigen Zuchthausstrafe verurteilt und von US-Truppen am 14. April 1945 befreit.

Außen- und Europapolitiker aus Leidenschaft

Nach Kriegsende baut Gerstenmaier zunächst das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Deutschlands auf, dessen Leitung er von August 1945 bis 1951 übernimmt. Gerstenmaier wird CDU-Mitglied und 1949 zum ersten Mal in den Bundestag gewählt. Hier gilt sein Einsatz in der ersten Legislaturperiode vor allem der Freilassung der deutschen Kriegsgefangenen. Zudem engagiert er sich in der Außen- und Europapolitik. 1954 übernimmt er den Vorsitz des Auswärtigen Ausschusses eine Aufgabe, die Gerstenmaier mit Leidenschaft ausübt.

Doch am 29. Oktober 1954 stirbt überraschend Bundestagspräsident Hermann Ehlers. Gerstenmaier kandidiert. Im dritten Wahlgang wird er gewählt – sozusagen „mit Ach und Krach“, wie Gerstenmaier einmal selbst sagte. In seiner langen Amtszeit wird er sich jedoch noch drei Mal zur Wiederwahl stellen und jedes Mal mit großer Mehrheit als Bundestagspräsident bestätigt werden.

Ausbau der Informationsrechte des Parlaments

„Das Herz des freiheitlichen Rechtsstaats in Deutschland schlägt nicht nur in der Kraft seiner Regierung und in der Integrität seiner Gerichte und Verwaltung, sondern vor allem in der Lebendigkeit und Kraft des Parlaments“, sagte Gerstenmaier am 15. Oktober 1957, nachdem er gerade zum zweiten Mal in das Amt gewählt worden war. In diesen Worten klingt der programmatische Kern seines Wirkens an der Spitze des Parlaments an: Gerstenmaiers Ziel war, dem Parlament die zentrale Stellung zu sichern, die ihm als einzig direkt gewähltem Verfassungsorgan zukommt.

So stritt er für eine innere Reform der Parlamentsarbeit: Viele seiner Vorstellungen die Verringerung der Abgeordnetenzahl, die Zusammenlegung aller Landtagswahlen in der Mitte einer auf mindestens fünf Jahre verlängerten Legislaturperiode – konnte er zwar nicht umsetzen. Doch stärkte er durch die Einführung der Aktuellen Stunde und die Neuordnung der Fragestunde entscheidend die Informationsrechte des Parlaments. In zähen Verhandlungen setzte er sich zudem für bessere Arbeitsbedingungen der Abgeordneten ein - erst nach dem Bau des Abgeordnetenhochhauses in Bonn hatte jeder Volksvertreter ein eigenes Büro.

Politische Affäre beendet die Präsidentschaft

Nach 14 Jahren im Amt beginnt jedoch Gerstenmaiers Stern zu sinken. Er wird Opfer einer Pressekampagne: Die DDR lässt Meldungen in den Medien lancieren, wonach Gerstenmaier ein Spitzel der Nationalsozialisten gewesen sein soll. Anschuldigungen, die sich später als völlig haltlos herausstellen.

Gerstenmaier gerät zudem wegen Wiedergutmachungsleistungen, die er für die Behinderung seiner Lehrtätigkeit durch die Nazis bekommen hat, in die Defensive. Die Höhe der Leistungen für ein nicht ausgeübtes Lehramt führt erneut zu öffentlicher Kritik. Gerstenmaier tritt daraufhin am 31. Januar 1969 von seinem Amt als Bundestagspräsident zurück.

„Geist und Richtung des heutigen Staates mitbestimmt“

Seine aktive Zeit als Politiker ist damit zwar beendet, doch bleibt Gerstenmaier als einer der geistigen Väter der Bundesrepublik ein geachteter Gesprächspartner. Ende 1985 erleidet er einen Schlaganfall und stirbt am 13. März 1986 im Alter von 79 Jahren. Sein Tod ist Anlass, Leben und politische Arbeit Gerstenmaiers zu würdigen.

Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker betonte, er habe „Geist und Richtung unseres heutigen Staates mitbestimmt“. Zu seinem 20. Todestag im August 2006 formulierte es der spätere Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert so: Eugen Gerstenmaier habe „dem Parlament eine klar umrissene Gestalt und Respekt in der Öffentlichkeit verschafft“ und das „Selbstverständnis der Parlamentarier“ gefestigt. (sas/08.04.2025)

Geschichte

Kai-Uwe von Hassel: Nüchternes Nordlicht

20.09.1972: Rainer Barzel, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, am Rednerpult. Hinter ihm Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel. Bundeskanzler Willy Brandt stellt im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage. Durch die Übertritte einiger FDP-Abgeordneter zur Opposition aufgrund ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Ost-Verträgen ist gewissermaßen eine Pattsituation im Bundestag entstanden. Erwartungsgemäß findet die Vertrauensfrage keine absolute Mehrheit. Daraufhin bittet der Bundeskanzler den Bundespräsidenten um Parlamentsauflösung, damit Neuwahlen stattfinden können.
20.09.1972: Bundeskanzler Willy Brandt stellt im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage. Durch die Übertritte einiger FDP-Abgeordneter zur Opposition aufgrund ihrer ablehnenden Haltung gegenüber den Ost-Verträgen ist gewissermaßen eine Pattsituation im Bundestag entstanden. Erwartungsgemäß findet die Vertrauensfrage keine absolute Mehrheit. Daraufhin bittet der Bundeskanzler den Bundespräsidenten um Parlamentsauflösung, damit Neuwahlen stattfinden können. Im Bild: Bundeskanzler Brandt am Rednerpult. Hinter ihm Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel.
20.09.1972: Bundestagspräsident Kai Uwe von Hassel gibt das Ergebnis der ausgezählten Stimmen zur Vertrauensfrage bekannt. Bundeskanzler Willy Brandt stellte in dieser Bundestagssitzung die Vertrauensfrage in der erklärten Absicht, der Bundestag möge ihm das Misstrauen aussprechen. Er hatte kurz zuvor ein konstruktives Misstrauensvotum überstanden, aber nach einigen Parteiübertritten keine Mehrheit im Parlament mehr. Brandt verliert mit 233:248 Stimmen. Damit ist der Weg für eine vorgezogene Bundestagswahl frei.
13.06.1961: Kai-Uwe von Hassel, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein (1954-1963).
24.06.1965: Die Ausführungen des Verteidigungsministers Kai-Uwe von Hassel (CDU) während der Notstandsdebatte am 24. Juni 1965 im Deutschen Bundestag in Bonn führten zu erregten Szenen, nachdem er an die SPD die Frage richtete, ob sie in der nächsten Legislaturperiode weichere Papiere und für den Notstand unpraktikable Gesetze verspreche.
25.01.1967: Kai-Uwe von Hassel, Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, an seinem Schreibtisch.
Der CDU-Politiker Kai-Uwe von Hassel bei seiner Antrittsrede nach seiner Wahl zum Präsidenten des Deutschen Bundestages am 05.02.1969 in Bonn. Neben ihm die Schriftführerin Annemarie Griesinger (CDU).
Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel (l) besucht aus Anlass ihres 10-jährigen Bestehens am 28.10.1966 die Schule für Innere Führung in Koblenz-Pfaffendorf. Links Ulrich de Maiziere, der Generalinspekteur der Bundeswehr, und rechts Admiral Herwig Collmann, der Kommandeur der Schule.

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Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel leitet die Sitzung des Bundestages am 20. September 1972; vor ihm als Redner der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/ Engelbert Reineke)

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Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel während der Bundestagsdebatte am 20. September 1972, in der Bundeskanzler Willy Brandt (im Vordergrund) die Vertrauensfrage stellte. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/ Engelbert Reineke)

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Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel gibt in der Plenarsitzung am 20. September 1972 das Ergebnis der ausgezählten Stimmen zur Vertrauensfrage von Bundeskanzler Willy Brandt bekannt. Brandt verlor die Vertrauensfrage mit 233 gegen 248 Stimmen und machte damit den Weg frei für eine vorgezogene Bundestagswahl. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Engelbert Reineke)

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Der spätere Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel am 13. Juni 1961, als er noch Ministerpräsident von Schleswig-Holstein war. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Egon Steiner)

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Kai-Uwe von Hassel während seiner Rede als Bundesverteidigungsminister in der Notstandsdebatte am 24. Juni 1965 im Bundestag (© picture-alliance/dpa | Rohwedder)

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Kai-Uwe von Hassel als Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte am 25. Januar 1967 an seinem Schreibtisch. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Jens Gathmann)

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Kai-Uwe von Hassel während seiner Rede nach der Wahl zum Bundestagspräsidenten am 5. Februar 1969 in Bonn; links neben ihm die CDU-Abgeordnete Annemarie Griesinger aus Baden-Württemberg als Schriftführerin. (© picture-alliance/dpa | Egon Steiner)

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Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel während seines Besuchs der Schule für Innere Führung in Koblenz-Pfaffendorf aus Anlass ihres zehnjährigen Bestehens am 28. Oktober 1966; links Ulrich de Maizière, Generalinspekteur der Bundeswehr, rechts Admiral Herwig Collmann, der Kommandeur der Schule für Innere Führung. (© picture-alliance/dpa | Manfred Rehm)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Kai-Uwe von Hassel, vierter Bundestagspräsident vom 5. Februar 1969 bis zum 13. Dezember 1972.

Präsidentschaft in einer Umbruchszeit

Er ist Bundestagspräsident in einer Umbruchszeit und wird selbst zum Reformer: Kai-Uwe von Hassel übernimmt das Amt an der Spitze des Parlaments nach dem Rücktritt Eugen Gerstenmaiers im Januar 1969, im letzten Jahr der Großen Koalition. Schon im Herbst kommt es bei der Bundestagswahl zum Machtwechsel, der bisherige Außenminister Willy Brandt (SPD) wird Kanzler der ersten sozial-liberalen Koalition. Doch die CDU/CSU bleibt die stärkste Fraktion, und von Hassel, der sich auch beim politischen Gegner Respekt verschafft hat, wird erneut zum Bundestagspräsidenten gewählt.

Seine Amtsführung gilt als fair und sachlich. Anerkennung erhält er später insbesondere für sein Bemühen um eine Parlamentsreform. Die von ihm erlassenen „Verhaltensregeln“, die Abgeordnete verpflichten, jede vergütete Nebentätigkeit anzuzeigen, sind in weiten Teilen noch heute in Kraft.

Von Afrika nach Glücksburg und zurück

Kai-Uwe von Hassel wird am 21. April 1913 in Gare/Tansania – der früheren deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika – als Sohn eines Farmers und Schutztruppenoffiziers geboren. Während des Ersten Weltkrieges wird die Familie interniert und muss das Land verlassen. Sie kehrt in die alte Heimat, das nahe Flensburg gelegene Glücksburg zurück.

Kai-Uwe von Hassel legt dort 1933 das Abitur ab und absolviert eine landwirtschaftlich-kaufmännische Sonderausbildung als Pflanzungskaufmann für Übersee. Die Lehre wählt er nicht ohne Grund: Den jungen Mann zieht es 1935 zurück nach Afrika. Zusammen mit seinem Vater will er eine Plantage aufbauen. Doch als dieser plötzlich stirbt und zudem eine Kaffeeseuche die ersten eigenen Pflanzungen zerstört, beginnt der damals 22-jährige Pflanzungskaufmann auf verschiedenen Farmen zu arbeiten. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird er jedoch erneut interniert und 1940 nach Deutschland ausgewiesen, wo er als Soldat einberufen wird. Zuletzt ist von Hassel Leutnant in Norditalien, bevor er in britische Kriegsgefangenschaft gerät.

Politischer Aufstieg in Schleswig-Holstein

Im Dezember 1945 wird von Hassel entlassen und kehrt nach Glücksburg zurück, wo er zunächst die Schlichtungsstelle für Wohnungssachen im Landkreis Flensburg übernimmt. Auch politisch wird von Hassel aktiv: 1946 tritt er der CDU bei und übernimmt in den folgenden Jahren nicht nur viele Partei-, sondern auch zahlreiche öffentliche Ämter.

Es ist eine steile Karriere: 1947 wird er Bürgermeister in Glücksburg, außerdem zieht er in den Flensburger Kreistag und in den Landtag in Kiel ein. 1953 bereits erringt von Hassel ein Bundestagsmandat, das er aber ein Jahr später aufgibt, um Ministerpräsident in Schleswig-Holstein zu werden.

Von der „Spiegel-Affäre“ zur „Starfighter-Krise“

Als im Januar 1963 Franz-Josef Strauß (CSU) im Zuge der „Spiegel-Affäre“ zurücktritt, ist es Kai-Uwe von Hassel, der sein Nachfolger im Bundesverteidigungsministerium in Bonn wird. Als Ludwig Erhard (CDU) wenig später die Regierungsverantwortung übernimmt, behält von Hassel das Amt, auch wenn er wiederholt von der Opposition im Zusammenhang mit der „Starfighter-Krise“ kritisiert wird.

Das Kampfflugzeug, das gegen den Rat von Experten unter Strauß in großer Stückzahl für die Bundeswehr beschafft worden ist, weist große Mängel auf, die schließlich zu einer Serie von tödlichen Unfällen führen. Allein 1965 sterben 17 Soldaten bei Abstürzen. 1970 verunglückt auch von Hassels Sohn Jochen tödlich.

Reformen für ein leistungsfähiges Parlament

In der Großen Koalition wird von Hassel im Dezember 1966 Vertriebenenminister. An einem Gesetz zur Gleichstellung der Flüchtlinge aus der DDR mit den Vertriebenen ist er maßgeblich beteiligt. Etwa zwei Jahre später schlägt dann die CDU/CSU-Fraktion das „nüchterne Nordlicht“ als Nachfolger für den zurückgetretenen Eugen Gerstenmaier als Bundestagspräsidenten vor.

Von Hassel wird am 5. Februar 1969 gewählt und übernimmt das Amt in einer Phase heftiger gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Die noch junge parlamentarische Demokratie gerät in die Kritik einer rebellierenden Jugend. In dieser Situation ist es das zentrale Anliegen von Hassels, mit einer umfassenden Parlamentsreform Arbeit und Ansehen des Parlaments zu verbessern.

Das Ziel ist ein leistungsfähiger Bundestag: Von Hassel baut die Wissenschaftlichen Dienste entscheidend aus, richtet ein Presse- und Informationszentrum ein und schafft für die Abgeordneten die Möglichkeit, Enquete-Kommissionen einzuberufen. Schnell erwirbt sich der Pragmatiker Respekt für seine faire und überparteiliche Amtsführung. Besondere Beachtung finden die von ihm zum Ende seiner Amtszeit erlassenen „Verhaltensregeln“, die Abgeordnete unter anderem verpflichten, jede vergütete Nebentätigkeit anzuzeigen.

Leidenschaftlicher Europapolitiker

Das Amt des Bundestagspräsidenten sei das „wichtigste und schönste“ gewesen, dass er je innegehabt habe, das soll von Hassel oft gesagt haben, so berichtet später Rita Süssmuth, von 1988 bis 1998 selbst Bundestagspräsidentin. Doch als nach der Bundestagswahl am 13. Dezember 1972 die SPD die größte Fraktion stellt, wird die Sozialdemokratin Annemarie Renger zur Bundestagspräsidentin gewählt.

Als fast 60-Jähriger entdeckt von Hassel eine neue Passion – die Europapolitik. Bis zu seinem Tod wird er sich ihr in verschiedenen Positionen widmen: Ab 1977 als Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und von 1979 an als Abgeordneter des Europäischen Parlaments, dessen Mitglieder in diesem Jahr erstmals durch die Bürger der Mitgliedstaaten direkt gewählt wurden.

Unprätentiös und integer

1984 scheidet von Hassel schließlich aus der aktiven Politik aus, begleitet sie aber weiterhin interessiert und kritisch. In Erinnerung ist seine Bemerkung geblieben, nicht Politik verderbe den Charakter, sondern „schlechte Charaktere haben die Politik“ verdorben. Für von Hassel kann dies wohl kaum gelten: Er gilt als unprätentiös und integer.

Am 8. Mai 1997 bricht Kai-Uwe von Hassel im Alter von 84 Jahren bei der Verleihung des Karlspreises an den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog tot zusammen. (sas/08.04.2025)

Geschichte

Hermann Ehlers: Das Volk zur Demokratie erziehen

Franz-Josef Strauß, Bundestagsabgeordneter der CSU (l. mit Zigarre), im Gespräch mit Hermann Ehlers, Präsident des Deutschen Bundestages (M.) und Walter Hallstein, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, am Rande des Bundespresseballs
Offizielles Porträt von Hermann Ehlers, Präsident des Deutschen Bundestages (1950-1954).
Hermann Ehlers, Präsident des Deutschen Bundestages (M.), während der konstituierenden Sitzung im Präsidium des Bundestages (l.: Eugen Huth; r.: Luise Albertz; Mitglieder des Deutschen Bundestages und Schriftführer).

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Bundestagspräsident Hermann Ehlers (Mitte) im Gespräch mit dem CSU-Bundestagsabgeordneten Franz Josef Strauß und dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein (rechts), am Rande des Bundespresseballs. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

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Hermann Ehlers, Präsident des Deutschen Bundestages von 1950 bis 1954. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

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Hermann Ehlers (Mitte), Präsident des Deutschen Bundestages, während der konstituierenden Sitzung im Präsidium des Bundestages im Jahr 1953. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Simon Müller)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: D. Dr. Hermann Ehlers, zweiter Bundestagspräsident vom 19. Oktober 1950 bis zu seinem Tod am 29. Oktober 1954.

Christlich und deutschnational

Als er am 19. Oktober 1950 nach dem Rücktritt seines Vorgängers Erich Köhler zum Bundestagspräsidenten gewählt wurde, war der Politiker Hermann Ehlers noch weitgehend unbekannt. Drei Jahre später aber, bei seiner Wiederwahl an die Spitze des deutschen Parlaments, votierten die Abgeordneten mit breiter Zustimmung für ihn: Er bekam 467 von 487 abgegebenen Stimmen. Das ist eines der besten Ergebnisse überhaupt bei einer Bundestagspräsidentenwahl.

Ehlers wird am 1. Oktober 1904 in Berlin geboren. Sein Vater arbeitet als Postbeamter, sein familiäres Umfeld ist bürgerlich, politisch konservativ und vor allem protestantisch geprägt. Bereits als 15-Jähriger wird Ehlers im Bibelkreis aktiv, einer christlichen Jugendbewegung, der er sein Leben lang verbunden bleibt. Er studiert Jura in Berlin und Bonn und promoviert 1929 mit einer Arbeit über „Wesen und Wirkungen des Reichslandes Preußen“. Während seines Studiums ist er Mitglied im Verein Deutscher Studenten, einer christlich und deutschnational orientierten Studentenverbindung unter dem Dach des Kyffhäuserverbandes.

Der Weimarer Republik steht Ehlers zu dieser Zeit distanziert gegenüber. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen, wird Ehlers im kirchlichen Widerstand aktiv. Er engagiert sich in der Bekennenden Kirche, die sich als christliche Oppositionsbewegung gegen die Versuche der Nationalsozialisten wehrt, Lehre und Organisation der Evangelischen Kirche mit dem „Dritten Reich“ gleichzuschalten.

Berufliche Diskriminierung durch die Nationalsozialisten

Nach seinem Eintritt in den Verwaltungsdienst der „Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union“ arbeitet Ehlers seit 1934 als Rechtsanwalt in einer Kanzlei, die hauptsächlich mit der Bearbeitung kirchenrechtlicher Fragen der Preußischen Bekennenden Kirche betraut ist. Zudem wird er ein Jahr später auch Mitglied in deren Bruderrat.

Dieses Engagement führt für Ehlers allerdings beruflich zu Nachteilen: Schon 1934 hatte Ehlers die Leitung des Rechtsberatungsreferats in Berlin-Steglitz an ein NSDAP-Mitglied verloren. Nun scheitern auch alle Versuche, endgültig in den Staatsdienst als Richter aufgenommen zu werden.

Seit 1946 in der CDU

Auch an anderer Stelle bekommt Ehlers die Restriktionen des Hitler-Regimes zu spüren: Die „Jugendwacht“, eine Zeitschrift der evangelischen Jugendverbände, deren Schriftleiter er fünf Jahre ist, wird 1938 eingestellt. Im Zweiten Weltkrieg wird Ehlers einberufen und der Flugabwehr in Hamburg zugeteilt. Dort bleibt er auch bis Kriegsende stationiert.

Im Oktober 1945 wird Ehlers in Oldenburg Oberkirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche, an deren institutionellen Grundlagen er maßgeblich mitarbeitet. Auch politisch ist er nun aktiv: 1946 wird er Mitglied der neu gegründeten CDU. Sein erklärtes Ziel: Den Aufbau eines „christlichen“ Staates, einer wirklichen Demokratie unterstützen.

Aus der Vergangenheit gelernt

Aus der Vergangenheit – auch seiner eigenen in der Weimarer Republik – hat Ehlers gelernt. Zu seinem Engagement im Verein Deutscher Studenten nimmt er selbstkritisch Stellung: „Viele aus der nationalen Bewegung in Deutschland gewachsenen richtigen Ansätze sind jeweils durch eine dämonische Kraft in ihr Gegenteil verkehrt worden.“

Als er 1950 Bundestagspräsident wird, arbeitet Ehlers dafür, der Demokratie in der jungen Bundesrepublik eine sichere und tragfähige Basis zu geben. Die Versäumnisse der Weimarer Republik und die Verbrechen des Nationalsozialismus dürften sich nie mehr wiederholen, so Ehlers. Als unerlässlich für die Verankerung der Demokratie hält er „die Freiheit des Menschen und seine Selbstverantwortung“.

Politik und Bevölkerung zusammenbringen

Aber: Das „Volk müsse zur Demokratie erzogen“ werden. Dementsprechend setzt sich Ehlers dafür ein, Parlament und Bevölkerung zusammenzubringen. Erstmals werden große Plenardebatten im Rundfunk übertragen, und das Bundeshaus wird für Besucher geöffnet.

Als Bundestagspräsident erwirbt sich Ehlers schnell Ansehen: „Wie ein Komet“, sagte sein Amtsnachfolger Eugen Gerstenmaier einmal im Rückblick, sei seine „ordnende Kraft an dem düsteren Himmel der jungen, in Gestaltungswehen liegenden Bundesrepublik“ erschienen. So habe der Staat an Achtung gewonnen, und das Parlament an Profil.

Staatsakt im Bonner Bundeshaus

Dem Amt des Bundestagspräsidenten habe Ehlers darüber hinaus „Leben, Wirksamkeit und Würde“ verliehen. So war die Zustimmung auch über Parteigrenzen hinweg groß, als er sich als Bundestagspräsident 1953 zur Wiederwahl stellte. Völlig überraschend aber starb Herrmann Ehlers rund ein Jahr später, am 29. Oktober 1954, im Alter von nur 50 Jahren an den Folgen einer Mandelvereiterung.

Bundespräsident Theodor Heuss würdigte Leben und Wirken des Politikers mit einem Staatsakt im Bonner Bundeshaus. Viele öffentliche Einrichtungen, die Hermann-Ehlers-Stiftung sowie Bildungswerke der Konrad-Adenauer-Stiftung sind heute nach ihm benannt. (sas/08.04.2025)

Geschichte

Rainer Barzel: Kluger Anreger und Erneuerer

28.09.1969: Helmut Schmidt, SPD-Fraktionsvorsitzender (mit Zigarillo), und Rainer C. Barzel, CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender, begrüßen einander zu Beginn eines Gesprächs im ARD/ZDF 'Studio-Bonn' anläßlich der Bundestagswahl.
29.03.1983
11.07.1961: Bundeskanzler Konrad Adenauer (r.) im Gespräch mit Rainer Barzel, Abgeordneter des Deutschen Bundestages, auf der Terrasse des Palais Schaumburg.
1984: Rainer Barzel, Bundestagspräsident und Bundesminister a.D., während eines Interviews
04.05.1983: Im Deutschen Bundestag gibt Bundeskanzler Helmut Kohl (im Bild) eine Regierungserklärung zur Wirtschafts- und Finanzpolitik ab; hinter ihm Bundestagspräsident Rainer Barzel
19.11.1972: Der Kanzlerkandidat der CDU und Wahlverlierer, Rainer Barzel, stellt sich in der CDU-Parteizentrale (Adenauer-Haus) am Abend der Bundestagswahl den Fragen der Journalisten. Hinten rechts von ihm: Helmut Kohl, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz
28.11.1969: Rainer Barzel, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (r.), tanzt mit Uschi Glas, Schauspielerin (l.), auf dem Bundespresseball in der Beethovenhalle.

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Der CDU/CSU-Vorsitzende Rainer C. Barzel (links) und der SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt begrüßen einander zu Beginn eines Gesprächs im ARD/ZDF-„Studio Bonn“ am 28. September 1969 anlässlich der Bundestagswahl. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ludwig Wegmann)

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Der CDU-Abgeordnete Rainer Barzel (links) im Gespräch mit Bundeskanzler Konrad Adenauer am 11. Juli 1961 auf der Terrasse des Palais Schaumburg in Bonn (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Egon Steiner)

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Bundestagspräsident Rainer Barzel während eines Interviews im Jahr 1984 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Richard Schulze-Vorberg)

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Bundestagspräsident Rainer Barzel (im Hintergrund) leitet die Sitzung des Bundestages während einer Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl zur Wirtschafts- und Finanzpolitik am 4. Mai 1983. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

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Rainer Barzel, CDU-Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl 1972, stellt sich als Wahlverlierer am 19. November 1972 in der CDU-Parteizentrale, dem Konrad-Adenauer-Haus in Bonn, den Fragen der Journalisten; rechts von ihm im Hintergrund der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

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Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel tanzt auf dem Bundespresseball in der Bonner Beethovenhalle am 28. November 1969 mit der Schauspielerin Uschi Glas. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Engelbert Reineke)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Dr. Rainer Barzel, achter Bundestagspräsident vom 29. März 1983 bis zu seinem Rücktritt am 25. Oktober 1984.

Von Ostpreußen nach Berlin und in den Krieg

Er gehört zu den prägenden Gestalten der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte: Dr. Rainer Barzel (CDU). Er war Bundesminister, Fraktionschef, Parteivorsitzender und sogar Kanzlerkandidat seiner Partei. Ein gescheitertes Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) bremste 1972 jedoch seine steile Karriere. Sein höchstes politisches Amt trat Barzel 1983 an, als der Bundestag den gebürtigen Ostpreußen zu seinem Präsidenten wählte. In dieser Funktion regte er Debatten der Abgeordneten über ihr Selbstverständnis, aber auch Parlamentsreformen an. Doch gegen ihn erhobene Vorwürfe im Zusammenhang mit der „Flick-Affäre“, die sich später als haltlos erwiesen, veranlassten Barzel schon im Herbst 1984 zum Rücktritt.

Rainer Barzel wird am 20. Juni 1924 im ostpreußischen Braunsberg als eines von sieben Kindern des Oberstudienrates Dr. Candidus Barzel und dessen Frau Maria geboren. Später zieht die Familie nach Berlin um, wo Barzel zunächst eine von Jesuiten geführte Schule, später das Gymnasium besucht. Nach dem Notabitur wird der 17-Jährige 1941 zur Luftwaffe eingezogen.

Seit 1943 Leutnant, nimmt Barzel bis 1945 bei den Seefliegern am Zweiten Weltkrieg teil. Bei diesen „verrückten“ Einsätzen sei er nicht luftkrank, sondern bewusstseinskrank geworden, sagt Barzel später. Hier die Pflicht, dort das nationalsozialistische Regime. „Das heute Unbegreifliche gehört als traurige Erfahrung zu meinem Leben.“

Jurist, Berater und Redenschreiber

Nach Kriegsende beginnt Barzel in Köln mit dem Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirtschaft, das er 1949 mit dem Ersten Juristischen Staatsexamen beendet. Noch im selben Jahr promoviert er mit der Arbeit „Die verfassungsrechtliche Regelung der Grundrechte und Grundpflichten des Menschen“. Der berufliche Einstieg in die nordrhein-westfälische Verwaltung gelingt ihm ebenfalls 1949.

Dort wird bald der damalige Ministerpräsident Karl Arnold auf den jungen Juristen aufmerksam und fördert ihn: Barzel arbeitet zunächst als Referent der nordrhein-westfälischen Vertretung beim Bi-Zonen-Wirtschaftsrat in Frankfurt, dann als Vertreter des damaligen nordrhein-westfälischen Ministers für Bundesangelegenheiten in Bonn, Carl Spieker.1954 tritt Barzel in die CDU ein, bereits im Jahr darauf beschäftigt ihn Arnold als Berater und Redenschreiber. Als dieser 1956 stürzt, wird Barzel selbst aktiver Politiker.

Politischer „Shooting-Star

Er will selbst gestalten, nicht mehr „weisungsgebunden und abhängig“ arbeiten, schreibt Barzel später über die Anfänge seiner politischen Karriere: 1957 erringt er ein Direktmandat und zieht in den Bundestag ein, dem er rund 30 Jahre angehören wird. In der Unionsfraktion macht sich Barzel rasch einen Namen: Man schätzt ihn aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten und seiner juristisch geschulten Analysefähigkeit.

960, in der dritten Wahlperiode, wird er in den CDU/CSU-Fraktionsvorstand gewählt; Bundeskanzler Konrad Adenauer beruft den Nachwuchspolitiker im Dezember 1962 als Minister für Gesamtdeutsche Fragen in sein Kabinett. Barzel ist zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt und das jüngste Mitglied der Bundesregierung.

Garant der Großen Koalition

1963 vertritt Barzel den erkrankten Fraktionschef Heinrich von Brentano. Als dieser 1964 stirbt, tritt er dessen Nachfolge an. Er gilt als Taktiker und beweist, , dass er auch widerstrebende Interessen in der Union geschickt auszugleichen weiß. Unter Kanzler Ludwig Erhard entwickelt sich Barzel zur Schaltstelle der Regierungspolitik. Als im Herbst 1966 die von Kurt-Georg Kiesinger geführte Große Koalition ihre Arbeit aufnimmt, arbeitet Barzel auch eng mit dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Helmut Schmidt, zusammen.

Es ist eine sachliche und effiziente Kooperation, aus der sich große gegenseitige Wertschätzung entwickelt. Schmidt nennt sein Pendant im Fraktionsvorsitz später einen „formidablen politischen Gegner und persönlichen Freund“. Vor allem aber sorgen Barzel und Schmidt für den nötigen Zusammenhalt der Regierung, als Kanzler Kiesinger und Vizekanzler Willy Brandt kaum noch miteinander sprechen wollen. Die Fraktionsvorsitzenden sind in dieser Zeit die Garanten der Großen Koalition.

Glückloser Oppositionsführer

Nach der Bildung der sozialliberalen Koalition 1969 organisiert Barzel eine schlagkräftige Opposition. Er ist der Hoffnungsträger der CDU, setzt sich auch gegen den Konkurrenten Helmut Kohl im Ringen um den Parteivorsitz durch. Doch sein Stern beginnt zu sinken, als das von ihm 1972 gegen Willy Brandt angestrengte Misstrauensvotum an zwei fehlenden Stimmen aus den eigenen Reihen scheitert. Jahre später wird bekannt, dass zwei Unionsabgeordnete vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit bestochen worden waren und so eine Kanzlerschaft Barzels verhinderten.

Dies bedeutet eine Zäsur in Barzels bis dahin so erfolgreich verlaufener Karriere. In der Folgezeit agiert der Oppositionsführer ohne politische Fortune. Zwar versucht er, in der Auseinandersetzung um die Ostverträge die Tür zur deutschen Einheit offenzuhalten und gleichzeitig die strikte „Nein“-Haltung seiner Partei in ein „So nicht!“ umzuwandeln. Doch sein Rückhalt in der CDU/CSU-Fraktion bröckelt. Als diese bei der Bundestagswahl 1972 verliert, bestätigt man ihn zunächst wieder im Fraktionsvorsitz, doch nur wenige Monate später tritt Barzel zurück. Auch den CDU-Vorsitz gibt er ab.

An der Spitze des Parlaments

Barzel zieht sich aus der ersten Reihe der Politik zurück, behält aber sein Bundestagsmandat und leitet von 1977 bis 1979 den Wirtschaftsausschuss sowie von 1980 bis 1982 den Auswärtigen Ausschuss. Erst nach dem Machtwechsel 1982 kehrt er wieder ins Rampenlicht zurück: Helmut Kohl, jetzt Bundeskanzler, ernennt seinen früheren innerparteilichen Konkurrenten zum Minister für Innerdeutsche Beziehungen.

Nach der vorgezogenen Bundestagswahl 1983 übernimmt Barzel dann sein höchstes politisches Amt: Der Bundestag wählt ihn zum Parlamentspräsidenten. Eine Aufgabe, die Barzel souverän meistert. Gerade die Grünen, mit denen ein anderer Politik- und Kleidungsstil in den Bundestag eingezogen ist, irritieren die etablierten Parteien. Eine Verschärfung der Geschäftsordnung, die diese „Auswüchse“ bekämpfen soll, wehrt Barzel aber ab. „Keiner hat hier ein besseres Mandat als ein anderer“, mahnt er in seiner Antrittsrede.

Er erweist sich auch als „kluger Anreger und Erneuerer“. Das bescheinigt der spätere Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert seinem Amtsvorgänger: „Unvergessen bleibt sein Engagement für die Parlamentsreform.“ So debattieren auf Barzels Vorschlag die Abgeordneten erstmals über das Selbstverständnis des Bundestages. Die sechsstündige Debatte gehört zu den Sternstunden des Parlaments.

Politischer Publizist

Doch schon im Oktober 1984 gerät Barzel im Zusammenhang mit der „Flick-Affäre“ in die Kritik. Die Vorwürfe gegen ihn führen nicht zu einer Verurteilung, doch Barzel tritt dennoch als Bundestagspräsident zurück. 1987 verzichtet er zudem auf eine weitere Kandidatur für das Parlament. Auch wenn er damit sein aktives Politikerleben beendet, so bleibt er doch bis zu seinem Tod der Politik als kritischer politischer Publizist verbunden.

Barzel veröffentlicht mehrere Bücher, darunter auch die 2001 erschienene Autobiografie „Ein gewagtes Leben“. Politiker und Weggefährten würdigen ihn nicht nur als aufrecht-geradlinigen Politiker, der die deutsche Nachkriegszeit maßgeblich geprägt habe, sondern auch als Menschen, der persönliche Schicksalsschläge wie Krankheit, den Verlust seiner ersten beiden Ehefrauen sowie den Selbstmord seiner einzigen Tochter mit Würde und Haltung getragen habe. Am 26. August 2006 stirbt Rainer Barzel nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 82 Jahren in München. (sas/08.04.2025)

Geschichte

Karl Carstens: Sachkenntnis und Leistungswille

23.07.1979: Karl Carstens, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland (1979-1984)
Schwarzweißaufnahme von zwei Männern in Anzügen, die an einem Tisch sitzen und nachdenklich mit der Hand das Hand das Kinn halten.
31.05.1979: Karl Carstens hält im Bundestag seine Abschiedsrede als Bundestagspräsident.
23.05.1973: Karl Carstens, neuer Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, beteiligt sich im Bundestag an der Aussprache zum Besuch des sowjetischen Parteichefs Breschnew.
Bundespräsident Prof. Dr. Karl Carstens bei einer Fernsehübertragung am 07.01.1983, als er die Parlamentsauflösung und somit die Neuwahlen zum 06.03.1983 verkündete.
Der Bundespräsident (1979-1984) Professor Karl Carstens, und seine Frau Veronica wandern durch die Bundesrepublik Deutschland. Die erste Etappe legen sie in Ostholstein zurück. Undatierte Aufnahme.

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Prof. Dr. Karl Carstens als Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland am 23. Juli 1979 (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Engelbert Reineke)

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Zwei Bundestagspräsidenten an einem Tisch: links Richard Stücklen, rechts sein Amtsvorgänger Karl Carstens (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

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Karl Carstens während seiner Abschiedsrede als Bundestagspräsident am 31. Mai 1979. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ludwig Wegmann)

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CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender Karl Carstens am Rednerpult des Bundestages am 23. Mai 1973 während der Aussprache zum Besuch des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ulrich Wienke)

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Bundespräsident Prof. Dr. Karl Carstens während einer Fernsehübertragung am 7. Januar 1983, als er die Parlamentsauflösung und somit Neuwahlen zum 6. März 1983 verkündete. (© picture-alliance/dpa | Wolfgang Eilmes)

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Bundespräsident Karl Carstens und seine Frau Veronica während ihrer Wanderung durch die Bundesrepublik. Die erste Etappe legten sie in Ostholstein zurück (undatierte Aufnahme). (© picture-alliance/dpa | Werner Baum)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Prof. Dr. Karl Carstens, sechster Bundestagspräsident vom 14. Dezember 1976 bis zum 31. Mai 1979.

Vom Parlamentsneuling zum Bundespräsidenten

Er ist der einzige deutsche Politiker, der vom „zweiten zum ersten Mann im Staate“ aufsteigt: Karl Carstens (CDU). Als er das Amt des Bundestagspräsidenten an seinem 62. Geburtstag antritt, hat der Staatsrechtsprofessor bereits eine rasante politische Karriere hinter sich: 1972 wurde Carstens erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt, schon ein Jahr später führte der Parlamentsnovize die Unionsfraktion.

Als Präsident des Deutschen Bundestages bemüht sich Carstens vor allem um eine Reform der parlamentarischen Geschäftsordnung. Zweieinhalb Jahre später ertönt jedoch schon ein neuer Ruf: Am 1. Juli 1979 wird Carstens Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland.

Klassenprimus und Artillerie-Ausbilder

Carl Carstens wird am 14. Dezember 1914 in Bremen geboren. Sein Vater, ein Studienrat, fällt noch vor der Geburt seines Sohnes im Ersten Weltkrieg. Trotz bescheidener Verhältnisse ermöglicht die Mutter Carstens eine gute Bildung. Der Junge ist stets Klassenbester. Nach dem Abitur beginnt er Jura und politische Wissenschaft in Frankfurt zu studieren, wechselt aber mehrfach die Universitäten, nach eigenen Angaben unter anderem auch, um Pressionen durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Carstens studiert in Dijon, München und Königsberg. Seine Examina absolviert er schließlich in Hamburg, wo er auch 1937 promoviert.

Aus Furcht vor einer Nichtzulassung zum Assessorexamen tritt Carstens 1937 in die NSDAP ein. Im Zweiten Weltkrieg dient er ab 1940 in einem Flak-Abteilungsstab überwiegend in Bremen. Von 1943 bis Kriegsende ist Carstens, inzwischen Leutnant, Ausbilder bei einer Flak-Artilleriegruppe in Berlin-Heiligensee. Dort heiratet er Ende 1944 Veronica Prior, damals Rotkreuzschwester im Lazarettdienst.

Anwalt, Staatsrechtsprofessor und Europaexperte

Nach Kriegsende, im Mai 1945, lässt sich Carstens als Rechtsanwalt in Bremen nieder, wechselt jedoch bald zu einer renommierten Anwaltssozietät. Zwischen 1945 und 1947 arbeitet er außerdem als juristische Hilfskraft beim Bremischen Senator für Justiz und Verfassung. Er gilt als ehrgeizig und fleißig und erhält 1948 ein Jahresstipendium für die US-amerikanische Elite-Universität Yale.

1949 wird er als Bevollmächtigter Bremens beim Bund nach Bonn geschickt. 1954 wird Carstens ständiger Vertreter der Bundesrepublik beim Europarat in Straßburg. Neben dieser Tätigkeit hat er 1952 begonnen, an der Kölner Universität als Privatdozent Staatsrecht und Völkerrecht zu lehren. Dort habilitiert sich Carstens 1954 mit einer Arbeit über „Grundgedanken der amerikanischen Verfassung und ihre Verwirklichung“.

Die Beschäftigung mit europäischen Themen führt dazu, dass Carstens 1955 als Experte für Europafragen ins Auswärtige Amt berufen wird. Dort unterstützt er als zuverlässiger Mitstreiter Adenauers die (west-)europäische Integration, die Wiederbewaffnung und die Nato-Mitgliedschaft. 1960 wird er Leiter des Instituts für Recht der Europäischen Gemeinschaften.

Vertreter des Außenministers und Kanzleramtsminister

Auf seinen Eintritt in die CDU 1955 folgt eine steile Karriere. Es sind vor allem Sachkenntnis, Leistungswille und Disziplin, die den Aufstieg beschleunigen: Als Seiteneinsteiger wird er 1960 zum zweiten Staatssekretär im Auswärtigen Amt unter Heinrich von Brentano ernannt, 1961 dann schon zum ständigen Stellvertreter von Bundesaußenminister Gerhard Schröder. 

Nach der Bildung der Großen Koalition 1966 wechselt Carstens als Staatssekretär ins Bundesverteidigungsministerium, 1968 wird er unter Kurt Georg Kiesinger Chef des Bundeskanzleramts.

Vom Parlamentsneuling zum Oppositionschef

In Yale hatte Carstens nicht nur den Master of Laws und exzellente Englischkenntnisse erworben, er hatte auch das amerikanische Modell der mehrgleisigen Karriere im wissenschaftlichen wie im politischen Bereich kennengelernt. Als im Herbst 1969 die Große Koalition zerbricht, gelingt ihm der fliegende Wechsel von der Politik zurück in die Wissenschaft: 1970 wird Carstens Leiter des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Doch schon 1972 zieht es ihn wieder in die Politik: Er erringt über die CDU-Landesliste Schleswig-Holstein und 1976 als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Ostholstein einen Sitz im Deutschen Bundestag – sein erstes Mandat. Schnell erwirbt sich Carstens als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss Ansehen.

Seine große politische Chance kommt, als Rainer Barzel als Unionsfraktionschef im Mai 1973 nicht wieder antritt. Carstens stellt sich zur Wahl und gewinnt – gegen Gerhard Schröder und Richard von Weizsäcker. Als neuer Fraktionsvorsitzender erregt er Aufsehen nicht nur durch seine entschieden konservative Haltung - sondern auch durch polemische Attacken auf den politischen Gegner.

Zweiter und erster Mann im Staat

Als die Union nach der Bundestagswahl 1976 stärkste Fraktion wird, kann sie den Bundestagspräsidenten stellen: Karl Carstens wird an die Spitze des Deutschen Bundestags gewählt und übernimmt am 14. Dezember 1976 die Amtsgeschäfte von seiner Vorgängerin Annemarie Renger (SPD).

Doch lange währt seine Amtszeit nicht: Als im Januar 1979 die Wahl des neuen Bundespräsidenten bevorsteht, schlägt die Union – gegen den Widerstand von SPD und FDP – Carstens für das höchste Staatsamt vor. Doch auch außerhalb des Parlaments wird Kritik laut: Es ist vor allem Carstens‘ frühere NSDAP-Mitgliedschaft, die ihm in einer Pressekampagne vorgehalten wird. Trotz dieses Gegenwindes wird er am 23. Mai 1979 im Alter von 64 Jahren zum Bundespräsidenten gewählt.

„Der Wanderpräsident“

Mit der Wahl von Carstens zum Bundespräsidenten soll für CDU und CSU ein Signal für eine politische Wende in Bonn ausgehen. In seinen Reden als Staatsoberhaupt betont er Werte wie Pflichtbewusstsein, Leistungswillen und Disziplin, spricht oft von Heimat und Nation. Doch der von machen befürchtete Rechtsruck bleibt aus. Mit Carstens verbindet man auch die verfassungsrechtlichen Bedenken des Bundespräsidenten gegen eine Auslösung des Deutschen Bundestages nach der „unechten“ Vertrauensfrage von Helmut Kohl im Dezember 1982.

Carstens beweist Würde, Stil und politisches Fingerspitzengefühl. Auch sucht er bewusst den direkten Kontakt zur Bevölkerung: Auf seinen Wanderungen durch die Bundesrepublik legt er insgesamt rund 1.500 Kilometer zurück und lässt sich dabei gern von Bürgern begleiten.

„Prägende Persönlichkeit“

Nach fünf Jahren im Amt strebt Carstens wegen seines Alters keine zweite Amtszeit an. Nach der Wahl von Weizsäckers im Mai 1984 zum neuen Bundespräsidenten zieht er sich 69-jährig betont aus dem politischen Rampenlicht zurück. Der Träger des Karlspreises der Stadt Aachen, Ehrensenator der Universität Bonn und mehrfache Ehrendoktor widmet sich aber Buchprojekten sowie der Fördergemeinschaft „Natur und Medizin“, die er zusammen mit seiner Frau 1983 gegründet hat.

Am 30. Mai 1992 stirbt Carstens im Alter von 77 Jahren. Sein politischer Weggefährte und Altbundeskanzler Helmut Kohl nannte ihn „eine der prägendsten Persönlichkeiten der Bundesrepublik“. (sas/08.04.2025)

Geschichte

Bärbel Bas: Bürgernähe in unruhiger Zeit

Bärbel Bas hält ihre Antrittsrede während der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages für die 20. Wahlperiode.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas während einer Besichtigung des Werksgeländes des Hüttenwerks Krupp Mannesmann.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas bei der 7. Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der Parlamente der deutschsprachigen Länder. Hier erster Konferenzteil und aktuelle außenpolitische Aussprache.
Bärbel Bas und Andrzej Kacorzyk stehen vor dem Tor mit dem Schriftzug „ARBEIT MACHT FREI“
Gedenkstunde des Deutschen Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus. Hier Gedenkredner Roman Schwarzman (l) bei der Begrüßung durch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (r), SPD, MdB.
Bärbel Bas steht am Redenerpulkt und hält eine Begrüßungsansprache
Bundestagspräsidentin Baerbel Bas empfängt das Netzwerk Frauen machen Bund zu einem Gespräch in Berlin

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Bärbel Bas hält ihre Antrittsrede als Präsidentin des 20. Bundestages. (© DBT/Henning Schacht)

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Bärbel Bas wurde 1968 in Walsum, das heute zu Duisburg gehört, geboren und wuchs mit ihren fünf Geschwistern im Ruhrgebiet auf. (© DBT/Tobias Koch)

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Bas übernimmt das Amt der Bundestagspräsidentin in einer unruhigen Legislatur. Eine Zeit, geprägt von internationalen Krisen und Kriegen. (© DBT/Tobias Koch)

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Eine ihrer Reisen während ihrer Amtszeit führte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas nach Auschwitz. Durch das ehemalige Stammlager Auschwitz I führte der stellvertretende Direktor des Museums und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau Andrzej Kacorzyk (links). (© DBT/Tobias Koch)

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Bärbel Bas empfängt Roman Schwarzman (links), Hauptredner in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus am 29. Januar 2025 (© DBT Thomas Köhler / photothek)

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In die Amtszeit von Bärbel Bas fiel das 75-jährige Jubiläum des Deutschen Bundestages. Mit einer Feierstunde erinnerte das Parlament an die erste Bundestagssitzung am 7. September 1949. (© DBT/Henning Schacht)

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Bas engagierte sich für Bürgerbeteiligung und Geschlechterparität im Parlament und sprach sich für paritätisch aufgestellte Wahllisten aus. (© DBT/Juliane Sonntag / photothek)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Bärbel Bas, Bundestagspräsidentin vom 26. Oktober 2021 bis 25. März 2025.

Dritte Frau an der Spitze des Bundestages

Bärbel Bas war die dritte Frau an der Spitze des Deutschen Bundestages. Erst, wie sie selbst sagt. Nach Annemarie Renger (1972 bis 1976), Rita Süssmuth (1988 bis 1998) – und einem Dutzend Männern, die das Amt seit der Gründung der Bundesrepublik 1949 innehatten. Frauen in und außerhalb der Politik mehr Sichtbarkeit und Gehör zu verschaffen, darin sah Bärbel Bas auch eine ihrer zentralen Aufgaben als 14. Präsidentin des Bundestages. „Es tut unserem Land gut, wenn die Bürgerinnen und Bürger sehen: Im Herzen der Demokratie trägt eine Frau die Verantwortung“, sagte sie am 26. Oktober 2021 in ihrer ersten Rede im Amt. 

Das Vorschlagsrecht für den Posten hat traditionell die stärkste Fraktion. Nach der Bundestagswahl 2021 war somit die SPD am Zug, auf deren Vorschlag hin das Parlament die sozialdemokratische Gesundheitspolitikerin Bas aus Duisburg zu seiner Präsidentin bestimmte. Ein Novum, wie die Abgeordnete nach ihrer Wahl festhielt. Schließlich sei nie zuvor „ein Kind der Stadt“ in ein hohes Staatsamt gewählt worden, sagte Bas.

Ihr Weg an die Spitze des Landes

Bärbel Bas wurde 1968 in Walsum, das heute zu Duisburg gehört, geboren und wuchs mit ihren fünf Geschwistern im Ruhrgebiet auf. Ihr beruflicher Werdegang ist, im Vergleich zu ihren Amtsvorgängern, ungewöhnlich: Hauptschulabschluss mit Fachoberschulreife, Ausbildung zur Bürogehilfin bei der Duisburger Verkehrsgesellschaft, Sachbearbeiterin, später Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten und Fortbildung zur Krankenkassenbetriebswirtin, schließlich Abendstudium zur Personalmanagement-Ökonomin und Abteilungsleiterin bei einer Betriebskrankenkasse. 

Während der Ausbildung wird Bas zur Jugend- und Auszubildendenvertreterin gewählt. „Ich habe schon als Azubi nicht mit meiner Meinung hinterm Berg gehalten“, sagt sie viele Jahre später. Und weiter: „Wer deutlich sagt, was er denkt, wird ganz schnell in ein Amt gewählt.“ Nach der Lehre wird Bas Betriebsratsmitglied und Arbeitnehmervertreterin im Aufsichtsrat. Im Oktober 1988, im Alter von 20 Jahren, tritt sie in die SPD ein. Sie habe nicht nur als Betriebsrätin für bessere Arbeitsbedingungen streiten wollen, sagt sie rückblickend, sondern die politischen Verhältnisse ändern und sich so für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einsetzen wollen. 

Corona, Ukrainekrieg und Hamas-Terror 

In ihrer Familie ist Bärbel Bas die erste, die sich in einer Partei engagiert. Sie wird Vorsitzende des Juso-Unterbezirksvorstands Duisburg, sitzt im Rat der Stadt Duisburg und wird Mitglied der Ruhr-SPD. Nach der Wahl 2009 zieht sie erstmals als direkt gewählte Abgeordnete in den Bundestag ein. Bas wird 2013 Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion und ab 2019 stellvertretende Fraktionsvorsitzende. 

Im Herbst 2021 folgt dann der bisherige Höhepunkt ihrer politischen Karriere: die Wahl zur Bundestagspräsidentin. Doch es ist eine unruhige Legislatur, in der Bas das Amt übernimmt. Eine Zeit, geprägt von internationalen Krisen und Kriegen: Corona samt einer Bundespräsidentenwahl unter Pandemiebedingungen, Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Terrorangriff der Hamas auf Israel. „Es war auf jeden Fall eine heraufordernde Zeit“, bilanziert sie. 

Plädoyer für mehr Bürgernähe 

Dreieinhalb Jahre lang, bis zum vorzeitigen Ende der Wahlperiode am 25. März 2025, wacht Bas an der Spitze des Bundestages über die Einhaltung parlamentarischer Regeln, sie leitet die Plenarsitzungen und vertritt das Parlament nach außen. Zwar mag die politische Macht begrenzt sein, doch das Amt genießt hohes Ansehen. Die Worte der Bundestagspräsidentin haben Gewicht in der Öffentlichkeit, umso aufmerksamer wird verfolgt, welche Schwerpunkte die Amtsträgerinnen und Amtsträger setzen. In ihrer Antrittsrede 2021 wirbt Bas für „eine neue Bürgernähe“. Sie spricht sich für eine verständliche Politik und Beteiligungsformate wie Bürgerräte aus. 

Knapp zwei Jahre nach diesem Appell, im September 2023, eröffnet sie tatsächlich den ersten Bürgerrat des Bundestages. „Sagen Sie, was Sie denken. Und reden Sie, wie Sie immer reden“, fordert sie die 160 ausgelosten Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf. Drei Präsenzwochenenden und sechs Onlinesitzungen später überreicht ihr das Gremium Anfang 2024 ein Gutachten mit neun Empfehlungen rund um das Thema Ernährung im Wandel, vom kostenlosen gesunden Mittagessen in Schulen und Kitas bis zum Mindestalter beim Kauf von Energydrinks

„Es ist härter geworden“

Außer für Bürgerbeteiligung und Geschlechterparität im Parlament Bas ist Verfechterin paritätisch aufgestellter Wahllisten plädiert die 14. Bundestagspräsidentin von Beginn der Legislaturperiode an für einen respektvollen Umgang im Hohen Haus. „Hass und Hetze sind keine Meinung“, sagt sie nach ihrer Wahl. Als Präsidentin werde sie das Parlament vor Angriffen schützen und die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen. 

Im Laufe ihrer Amtszeit äußert sie sich wiederholt kritisch über einen rauer werdenden Ton, auch im Hohen Haus. Sie verteilt Ordnungsrufe in Rekordhöhe und spricht sich für schärfere Sanktionsmaßnahmen aus. „Es ist härter geworden, es sind persönliche Angriffe dazugekommen“, bilanziert sie. Ihre letzte Rede im Amt nutzt sie denn auch, um ihren anfänglichen Appell zu bekräftigen: „Politische Auseinandersetzungen müssen wir mit Respekt und Achtung vor der Meinung der anderen führen, auch in den Diskussionen am Arbeitsplatz und in der Familie.“ 

Staffelübergabe im Parlament

Es ist ein Anliegen, das sie mit ihrer Nachfolgerin teilt. Auch Julia Klöckner warb in ihrer ersten Rede als Parlamentspräsidentin für ein respektvolles Miteinander und den Willen, einander zuzuhören und gemeinsam nach politischen Kompromissen zu suchen. 

Mit der Unionsabgeordneten aus Rheinland-Pfalz folgt zudem erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Frau auf eine Frau an der Spitze des Parlaments. Bärbel Bas nimmt indes wieder im Halbrund des Plenarsaals Platz. Bei der Bundestagswahl 2025 gewann sie zum fünften Mal ihren Wahlkreis Duisburg I. (irs/08.04.2025)

Geschichte

Annemarie Renger: Leidenschaftliche Demokratin

Die SPD-Abgeordnete Annemarie Renger am 07.10.1954 im Plenum des Deutschen Bundestages in Bonn. Sie war die Vertraute des 1952 verstorbenen SPD-Vorsitzenden Schumacher; 1972 wurde Renger als erste Frau zur Bundestagspräsidentin gewählt.
Alterspräsident Ludwig Erhard von der CDU gratuliert der neuen Bundestagpräsidentin Annemarie Renger nach ihrer Wahl am 13.12.1972 im Deutschen Bundestag in Bonn. Die SPD-Abgeordnete war mit 438 von 513 gültigen Stimmen gewählt worden.
Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (SPD) in einer Diskussion mit Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (l, SPD) über die Reform des Abtreibungsparagrafen 218 am 05.06.1974 im Bundestag in Bonn. Die Momentaufnahme vermittelt den wohl falschen Eindruck, dass Frau Renger dem Vogel einen Vogel zeigt.
Feierstunde des Deutschen Bundestages aus Anlass des 100. Geburtstages des früheren Bundestagspräsidenten Prof. D. Dr. Eugen Gerstenmaier. Bundestagspräsidentin a.D. Dr. h.c. Annemarie Renger, SPD, bei ihrer Ansprache. 25. Oktober 2006
Porträtfoto von Annemarie Renger 1970
02.12.1949: Kurt Schumacher, Vorsitzender der SPD, verlässt das Bundeshaus (links Erich Ollenhauer, stellvertretender SPD-Vorsitzender; rechts Annemarie Renger, Sekretärin des SPD-Vorsitzenden)
14.05.1975: Annemarie Renger, Präsidentin des Bundestags, in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch.
13.01.1973: Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (M.) besichtigt mit Bezirksbürgermeister Horst Bowitz (mit Pelzkragen) ein Sanierungsgebiet im Bezirk Wedding.
13.12.1972: Annemarie Renger wird in der konstituierenden Sitzung des siebten Deutschen Bundestages zur ersten Bundestagspräsidentin in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gewählt.
08.09.1999: Die frühere Bundestagspräsidentin Annemarie Renger würdigt die Arbeit der Parlamentarierinnen in den letzten 50 Jahren während einer Sonderveranstaltung im Deutschen Bundestag.

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Die SPD-Abgeordnete Annemarie Renger am 7. Oktober 1954 im Plenarsaal des Bundestages in Bonn; 1972 wurde sie als erste Frau zur Bundestagspräsidentin gewählt. (© picture-alliance/dpa)

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Der frühere Bundeskanzler Ludwig Erhard gratuliert Annemarie Renger am 13. Dezember 1972 zur Wahl zur Präsidentin des Deutschen Bundestages. Die SPD-Abgeordnete war mit 438 von 513 gültigen Stimmen gewählt worden. (© picture-alliance/dpa | Steiner)

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Bundestagspräsidentin Annemarie Renger in einer Diskussion mit Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (links) über die Reform des Abtreibungsparagrafen 218 am 5. Juni 1974 im Bundestag in Bonn. Die Momentaufnahme vermittelt, den wohl falschen Eindruck, dass Renger Vogel einen „Vogel zeigt“. (© picture alliance/Egon Steiner)

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Die frühere Bundestagspräsidentin Annemarie Renger während ihrer Ansprache in der Feierstunde des Bundestages aus Anlass des 100. Geburtstages ihres Amtsvorgängers Prof. D. Dr. Eugen Gerstenmaier am 25. Oktober 2006. (© DBT/Hans-Günther Oed)

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Annemarie Renger im Jahr 1970 (© DBT/Slomifoto)

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Kurt Schumacher (Mitte), Vorsitzender der SPD, verlässt am 2. Dezember 1949 das Bundeshaus in Bonn; links der stellvertretende SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer, rechts Annemarie Renger, damals Sekretärin des SPD-Vorsitzenden. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung)

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Bundestagspräsidentin Annemarie Renger am 14. Mai 1975 am Schreibtisch in ihrem Bonner Arbeitszimmer (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Richard Schulze-Vorberg)

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Bundestagspräsidentin Annemarie Renger (Mitte) besichtigt am 13. Januar 1973 mit dem Berliner Bezirksbürgermeister Horst Bowitz (mit Pelzkragen) ein Sanierungsgebiet im Bezirk Wedding. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Gert Schütz)

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Die SPD-Abgeordnete Annemarie Renger wird in der konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. Dezember 1972 zur ersten Bundestagspräsidentin in der Geschichte der Bundesrepublik gewählt. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Ludwig Wegmann)

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Die frühere Bundestagspräsidentin Annemarie Renger würdigt die Arbeit der Parlamentarierinnen der zurückliegenden 50 Jahre während einer Sonderveranstaltung des Deutschen Bundestages am 8. September 1999. (© Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Bernd Kühler)

Nach dem Bundespräsidenten ist es der höchste Posten zur Repräsentation der deutschen Demokratie: Das Amt des Bundestagspräsidenten – protokollarisch der zweithöchste Rang im Staat. Mag die politische Macht auch begrenzt sein, so genießt das Amt doch höchstes Ansehen. Das Wort der Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die elf Männer und drei Frauen an der Spitze des deutschen Parlaments vor. Hier: Dr. h. c. Annemarie Renger, von 1972 bis 1976 die erste Frau in diesem Amt.

Erste Frau im Amt

Als Annemarie Renger (SPD) 1972 zur Bundestagspräsidentin gewählt wird, ist das in zweierlei Hinsicht eine Premiere: Zum ersten Mal übernimmt eine Frau das Amt an der Spitze des Parlaments – und zum ersten Mal bekleidet ein Mitglied der SPD-Fraktion dieses Amt, nachdem die SPD durch ihren Wahlsieg stärkste Fraktion im Bundestag geworden ist.

Das gefällt nicht jedem: Im Bundestag und selbst in ihrer eigenen Fraktion ist ihr Aufstieg zur Parlamentspräsidentin zunächst umstritten. Doch schnell erwirbt sich Renger breite Anerkennung. Geschickt, charmant und resolut steuert die Politikerin die Arbeit des Bundestages. Ihr Resümee nach vierjähriger Amtszeit: „Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann!“

Von Leipzig über Berlin in die Lüneburger Heide

Annemarie Renger wird am 7. Oktober 1919 als fünftes Kind von Martha und Fritz Wildung in Leipzig geboren. Sie wächst in einer sozialdemokratisch geprägten Familie auf: Der Vater ist Stadtrat und bis zur Machtübernahme der Nazis 1933 führend in der Arbeitersportbewegung aktiv. 1924 siedelt die Familie nach Berlin um, wo Annemarie Renger bis 1934 ein Lyzeum besucht.

Als ihr aufgrund der politischen Einstellung der Eltern das Schulstipendium gestrichen wird, beginnt sie eine dreijährige Lehre im Verlagswesen. Nach der Prüfung zur Kaufmannsgehilfin arbeitet sie in verschiedenen Funktionen als Angestellte, auch als Stenotypistin. 1938 heiratet sie den Werbeleiter Emil Renger, und im selben Jahr wird Sohn Rolf geboren.

Emil Renger fällt 1944 in Frankreich. Auch drei ihrer Brüder sterben im Zweiten Weltkrieg. Annemarie Renger wird kurz vor Kriegsende aus dem umkämpften Berlin evakuiert und zieht zu Verwandten in die Lüneburger Heide. Den 8. Mai 1945 erlebt sie in Visselhövede.

Persönliche Vertraute und engste Gefährtin Kurt Schumachers

In dieser Zeit stößt sie beim Lesen des „Hannoverschen Kuriers“ auf Auszüge einer Rede Kurt Schumachers. Der aus zehnjähriger KZ-Haft entlassene Sozialdemokrat betreibt nach Kriegsende von Hannover aus die Wiederbelebung der SPD. „Da war von demokratischem Neuaufbau die Rede und dem Lebensrecht auch dieses geschlagenen Volkes“, schreibt Renger später in ihren Memoiren. „Die Sätze machten mir Mut.“

Sie beeindrucken die damals 25-Jährige so sehr, dass sie an Schumacher schreibt und ihm ihre Mitarbeit anträgt. Am 15. Oktober 1945 nimmt Renger ihre Tätigkeit auf: Bald ist sie Sekretärin, Reisebegleiterin, persönliche Vertraute und engste Gefährtin des SPD-Vorsitzenden. Renger leitet das Verbindungsbüro der SPD zur Partei und den Behörden in Berlin und führt Schumachers Haushalt.

Sozialdemokratin und Bundestagsabgeordnete

Nach dessen Tod 1952 beginnt Renger, sich aktiv politisch zu engagieren. Bereits 1953 zieht sie als SPD-Abgeordnete in den Bundestag ein. Bis 1990 wird sie ihm ununterbrochen angehören – 37 Jahre lang. In dieser Zeit ist Renger unter anderem Mitglied im Innenausschuss, im Entwicklungshilfeausschuss, dem Auswärtigen Ausschuss sowie im Gemeinsamen Ausschuss nach Artikel 53a des Grundgesetzes, der das „Notparlament“ im Verteidigungsfall darstellt, wenn dem rechtzeitigen Zusammentreten des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegenstehen.

Auch in der SPD bekleidet sie viele hohe Ämter: Von 1961 bis 1973 gehört sie dem Parteivorstand an, von 1970 bis 1973 auch dem Präsidium. Sieben Jahre, von 1966 bis 1973, ist sie Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses. Zudem ist sie die erste Frau, die den Posten einer parlamentarischen Geschäftsführerin übernimmt. Von 1969 bis 1972 ist sie zuständig für Finanzen, Personal, Ausschussbesetzung und die Präsenz in der Fraktion.

Höhepunkt der politischen Karriere: Bundestagspräsidentin

Nach ihrem Wahlsieg 1972 ist die SPD stärkste Fraktion im Bundestag. Annemarie Renger erreicht nun den Gipfel ihrer politischen Karriere: Am 13. Dezember 1972 wird sie zur Bundestagspräsidentin gewählt – auch gegen Zweifler in der eigenen Fraktion.

Schon ihre Kandidatur sei für manchen „beinahe eine Provokation“ gewesen, so erinnerte sich der spätere Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert (CDU) beim Staatsakt im Bundestag für seine 2008 verstorbene Vorgängerin. Aber Renger habe immer schon über eine „gesunde Portion Selbstvertrauen“ verfügt.

Als Bundestagspräsidentin schiebt sie überfällige Reformen an und intensiviert die parlamentarischen Beziehungen zu Deutschlands östlichen Nachbarn. Renger ist es auch, die die ersten Bundestagsdelegationen nach Polen, Rumänien und in die Sowjetunion leitet.

Leidenschaftlicher Einsatz für Israel und Europa

Nach der Bundestagswahl 1976 wird Karl Carstens neuer Bundestagspräsident und Annemarie Renger Vizepräsidentin. Im Mai 1979 lässt sie sich dann, trotz aussichtsloser Position, von ihrer Partei in die Pflicht nehmen und kandidiert für das Amt des Bundespräsidenten. Das findet Anerkennung in der SPD, mit der Renger jedoch nicht immer eins ist: Bereits 1973 wird sie aus dem Präsidium gewählt, für manche Beobachter Zeichen eines beginnenden Linksrucks.

Anfang der achtziger Jahre geht Renger, dem konservativen Flügel der SPD angehörend, zudem in Opposition zum Vorsitzenden Willy Brandt. Sie fordert mehr Abgrenzung von „Randgruppen“, während Brandt um deren Integration bemüht ist. Nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag 1990 setzt sich Renger als Präsidentin des Deutschen Rats der Europäischen Bewegung für die Weiterentwicklung der EU ein.

Heinz-Galinski-Preisträgerin

Besonderes Engagement zeigt sie zeitlebens für den deutsch-israelischen Dialog: 14 Jahre ist Renger Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe im Bundestag. 2006 erhält sie den Heinz-Galinski-Preis der jüdischen Gemeinde Berlin.

Am 3. März 2008 stirbt Annemarie Renger im Alter von 88 Jahren nach langer Krankheit in ihrem Haus in Remagen-Oberwinter. Sie war zweimal verwitwet und überlebte auch ihren Sohn Rolf (1938 bis 1998). Beim Staatsakt im Bundestag am 13. März 2008 würdigte Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert seine Vorgängerin als „bedeutende Parlamentarierin und leidenschaftliche Demokratin“. (sas/08.04.2025)