Frank Schwabe: Europarat ist in seiner schwierigsten Phase seit Bestehen

Frank Schwabe (SPD) ist Leiter der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates. (© DBT/Thomas Köhler / photothek)
„Der Europarat ist in seiner schwierigsten Phase seit Bestehen“, sagt Frank Schwabe (SPD), Leiter der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PVER), die vom 7. bis 11. April 2025 zu ihrer zweiten Sitzungswoche in Straßburg zusammenkam. Gleichzeitig sei der Europarat, in einer Zeit der Orientierungslosigkeit und des Extremismus, mit seinen Werten Hoffnungsort für hunderte Millionen Menschen in ganz Europa.
Für viele trete er bei der Durchsetzung der gemeinsamen Werte zu leise auf. Im Interview spricht Schwabe über die Lage in Georgien, in Serbien, auf dem Westbalkan, in der Türkei aber auch in der Ukraine. An die Jugend appelliert der SPD-Politiker, angesichts autoritärer Tendenzen wachsam zu bleiben, sich nicht entmutigen zu lassen und die Zukunft Europas in die Hand zu nehmen. Das Interview im Wortlaut:
Herr Schwabe, Massenproteste gegen Regierungen mit autoritärem Habitus oder unter Korruptionsverdacht – in Georgien, in Serbien, in der Türkei. Der andauernde Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Die stille Erosion des Rechtsstaates selbst in EU-Ländern, beispielsweise in Ungarn. Menschenrechte sind vielerorts unter Druck. Es gab schon mal ruhigere Zeiten, oder?
Der Europarat ist in seiner schwierigsten Phase seit Bestehen. Und das sage ich mit Bedacht. Die Trumps Europas heißen Vučić, Iwanischwili, Orban, Fico, Le Pen oder auch Weidel. Das ist ein und dieselbe Denke, nämlich: Das Modell einer auf Aufklärung und wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Demokratie infrage zu stellen. Das ist mit den Werten des Europarats – von Demokratie und der Achtung von Rechtsstaat und Menschenrechten – schlichtweg nicht vereinbar. Der Europarat soll den Staaten Richtung geben. Und er ist dann stark, wenn er konsequent zu seinen Werten steht und sie nicht aufweicht. Er ist mit seinen Werten weiterhin der Hoffnungsort für hunderte Millionen Menschen in Europa. Wenn er von Millionen Demonstrierenden in Tiflis, Belgrad oder Istanbul kritisiert wird, dann ja nicht wegen seiner Werte, sondern weil er in der Vertretung dieser seiner Werte zu leise ist.
Mit der Lage in Georgien haben sich die Delegierten während der zweiten Sitzungswoche in einer Dringlichkeitsdebatte befasst. Kann der Europarat den freiheitswilligen Demonstranten in Tiflis angesichts der irritierenden Einmischung Russlands in die Geschicke des Landes irgendwelche Rettungsinstrumente zuwerfen?
Wir können keine Länder retten. Wir können nur mahnen, bewerten, aufklären, beobachten und Menschen einen Rechtsschutz bieten, durch das System der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Wir müssen die Autoritäten in Ländern respektieren, aber wir dürfen uns nicht mit ihnen gemein machen, sondern sie da kritisieren, wo sie zu kritisieren sind. Alles andere macht uns unglaubwürdig und entmutigt diejenigen, die für unsere Werte Gesundheit und Leben geben. Und es macht uns da unsichtbar, wo wir mit unseren Werten sichtbar sein müssen.
Die georgische Delegation hat auf eine Teilnahme an der Versammlung verzichtet. Will sich die Führung in Tiflis auf diese Weise den mit der Mitgliedschaft im Europarat verbundenen Verpflichtungen entziehen?
So sieht es aus. In Georgien sehen wir eine galoppierende autoritäre Entwicklung. Ständig werden neue Gesetze gemacht, die die Zivilgesellschaft weiter einschränken sollen. Täglich entfernt sich Georgien weiter von der Europäischen Union. Wir haben das in einem Beschluss vom Januar heftig kritisiert und mit Konsequenzen gedroht. Es ist aber nichts besser geworden. Im Gegenteil. Deshalb ist Georgien lieber gar nicht angereist.
Welchen Widerhall fanden die Proteste in Serbien und die Lage auf dem Westbalkan in der Versammlung? Dazu war für die Sitzungswoche eine Aktualitätsdebatte beantragt und zu den jüngsten Wahlen in Kosovo ein Bericht vorgestellt worden.
Mit George Papandreou war einer der erfahrensten Parlamentarier der Berichterstatter. In der Debatte wurde eine große Besorgnis deutlich, weil vor allem ausgehend vom serbischen Präsidenten der Westbalkan in einer gefährlichen Lage ist. Wer Ländergrenzen entlang ethnischer Zugehörigkeiten, insbesondere in Bosnien und Herzegowina, neu ziehen will, öffnet die Büchse der Pandora und befördert weitere Kriege. Das gilt auch für Kosovo. Kosovo ist eine Realität. Und Kosovo funktioniert als Land. Sie haben Wahlen nach guten internationalen Standards abgehalten – mit einem nationalen Pathos, das nicht jedem gefällt, das aber nicht infrage stellt, dass die Wahlen frei und fair waren.
Zum Thema Korruption, gegen die nicht nur in Serbien demonstriert wird, haben Sie einen Bericht vorgelegt: „Respect for the rule of law and the fight against corruption within the Council of Europe“. Welche Botschaft geht von dem Bericht aus?
Wir waren von einem schweren Korruptionsskandal als Europarat selbst erschüttert. Als eine Konsequenz werden die Fälle der ehemaligen Bundestagsabgeordneten Eduard Lintner, Axel Fischer und Karin Strenz seit Monaten vor Gericht in München verhandelt. Es gibt den Verdacht der Bestechlichkeit und der Bestechung durch Aserbaidschan. Allein hier reden wir über rund vier Millionen Euro. So etwas darf es nie wieder geben. Jedenfalls müssen wir dafür alles tun. Der Bericht sorgt dafür, dass alle Abgeordneten eine noch größere Transparenz an den Tag legen müssen. Und es wird strenger geprüft. Und es gibt ein Organ, das im Falle von Verfehlungen einen externen Bericht erstellen kann. Außerdem wird die Funktion eines Generalberichterstatters für Ethik und Antikorruption geschaffen. Vor allem müssen wir aber eine Kultur der Antikorruption etablieren.
Die Türkei hat die Versammlung in den vergangenen Jahren bereits vielfach beschäftigt. Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gerieten dort immer wieder unter Druck, Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wurden nicht umgesetzt. Wie hat die Versammlung nun, nach der Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters und den Massenprotesten gegen Präsident Erdoğan, die Lage der Demokratie und der Menschenrechte in der Türkei bewertet?
Als höchst schwierig. Die Lage war vorher schon problematisch. Mit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu gibt es aber nochmal eine neue Dimension. Bisher war das ganze Wahlumfeld in der Türkei nicht fair. Keine freien Medien, keine freie Zivilgesellschaft, Druck auf die Opposition. Aber es schien trotzdem möglich, dass bei Wahlen die Opposition gewinnt. So war es ja dann auch bei den letzten Kommunalwahlen. Mit der Inhaftierung von Ekrem İmamoğlu will Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu offensichtlich denjenigen beiseite räumen, der ihn nach heutiger Lage der Dinge bei den nächsten Wahlen schlagen würde. Die Parlamentarische Versammlung hat das erkannt und seine sofortige und bedingungslose Freilassung gefordert.
Noch 2022, in dem Jahr des russischen Überfalls auf die Ukraine, hat der Europarat einen Wiederaufbauplan für die Ukraine beschlossen, der darauf zielt, die Institutionen des Landes zu stärken und die Grundrechte der Bürger zu schützen, indem er die demokratische Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit unterstützt. Wie steht es um dieses Vorhaben?
Die Ukraine ist seit dem vollständigen russischen Angriffskrieg auf das Land beständiges Thema des Europarats. So auch bei dieser Parlamentarischen Versammlung. Dabei geht es um ein Sondertribunal, um Putin und seine Helfershelfer zur Rechenschaft zu ziehen, ebenso wie um eine Registrierung der Schäden, um Schadensersatz geltend machen zu können. Die Verpflichtungen der Ukraine selbst stehen nicht so sehr im Mittelpunkt. Das ist ja auch schwierig unter Kriegsbedingungen. Wahlen sind grundlegend für eine Demokratie, können unter den aktuellen Bedingungen aber nicht stattfinden.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands in der Ukraine und die Menschenrechtsverletzungen russischer Streitkräfte sollen von einem internationalen Tribunal juristisch aufgearbeitet, Opfer entschädigt werden. Der Europarat will mit einem Schadensregister zur Dokumentation von Kriegsverbrechen beitragen. Wie weit ist dieses Vorhaben?
Das Schadensregister funktioniert gut. Bereits zehntausende Fälle sind angezeigt. Leider kommen ja täglich neue Fälle dazu. Jetzt geht es darum, aus der Registrierung heraus in eine Entwicklung der Kriterien einer Entschädigung zu kommen. Und in einem weiteren Schritt muss klar werden, woher das Geld kommt, bevor in einem letzten Schritt die praktische Entschädigung folgt.
Im Wahlkampf in Deutschland spielte das Thema Migration eine dominante Rolle. Was kann der Europarat dazu beitragen, damit einerseits Hilfe für Menschen in Not und andererseits eine gesteuerte Zuwanderung mit Zugang von dringend benötigten Fachkräften zum Arbeitsmarkt voneinander getrennt behandelt werden?
Der Europarat ist darüber genauso gespalten wie alle europäischen Gesellschaften. Wir haben aber in einem viel diskutierten Beschluss deutlich gemacht, dass lange entwickelte internationale Standards nicht einfach so über Bord geworfen werden dürfen. Geflüchtete haben Rechte. Zum Beispiel darauf, dass ihr Gesuch geprüft werden muss.
Herr Schwabe, angesichts der vielen Krisenherde, die sich momentan auftun und bei denen vielfach auch der Europarat gefragt ist: Wie schaffen Sie es als Delegationsleiter, aber auch als erfahrener Parlamentarier, Außen- und Europapolitiker, bei Ihrer Arbeit die Orientierung zu behalten?
Ich spüre diese Verunsicherung, die ja nicht nur Deutschland, sondern viele europäische Staaten erfasst hat, ja auch. Das hat Gründe. In Osteuropa andere als in Westeuropa. Gemeinsam ist, dass alte Zwänge, aber auch alte Gewissheiten weggefallen sind: zu wissen, wer und wo man ist, wie es weitergeht. Im Osten gab es klare Vorgaben, gegen die bei Strafe durch den Staat nicht verstoßen werden durfte. Im Westen waren es eher Zuordnungen in einer an Klassen orientierten Gesellschaft und einem auf das unmittelbare Umfeld bezogenen Lebensumfeld. Das hat eingeengt, aber auch Orientierung gegeben. Das alles zerfällt oder ist zerfallen – verbunden mit mehr Freiheit, aber auch mit Orientierungslosigkeit. Das machen sich Extremisten zunutze, die im Kern unsere Demokratien durch Autokratien ersetzen wollen. Darauf muss man mit Abscheu, aber auch mit Klarheit blicken. Der Kampf ist nicht verloren. Die Mehrheit will, dass wir demokratisch sind, dass alle gleich vor dem Recht sind und dass ihre Rechte vor der Obrigkeit geschützt werden. Darum geht es, darum ringe ich jeden Tag. Und dabei bin ich keineswegs allein.
Wie ermutigen Sie, als Repräsentant einer Organisation, die für grundlegende Werte unseres Lebens in Europa einsteht, die jungen Leute angesichts der schwierigen Lage in vielen Ländern? Geben Sie ein paar Stichworte!
Die Europäische Jugendbildungsstätte Magdeburg wurde gerade für ihre Jugendarbeit ausgezeichnet – für ihre „herausragende Art, sich für Demokratiebildung, Menschenrechte und internationale Kooperation zu engagieren“. Ich trete dafür ein – die alte und die neue Bundesregierung tun das auch –, dass wir der Jugend eine Stimme geben. Diejenigen, die sich im Rahmen des Europarats engagieren, vertreten unsere Werte, klar und ungefiltert, ohne diplomatische Kompromisse. Deshalb eine klare Botschaft für die Jugend: Ihr entscheidet, in welche Richtung sich unser Land und damit auch das Europa des Europarats wendet. Reist in andere Länder, sucht den Austausch, kämpft für eure Reisefreiheit! Lasst sie euch nicht nehmen! Nutzt eure Reichweite in den sozialen Medien! Erzählt die Geschichten eures Engagements für Menschenrechte und Demokratie! Lest Bücher über die Vergangenheit, über die Entstehung des Europarats und darüber, was das mit der deutschen Geschichte zu tun hat. Bleibt wachsam und lasst euch nicht entmutigen! (ll/16.04.2025)