Ansprache von Dr. Wolfgang Schäuble als Alterspräsident bei der konstituierenden Sitzung des 20. Deutschen Bundestages
[Es gilt das gesprochene Wort.]
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
dass wir im Reichstagsgebäude tagen, ist an sich keiner Erwähnung wert. Und dennoch ist es heute eine Besonderheit. Wir kommen trotz der pandemischen Beschränkungen erstmals wieder alle gemeinsam im Plenum zusammen. Möglich macht das eine überfraktionelle Verständigung, die wir eben mit großer Mehrheit bestätigt haben. In der vergangenen Legislaturperiode hat dieses Haus sogar, wenn nötig, einen überfraktionellen Konsens herstellen können, um die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu sichern. Die Bürgerinnen und Bürger schauen auf uns, ihre Erwartungen an das Parlament sind zurecht groß. Wir sollten weiter alles tun, um dem gemeinsam gerecht zu werden.
Die heutige Abstimmung sollte nicht die letzte gewesen sein, in der wir mit überwältigender Mehrheit über die Fraktionsgrenzen hinweg entscheiden. Wenn uns das etwa beim Wahlrecht gelänge, wäre ich nach der auch für mich persönlich bitteren Erfahrung der vergangenen Legislaturperiode bestimmt nicht traurig. Eine Wahlrechtsreform, die ihren Namen verdient, ist allerdings keinen Deut leichter geworden – und trotzdem: sie duldet ersichtlich keinen Aufschub. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, außer dass jedenfalls meinem Verständnis nach bei einer Entscheidung dieser Tragweite eigentlich keine politische Kraft im Parlament aus der Mit-Verantwortung für eine tragfähige Lösung entlassen werden sollte.
Konsens wird in diesem Haus aber auch zukünftig nicht die Regel sein – und das sollte auch nicht sein. Hier ist der Ort, an dem wir streiten dürfen. An dem wir streiten sollen. Fair und nach Regeln. Leidenschaftlich, aber auch mit der Gelassenheit, die einer erregten Öffentlichkeit Beispiel geben kann. Wenn wir das Prinzip der Repräsentation stärken wollen, dann müssen wir uns immer wieder um die Faszination der großen, strittigen Debatte bemühen. Das Parlament ist immer auch eine politische Bühne und nicht bloß eine notarielle Veranstaltung, um Koalitionsverträge abzuarbeiten – zumal sich die Entwicklungen einer vernetzten Welt mit ihren wechselnden Herausforderungen nicht daran hält, wie wir erfahren haben.
Umso mehr kommt es auf das Parlament an – als der Raum, in dem die Vielfalt an Meinungen offen zur Sprache kommt. Das wird noch wichtiger, weil in unserer Gesellschaft die Bereitschaft sinkt, gegensätzliche Standpunkte auszuhalten, Widerspruch überhaupt zuzulassen. Weil der Drang nach Konformität in der Gruppe wächst, um von sich fernzuhalten, was dem eigenen Empfinden und Denken widerspricht.
Wir sollten den Streit in der Mitte der Gesellschaft suchen – und ihn öffentlich hier im Parlament austragen. Indem wir deutlich machen, dass nie eine Seite allein recht hat. Dass um der Sache willen miteinander gerungen werden muss. Politik ist kein Selbstzweck, wir dienen nicht dem Eigeninteresse einer gesellschaftlichen Gruppe oder Meinungsblase, sondern der Gemeinschaft. Am Ende unserer Debatten stehen Entscheidungen, für die wir die Verantwortung tragen. Durch Mehrheiten – die wechseln können. Wir erleben es gerade.
Ohne Kompromisse geht das nicht, erst recht nicht bei Mehrheitsverhältnissen wie nach dieser Wahl. Aber suchen wir nicht immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner, indem wir im Detail streiten. Trauen wir uns etwas zu, ob in Regierungsverantwortung oder als Opposition – sonst geht verloren, was die Demokratie auch dringend braucht: politische Führung. Sie verlangt von uns als Abgeordnete den Blick für die wirklich großen Aufgaben – und die Fähigkeit, das gesellschaftliche Interesse darauf zu lenken. Orientierung zu geben. Dazu müssen wir bereit sein, den Menschen etwas zuzumuten. Nicht nur Antworten geben, die gern gehört werden, sondern Lösungen entwickeln und zur Diskussion stellen – für die Aufgaben, die wir als drängend erachten. Um die Bürger davon zu überzeugen. Dazu verpflichtet uns das Mandat.
Das mitunter zähe Ringen um gesellschaftliche Mehrheiten sollten wir gerade auch denen nahebringen, die mit Blick auf den Klimawandel von der Trägheit demokratischer Prozesse enttäuscht sind und sofortiges Handeln fordern. Ihre Motive sind nachvollziehbar. Aber wissenschaftliche Erkenntnis allein ist noch keine Politik – und schon gar nicht demokratische Mehrheit. Wer Ziele und Mittel absolut setzt, bringt sie gegen das demokratische Prinzip in Stellung. Letzte Gewissheit kann die Wissenschaft im Übrigen ebenso wenig liefern, wie es in der Demokratie die eine richtige Entscheidung gibt. Damit müssen wir umgehen.
Zu Beginn der Pandemie haben wir erlebt, wie groß in einer Gefahrensituation das Bedürfnis nach klaren politischen Vorgaben ist. Wir brauchten wissenschaftlichen Rat. Doch der Stand der Virologie und der Medizin war damals noch recht unsicher. Die wissenschaftliche Logik, die nicht nur auf Konsens, sondern gerade auf Ambiguität, Zweifel und Widerspruch beruht, geriet in ein Spannungsverhältnis zu den drängenden politischen Notwendigkeiten. Parlament und Regierung mussten handeln. Wir mussten trotz des unsicheren Erkenntnisstandes und im Wissen um die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Forschung rasch Entscheidungen treffen und dabei verschiedene Disziplinen hören: die Soziologie, die Ökonomie, Psychologie und Pädagogik, wie auch den Ethikrat – denn natürlich galt es, die ethisch-moralische Dimension genauso wie die verfassungsrechtlichen Aspekte unserer Maßnahmen mit zu bedenken. Und wir haben die unterschiedlichen Argumente von Interessengruppen einbezogen.
In dieser Situation wurde es besonders deutlich, doch Politik ist immer ein schwieriger Abwägungsprozess, ein Austarieren widerstreitender Interessen. Sie darf dabei den Blick auf das große Ganze nicht verlieren. Das ist Politik: Das Ringen um Mehrheiten, die Suche nach Lösungen. Nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen treffen – und sie dann auch verantworten.
Es berührt unser Selbstverständnis als Demokraten, aber wir müssen stets neu beweisen, die großen Herausforderungen unserer Zeit im Rahmen von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie bewältigen zu können. In der Corona-Pandemie ist uns im Großen und Ganzen gelungen, auch unter enormem Entscheidungsdruck kontroverse Debatten zu führen und widerstrebende Werte und Interesse gegeneinander abzuwägen – auch wenn sich im Einzelnen Kritik immer üben lässt. Die parlamentarische Demokratie hat eine beispiellose Bewährungsprobe bestanden. Diese Erfahrung kann uns Mut machen für andere globalen Herausforderungen. Die parlamentarische Demokratie wird im Wettbewerb mit autoritären Systemen dann bestehen, wenn wir als Gesetzgeber die Weichen so stellen, dass unsere Regierungsform neben ihrer Wertegebundenheit auch durch Effizienz überzeugt. Hüten wir uns allerdings gleichzeitig vor der Versuchung, alles regeln zu wollen. Politik weiß nicht alles besser. Wenn Politik meint, sie habe keine Grenzen, ist das mindestens genauso gefährlich wie wenn andere glauben, sie seien keinen Begrenzungen unterworfen. Das Prinzip unserer freiheitlichen Ordnung ist, dass sie begrenzt ist.
Der Souverän hat mit seiner Wahlentscheidung vom 26. September die parteipolitische Vielfalt im Bundestag bestätigt – und neue Mehrheiten ermöglicht. Für 279 Abgeordnete beginnt heute ein neues Leben als Parlamentarier. Behaupte noch einer, die parlamentarische Demokratie könne sich nicht personell erneuern: Fast 40 Prozent aller Mitglieder unseres Hauses bringen ihre Lebenswege, andere berufliche Hintergründe, persönliche Erfahrungen und Meinungen erstmals hier ein. Gestatten Sie mir gerade an Sie gewandt eine persönliche Bemerkung: Mit diesem Mandat, das Ihnen auf Zeit verliehen ist – und bei dem man nie wissen kann, wie lange diese Zeit dann wirklich dauert – kommt eine außergewöhnliche und erfüllende Arbeit auf Sie zu. Und zugleich eine strapaziöse und vereinnahmende Zeit. Bei allem politischen Elan – die Arbeit auf offener Bühne verlangt, das Private zu schützen. Seine Integrität wahrt, wer weiterhin zuhören kann und den inneren Kompass nicht verliert. Wer sich in Kollegialität und Fairness übt. Und wer sich über die Verhaltensregeln, die wir uns geben, hinaus den Sinn dafür bewahrt, was anständig ist – womöglich noch stärker, was unanständig ist. Früher hätte man gesagt: Was sich gehört und was nicht.
Wir alle repräsentieren als Abgeordnete das Volk. Wir vertreten die legitimen Interessen unserer Wähler und Parteien, aber: Wir haben immer auch das Gemeinwohl im Blick zu behalten. Verwechseln wir Repräsentation deshalb nicht mit Repräsentativität. Jeder Einzelne von uns bildet nicht einfach einen Teil des Volkes ab. Artikel 38 GG ist eindeutig: Abgeordnete sind „Vertreter des ganzen Volkes“. Auch wenn sich die gewachsene Vielfalt unserer Gesellschaft in der Volksvertretung wiederfinden soll: der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung sein. Wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird eine Fülle eklatanter Abweichungen finden: in beruflicher, in regionaler, in kultureller oder religiöser Hinsicht. Und er leistet dem irrigen Verständnis Vorschub, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten. Bei wem fangen wir an? Wo endet das? Ein Parlament, das zwar die Vielfalt abbildet, aber darüber keine Mehrheiten schaffen kann, ist kein Parlament!
Unsere repräsentative Demokratie beruht auf der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger – ohne Rücksicht auf ihre soziokulturellen Merkmale. Als Parlamentarier muss sich eine Juristin aus der Finanzverwaltung mit Fragen der Landwirtschaft vertraut machen, der Handwerksmeister Entscheidungen über eine Pflegereform treffen. Darin besteht das Mandat von Abgeordneten: Als gewählte Repräsentanten vertreten wir die Repräsentierten nicht durch unsere Person, sondern durch unsere Politik. Durch sie sollten alle Menschen politisch Gehör finden. Der Bundestag bündelt Interessen und er trägt damit Verantwortung für den Zusammenhalt in unserem Land. Deshalb sollten wir uns immer wieder selbst hinterfragen, ob wir, ob unsere Parteien der Vielfalt an Interessen und Meinungen genügend Gehör verschaffen. Und auch, ob die Erwartung der Bevölkerung, an Gestaltungsprozessen selbst teilhaben zu können, ausreichend erfüllt wird.
In der vergangenen Legislaturperiode hat sich das Parlament mit einem Bürgerrat für eine Form der deliberativen Demokratie geöffnet. Dieser Bundestag wäre gut beraten, sich noch einmal intensiv mit den Vorteilen, aber auch den Grenzen dieser Art von Bürgerbeteiligung zu befassen – zumal Bürgerräte einen Raum schaffen, in dem unterschiedliche Menschen zusammenkommen, einander kennenlernen und sich austauschen müssen. Miteinander. Vereinzelungsorte haben wir genug.
Mehr Mitsprache heißt aber nicht automatisch mehr Partizipation – und auch nicht zwangsläufig mehr Akzeptanz für die am Ende im Parlamente getroffenen Entscheidungen. Dabei leistet die repräsentative Demokratie, was auf keinem anderen Wege vergleichbar gelingt: nicht nur die Vertretung mobilisierbarer Interessen, sondern der Ausgleich widerstreitender Interessen. Nicht nur fordern, sondern auch gestalten. Nicht nur entscheiden, sondern auch verantworten. Davon werden wir die Bürger jedoch nur überzeugen, wenn wir unsere Rolle aktiv wahrnehmen. Es braucht ein selbstbewusstes Parlament – selbstbewusste Parlamentarier.
Das fordert viel von uns. Da ist der Wille des Wählers, aber auch die Eigenständigkeit des Gewählten und die Abhängigkeit des einen vom anderen. Da ist der Drang, sich profilieren zu wollen – und gleichzeitig die Notwendigkeit, als Fraktion Geschlossenheit zu zeigen. Da ist das Selbstverständnis der Fraktion auf Eigenständigkeit – und in Regierungsverantwortung der Druck, stabile parlamentarische Mehrheiten zu sichern. Diesem Spannungsfeld können wir nicht ausweichen. Aber wir sollten uns dessen bewusst sein und uns um die richtige Balance bemühen – denn wir tragen die Verantwortung dafür, das Parlament gegenüber wachsender plebiszitärer Ansprüche zu stärken. Und im Übrigen liegt es auch an uns, wie weit wir unsere Gestaltungsspielräume als Gesetzgeber einengen lassen durch eine Rechtsprechung, die bisweilen mindestens an die Grenzen ihres Mandats geht. Dazu gehört für mich dann allerdings auch, Verantwortung, die politisch wahrzunehmen ist, nicht auf Gerichte abzuwälzen.
Bei unseren Entscheidungen sind wir heute stärker denn je in globale Zusammenhänge eingebunden. Die komplexen Herausforderungen lassen sich nicht mehr allein im Nationalstaat bewältigen. Deshalb werden wir in einer Welt des rasanten Wandels den Bürgerinnen und Bürgern auch nur dann Halt geben können, wenn wir Europa stärken und zusammenhalten. Dazu braucht es unsere Bereitschaft, die anderen besser verstehen zu wollen. Die Interessen, Erfahrungen, historischen und kulturellen Prägungen des anderen zu kennen und zu respektieren. Ich habe in den vielen Jahren, in denen ich diesem Haus und verschiedenen Regierungen angehören durfte, die Erfahrung gemacht: Parlamente können hier ergänzend zur Regierung manches bewirken. Als Abgeordnete sind wir es ja gewohnt, unterschiedliche Sichtweisen, widerstreitende aber legitime Interessen auszuhandeln.
Mit der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung haben wir vor drei Jahren eine weltweit einzigartige bi-nationale Kammer geschaffen, die in der Pandemie eindrucksvoll bewiesen hat, wozu sie in der Lage ist. Darauf können wir stolz sein, und darauf sollten wir aufbauen. Vergessen wir darüber aber bitte auch nicht die besondere Mittlerrolle, die Deutschland für unsere mittelost- und osteuropäischen Nachbarn zukommt. Auch und gerade diesem Parlament. Leisten wir unseren Beitrag dazu, dass sich die Spaltungen in Europa nicht weiter vertiefen.
Noch ein persönliches Wort zum Schluss: Ich habe in den vergangenen vier Jahren in diesem Haus ein fraktionsübergreifendes hohes Maß an Unterstützung und Respekt im Amt des Bundestagspräsidenten erfahren. Dafür bin ich dankbar – und ich erhoffe und erbitte es auch für meine Nachfolgerin, die wir heute in dieses Amt wählen. Als Abgeordnete haben wir alle die gleichen Rechte, darüber hat der Präsident zu wachen. Mit aller Kraft. Aber wir haben auch alle die gleichen Pflichten. Am Verhalten jedes Einzelnen von uns, auch das mussten wir zuletzt wieder erfahren, hängt die Würde dieses Hauses. Wir haben es in der Hand, ob die Bürgerinnen und Bürger dieser Volksvertretung das schenken, worauf die parlamentarische Demokratie baut: ihr Vertrauen.