20.11.2024 | Parlament

Rede bei der Eröffnung der Wanderausstellung des Bundesarchivs - Stasi-Unterlagen-Archiv in der Bürgerhalle der Bezirksregierung Münster

Das Foto zeigt eine Frau, die in ein Mikrofon spricht. Sie steht in einer Halle auf einer Bühne an einem Rednerpult.

Die SED-Opferbeauftragte hält zur Eröffnung der Ausstellung eine Rede. (© Team Zupke)

Sehr geehrter Herr Regierungspräsident Bothe,
liebe Frau Professorin Münkel, liebe Daniela,
lieber Herr Richter-Kariger,

heute bin ich mit dem Zug aus Berlin gekommen. Rund vier Stunden Fahrt, einmal von Ost nach West. Wenn ich ehrlich bin, habe ich den Moment im Zug, als wir die ehemalige Grenze überquert haben, völlig verpasst. Es ist für mich und für uns alle heute völlig selbstverständlich, dass wir frei reisen können. Von Berlin nach Münster. Oder von Aachen nach Görlitz. 

Manchmal denke ich, es würde uns als Gesellschaft helfen, wenn wir uns stärker an die Zeit der Deutschen Teilung zurück erinnern würden. Zurück erinnern daran, dass die Demokratie in Deutschland noch vor wenigen Jahrzehnten eben keine Selbstverständlichkeit war. 

Was bedeutet es in einer Diktatur zu leben? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist wichtig. Mit Blick auf die Vergangenheit, um unsere Geschichte zu verstehen. Aber ebenso auch, wenn wir heute vor der Entscheidung stehen, wie wir uns gegenüber den heutigen autoritären Regimen verhalten. Und wenn wir erleben, dass mitten in unserer heutigen Gesellschaft immer wieder Menschen das Autoritäre als das vermeintlich bessere Gesellschaftsmodell propagieren.

Die Wanderausstellung des Stasi-Unterlagen-Archivs, die ab heute Station hier in Münster macht, bietet uns einen Einblick in den Maschinenraum der SED-Diktatur. Im Stasi-Unterlagen-Archiv sind die staatliche Repression und der Freiheitswille der Menschen in der DDR dokumentiert. Dieses Archiv ist jedoch nicht nur ein „ostdeutsches“ Kulturgut. Die Stasi-Unterlagen geben Zeugnis davon, wie sehr die Menschen sich nach Freiheit und auch nach der Einheit gesehnt haben. Die tausenden Briefe, die von Ost nach West und von West nach Ost gingen. Die Fluchtversuche der DDR-Bürger und die westdeutsche Fluchthilfe. Der Häftlingsfreikauf. 

Der Fotograf hat eine Bühne in einer Halle durch eine Fensterscheibe fotografiert. Auf der Fensterscheibe steht geschrieben Bezirksregierung Münster. Auf der Bühne sitzen Menschen. Vor der Bühne sitzt Publikum.

Die Wanderausstellung wurde in der Bürgerhalle der Bezirksregierung Münster eröffnet. (© Team Zupke)

Die Unterlagen geben aber auch Auskunft über die dunklen Kapitel, wie beispielsweise die Häftlingszwangsarbeit für westdeutsche Firmen und die inoffiziellen Mitarbeiter in westdeutschen Ministerien und Behörden. 

Ich bin den Ausstellungsmacherinnen und -machern dankbar, dass sie diesen gesamtdeutschen Aspekt, das Wirken der Stasi im Westen, ganz bewusst in der Ausstellung Raum geben. Für mich ist diese gesamtdeutsche Bedeutung nichts Abstraktes. 

In der letzten Woche war ich hier in NRW in Düsseldorf zum Runden Tisch der Opferverbände aus Nordrhein-Westfalen. Hier traf ich Menschen, die in der SED-Diktatur Widerspruch übten, zu Opfern wurden und heute hier in NRW leben. Besonders beeindruckt hat mich die Lebensgeschichte eines der Teilnehmer. Bei einer Fahrradtour nach Prag erlebte er als 18-Jähriger den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes aus nächster Nähe. Die brutale Gewalt gegenüber ganz normalen Bürgern, die einfach nur ihre Meinung auf die Straße brachten. Die Angst und die Willkür. Ab diesem Moment war für ihn klar: Er wollte raus aus diesem System, aus dieser Enge und stellte seinen ersten Ausreiseantrag. Ab diesem Moment veränderte sich sein Leben grundsätzlich. Die Stasi hatte es auf ihn abgesehen. Ihr Ziel war es, ihn soweit wie möglich zu isolieren. Berufliche Benachteiligung, Arbeitskollegen mieden ihn. All das waren die ganz konkreten Folgen für seine Entscheidung in Freiheit leben zu wollen. 

Nach seinem fünften Ausreiseantrag bekam er die volle Härte des Systems zu spüren. Verurteilung zu drei Jahren Freiheitsstrafe – seine Kontakte nach Westdeutschland wurden ihm zum Verhängnis. Anschließend Haft in den Gefängnissen Berlin-Rummelsburg, Cottbus und Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz. Am 4. Dezember 1985, er nennt diesen Tag seine zweite Geburt, erfolgte der Freikauf durch die Bundesrepublik. Seit nunmehr fast 40 Jahren lebt er in NRW und berichtet als Zeitzeuge an Schulen über das Leben in der SED-Diktatur und engagiert sich für Anliegen der politisch Verfolgten in der DDR.

Was heißt es in einer Diktatur zu leben? Hierauf können uns – wie hier in dieser Ausstellung – die Stasi-Akten wichtige Antworten geben. Aber am heutigen Tag sprechen nicht nur die Akten, sondern auch die Menschen. 

Lieber Alexander Richter-Kariger, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie heute hier sind und uns teilhaben lassen an Ihrer bewegenden Lebensgeschichte. An den Schilderungen Ihres Widerstandes und Ihrer politischen Verfolgung in der SED-Diktatur. Und ebenso auch daran, wie Sie vor 39 Jahren hierher ins Münsteraner Land nach NRW gekommen sind. Für mich sind es gerade diese Biografien, die uns eindrucksvoll zeigen, dass die Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur unsere gesamtdeutsche Aufgabe ist. 

Vielen Dank!