Rede zum 75. Jahrestag des Gefangenentransportes von Sachsenhausen nach Hoheneck

Die SED-Opferbeauftragte bei ihrer Rede anlässlich des 75. Jahrestages des Gefangenentransportes von Sachsenhausen nach Hoheneck. (© DBT / Team Zupke)
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer,
liebe Nancy Aris,
liebe Anna Kaminsky,
lieber Herr Prof. Appelius,
liebe ehemalige Hoheneckerinnen,
lieber Alexander Latotzky,
liebe Angehörige,
sehr geehrte Gäste,
wenn ich mit Abgeordneten im Deutschen Bundestag über die SED-Diktatur spreche und welche Folgen sie für die Betroffenen bis heute hat, erzähle ich ihnen häufig eine Geschichte. Es ist die Geschichte eines Jungen, der 1957 auf einem Bahnsteig in Ost-Berlin steht. Er wartet. Ein Zug kommt, Leute steigen aus, der Bahnsteig leert sich wieder, nur eine ältere Frau bleibt stehen. „Geh mal hin und frag, ob sie deine Mutter ist!“ wird der kleine Junge von seiner Begleitung aufgefordert.
„Geh mal hin und frag, ob sie deine Mutter ist!“
Nein, die Frau, sie ist nicht seine Mutter. Sie ist eine Tante, die die Mutter geschickt hat, weil sie sich selbst nicht mehr nach Ost-Berlin traut. Die Tante aber nimmt den Jungen mit nach West-Berlin.
Dort angekommen, rennt eine kleine Frau auf ihn zu. Unter Tränen erklärt sie ihm, dass sie seine Mutter ist. Für ihn aber, für ihn, ist sie nur eine Fremde. Seine Mutter. Sie war eine der ca. 30.000 weiblichen politischen Häftlinge der DDR. Sie war eine der ca. 8.000 Frauen, die aus politischen Gründen in Hoheneck inhaftiert waren.
Der kleine Junge. Er kam in Haft zur Welt. Seine Mutter war wegen angeblicher Agententätigkeit von einem sowjetischen Militärtribunal zu 15 Jahren Strafarbeitslager verurteilt worden. Als man beide 1950 in einem Transport vom Lager Sachsenhausen nach Hoheneck verlegte, trennte man den knapp Zweijährigen von seiner Mutter. Ihr Weg führte hierher, in die Hölle von Hoheneck. Sein Weg führte durch die Kinderheime einer unmenschlichen Diktatur. Mich trifft diese Geschichte immer wieder, wenn ich von ihr berichte.
Diese Geschichte, lieber Alexander Latotzky, ist deine Geschichte. Und lieber Alexander, ich bin dir dankbar, dass du uns – ebenso wie Annemarie Krause – an deinen Erinnerungen teilhaben lässt.
Ich bin Ihnen, lieber Herr Appelius, und Ihnen, liebe Hoheneckerinnen, dankbar, dass Sie mit dieser Veranstaltung, dem 75.Jahrestag des Transportes von Frauen und Kleinkindern 1950 von Sachsenhausen hier nach Hoheneck, eine Zeit der frühen DDR in den Mittelpunkt rücken. Es ist eine Zeit, bei der ich immer wieder erlebe, dass viele Menschen keine Vorstellung davon haben, was diese Jahre für eine zentrale Bedeutung für unsere Geschichte haben. Diese Zeit, die SBZ und schließlich die frühe DDR, ist mehr als eine Art Nachbeben des Zweiten Weltkrieges. Diese Zeit zu verstehen, ist wichtig. Die Auseinandersetzung mit dieser Zeit kann wie ein Schlüssel sein. Es ist ein Schlüssel zum Verständnis von Jahrzehnten Diktatur im Osten Deutschlands.
Die Einschüchterung einer ganzen Gesellschaft – die Angst als Kitt der Diktatur! Der Mensch, nicht mehr als Spielball eines repressiven Regimes! All das fand in dieser Zeit seinen Anfang. Gerade in der Auseinandersetzung mit dieser Zeit können wir einem noch immer weit verbreiteten Mythos entgegentreten.
Nein, der Sozialismus im östlichen Teil Deutschlands war eben nicht der Versuch einer besseren, gerechteren Gesellschaft! Es war kein Gesellschaftsmodell, was gut begann und über die Jahre und Jahrzehnte auf die schiefe Bahn geriet. Der unmenschliche Transport aus dem Speziallager Sachsenhausen und die Haftbedingungen hier in Hoheneck zeigen uns eindrücklich, dass Repressionen und die Verletzung der Menschenrechte zentrale Instrumente zum Machterhalt waren.
Lieber Herr Ministerpräsident Kretschmer. Ich bin dankbar, dass Sie heute hier nach Hoheneck gekommen sind. Für mich ist dies ein wichtiges Signal in Richtung der Betroffenen, aber ebenso auch in Richtung unserer Gesellschaft. Und ich bin Ihnen dankbar, und ich denke, ich spreche hier auch für die Landesbeauftragte Nancy Aris, dass wir Sie als Partner an unserer Seite wissen dürfen, wenn es darum geht, die Opfer noch besser zu unterstützen und das Leid nicht zu vergessen. Ich bitte Sie daher, dass der Freistaat Sachsen diese Gedenkstätte, die sich noch im Aufbau befindet, weiterhin so engagiert begleitet.
Dieser Ort, die Gedenkstätte Frauengefängnis Hoheneck, trägt dazu bei, wie auch diese Veranstaltung, dass wir die historischen Zusammenhänge richtig verstehen. Gleichzeitig kann uns als Gesellschaft dieser Ort und die Auseinandersetzung mit den Opfern dabei helfen, das Bewusstsein für den Wert der freiheitlichen Demokratie und der Menschenrechte zu stärken.
Hoheneck mahnt uns jeden Tag aufs Neue.
Nie wieder Diktatur!
Vielen Dank!