Parlament

Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zum „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar 2010

Sehr geehrter Herr Staatspräsident! Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Repräsentanten aller Verfassungsorgane! Exzellenzen! Herr Professor Tych! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Anfang Mai wird hier in Berlin die „Topographie des Terrors“ eröffnet. Die neue Dokumentationsstätte steht auf den Fundamenten der ehemaligen Hauptquartiere von Gestapo und SS sowie des sogenannten Reichssicherheitshauptamts. Vermutlich gibt es keinen anderen Ort, von dem aus in so diabolischer Weise Mord und Terror geplant und organisiert wurden. Auch der Völkermord an den europäischen Juden wurde von dort aus geleitet - nur wenige Hundert Meter von hier entfernt und scheinbar Lichtjahre weit weg.

Als Auschwitz am 27. Januar 1945 befreit wurde, hatte das Lager fünf Jahre, fünf unendlich lange Jahre, bestanden. In dieser Zeit wurden allein dort mehr als eine Million Menschen ermordet.

Wir gedenken heute, am 65. Jahrestag der Befreiung, aller Opfer, die in die Verfolgungs- und Tötungsmaschinerie des nationalsozialistischen Regimes gerieten. Wir gedenken aller, die um ihre Würde, ihre Gesundheit, ihr Hab und Gut, am Ende um ihr Leben gebracht wurden: europäische Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Homosexuelle, politisch Andersdenkende, Künstler, Wissenschaftler, alle, die als sogenannte Feinde des Nationalsozialismus herabgewürdigt wurden. Wir erinnern auch an diejenigen, die deshalb schikaniert, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten Menschen Schutz und Hilfe gewährten.

Wir erneuern unser Versprechen, dass wir das, was in der Vergangenheit geschehen ist, nicht vergessen. Wir wissen um die Verpflichtung, jede Form von Hass, Intoleranz, Diskriminierung, Ausgrenzung und Antisemitismus entschieden zu bekämpfen.

Meine Damen und Herren, unter den Opfern von Auschwitz stellen die Juden Europas und Polen die zahlenmäßig größten Gruppen. Umso dankbarer sind wir, dass wir heute jeweils einen Gast aus Polen und Israel bei uns haben. Ich begrüße aus Israel den Staatspräsidenten, Herrn Schimon Peres, und ich begrüße aus Polen den Historiker Herrn Professor Feliks Tych.

Bis 1942 - dies entnehme ich einer Veröffentlichung von Professor Tych - hat es nirgendwo sonst auf der Welt eine so große geschlossene jüdische Bevölkerung gegeben wie in Polen. Dort waren von der Gesamtbevölkerung 10 Prozent und von der Stadtbevölkerung sogar 40 Prozent Juden - beinahe 3,5 Millionen Menschen. Bis 1939 galt Warschau als eine Hochburg jüdischer Kultur in der Welt; allein hier lebten fast 400 000 Juden. Zum Vergleich: In ganz Deutschland lebten bis 1933 rund 500 000 Juden. Viele Juden, wo immer sie heute leben, haben polnische Wurzeln, und dies trifft auch auf Herrn Staatspräsident Peres zu, der in der ehemals polnischen - heute weißrussischen Stadt Wiszniew - geboren wurde und nach traumatischen Erlebnissen 1934 mit seiner Familie nach Tel Aviv auswanderte.

Es kommt nicht häufig vor, dass ein ausländisches Staatsoberhaupt eingeladen wird, vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen. Wenn mit Schimon Peres nun bereits zum dritten Mal ein israelischer Staatspräsident vor dem Deutschen Bundestag spricht, zumal an einem so herausgehobenen Tag, unterstreicht das die besonderen Beziehungen zwischen unseren Staaten, für die es keine Parallele gibt. Es sind in der Tat keine „normalen“ Beziehungen, weil das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland nie „normal“ war und deshalb auch nicht „normal“ werden muss oder soll. Unsere Beziehungen werden immer von den beispiellosen historischen Erfahrungen geprägt sein. Israel ist auf der Asche des Holocaust gegründet. Für die zweite Demokratie in Deutschland gehört die Auseinandersetzung mit dem Holocaust gewissermaßen zu den Grundlagen unserer Verfassung, nachdem ein totalitäres System die Würde der Menschen in beispielloser Weise angetastet und in einer diabolischen Verbindung von Menschenverachtung und Größenwahn am Ende das eigene Land politisch, ökonomisch und moralisch ruiniert und Millionen Opfer zurückgelassen hatte.

In den 65 Jahren nach der Befreiung der Konzentrationslager hat sich zwischen Israel und Deutschland eine Freundschaft entwickelt, die niemand ernsthaft erhoffen durfte. „In unserem jungen Staat“, hat Schimon Peres einmal gesagt, „überwog die Auffassung, dass der Bruch mit Deutschland endgültig und für ewig sein müsse.“ Vor dem Hintergrund, dass unter den Staatsgründern Israels die Überlebenden der Todeslager und die Vertriebenen aus den zerstörten Gettos waren, ist das eine ebenso deprimierende wie nachvollziehbare Einstellung. Umso mehr müssen wir David Ben-Gurion und Konrad Adenauer, den ersten Regierungschefs beider Länder, dankbar sein, dass trotz der tiefen Gräben zwischen beiden Völkern wieder Vertrauen aufgebaut wurde und die Grundlagen dafür gelegt wurden, was man heute im Positiven die „besonderen Beziehungen“ zwischen Deutschland und Israel nennt: Wir Deutsche tragen eine Mitverantwortung für den Staat Israel. Wo sein Existenzrecht und die Sicherheit seiner Bevölkerung bedroht sind, wo das Recht, in sicheren Grenzen zu leben, gefährdet ist, gibt es für uns Deutsche keine Neutralität. Wir Deutsche haben für die Existenz und die Sicherheit Israels eine historisch begründete besondere Verantwortung. Manches ist verhandelbar, das Existenzrecht Israels nicht.

Ein atomar bewaffneter Staat in seiner Nachbarschaft, geführt von einem offen antisemitisch orientierten Regime, ist nicht nur für Israel unerträglich. Die Weltgemeinschaft darf eine solche Bedrohung nicht dulden.

Sosehr Israel und Deutschland durch die Erfahrung des Holocaust verbunden sind, es wäre zu kurz gegriffen, unsere Beziehungen ausschließlich auf die historische Dimension zu verkürzen. Wir arbeiten intensiv zusammen, um die Zukunft zu gestalten. Über 100 Städtepartnerschaften gibt es zwischen deutschen und israelischen Kommunen, Dutzende von Hochschul- und Wissenschaftskooperationen. Es gibt einen lebhaften, wechselseitig befruchtenden Kulturaustausch und intensive, weiter wachsende Handelsbeziehungen sowie inzwischen regelmäßige Regierungskonsultationen zwischen unseren beiden Ländern. An all das war vor 65 oder 60 Jahren nicht einmal zu denken gewesen.

Ganz besonders beeindruckend, geradezu wunderbar: Jüdisches Leben ist nach Deutschland zurückgekehrt. Nach der Schoah schien es unvorstellbar, dass es in Deutschland jemals wieder blühende jüdische Gemeinden geben könnte. Mittlerweile wachsen die jüdischen Gemeinden in Deutschland, und jede Synagoge, die neu oder wieder eröffnet wird, bringt uns ein Stück näher zu dem Ziel, das Paul Spiegel hoffnungsvoll die „Renaissance des Judentums“ genannt hat. Wir sind dankbar für jede junge Pflanze wiedererwachenden jüdischen Lebens und jüdischer Kultur.

Ihnen, Herr Staatspräsident, sind wir besonders dankbar, dass Sie an diesem Tag zu uns sprechen werden.

Meine Damen und Herren, Feliks Tych hat den Holocaust überlebt. Er überlebte dank falscher Papiere als angeblich verwaister Neffe einer polnischen Lehrerin. Seine Eltern und seine Geschwister wurden ermordet. In seiner Person treffen sich die Dimensionen von persönlichem Schicksal und akademisch-distanzierter Analyse, weil Herr Tych Opfer, Zeitzeuge und Historiker zugleich ist.

Professor Tych hat in Warschau das Jüdische Historische Institut geleitet und zu einem eindrucksvollen archivalischen und musealen Zentrum entwickelt, mit der Aufarbeitung der Bestände des Untergrundarchivs des Warschauer Gettos. Er hat das erste polnische Schulbuch über den Holocaust im besetzten Polen redigiert. Intensiv hat er sich mit der Frage befasst, welche Folgen der Holocaust für die Gesellschaften Polens und anderer mittel- und osteuropäischer Staaten hatte und bis heute hat. „Der lange Schatten des Holocaust“, so lautet der Titel eines seiner Bücher.

Vor allem ist Professor Tych auch der Frage nachgegangen, was es für das polnische Volk bedeutet, gezwungenermaßen zu unmittelbarer Zeugenschaft eines Völkermordes zu werden. Ich darf ihn zitieren:

Wem [in Deutschland] sehr daran lag, nicht zu wissen,
zu welchem Zweck oder mit welchem Ziel die Juden
aus Deutschland, Österreich, Holland, Belgien oder
Frankreich nach Osten abtransportiert wurden, musste
es nicht wissen oder konnte vorgeben, nichts zu
wissen. Diese Tatsache war - wie wir alle sehr wohl
wissen - von beträchtlichem Einfluss auf die
Erinnerungen aus der Kriegszeit. Doch in Polen, im
Baltikum, in der Ukraine oder in Weißrussland war es
unmöglich, nichts zu wissen; selbst vortäuschen
konnte man sich nichts.

Dies hat die Bevölkerung in den besetzten Staaten - ich zitiere weiter Professor Tych -

am stärksten den moralischen Folgen des Holocaust
ausgesetzt. In diesem Sinne gehören die Polen …
unbewusst zu den moralischen Opfern des Holocaust,
während die Juden seine physischen Opfer waren.

Ende eines bemerkenswerten Zitats.

Auch in den deutsch-polnischen Beziehungen sind der Holocaust, die Verbrechen des nationalsozialitischen Regimes auf immer Teil der Geschichte, vor der wir die Augen nicht verschließen. Für Ihre erhellenden, klugen Analysen danken wir Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Tych, und besonders für Ihre Bereitschaft, heute zu uns zu sprechen.

Meine Damen und Herren, Holocaust und Massenmord waren keine Naturkatastrophe; auch keine höhere Macht ist dafür verantwortlich zu machen. Daran müssen wir uns stets erinnern und Wege finden, diese Verbrechen der nachwachsenden Generation zu erklären. Erfreulicherweise gibt es heute unter jungen Leuten ein großes Interesse daran. Junge Leute wollen wissen, was geschehen ist und warum es geschehen konnte. Auch in diesem Jahr hat der Deutsche Bundestag deshalb wieder rund 80 junge Leute zu einer Jugendbegegnung eingeladen. Sie alle begrüße ich herzlich und mit besonderem Respekt - stellvertretend für alle Ehrengäste dieser Veranstaltung - Maria Blitz, die mit ihren Söhnen Leo und Andrew sowie dem Enkel Brian mit jetzt beinahe 92 Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben nach Berlin gekommen ist.

Maria Blitz überlebte das Krakauer Getto, die Konzentrationslager sowie das Arbeitslager. Schließlich konnte sie dem Todesmarsch von Königsberg zur Samländischen Ostseeküste und so dem Massaker von Palmnicken Anfang 1945 entfliehen. Seit 1949 lebt sie in den USA.

Je weiter der Holocaust in die Vergangenheit rückt, je weniger Zeitzeugen unter uns leben, je mehr Menschen in unserer Gesellschaft leben, die anderer Herkunft sind, andere kulturelle Wurzeln und eine andere Sozialisation haben, desto wichtiger wird es, das Bewusstsein für die besondere geschichtliche Verantwortung Deutschlands wachzuhalten. Dazu gehören der Erhalt und die Pflege authentischer Orte, Orte, an denen wir dem Leid der Opfer nachspüren können, genauso wie Orte, an denen sich die Verbrechen der Täter dokumentieren lassen. Ein solcher Ort wird die Dokumentationsstätte „Topographie des Terrors“ sein. Hier werden nationalsozialistischen Verbrechen konkrete Adressen und Personen zugeordnet, hier wird die europäische Dimension der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft sichtbar, hier wird erfahrbar, von wo aus und von wem die Befehle zu millionenfachem Mord ausgingen; darunter auch der Befehl, Auschwitz zu errichten, Anfang 1940, vor genau 70 Jahren.

Meine Damen und Herren, es ist erst 70 Jahre her, und daran wollen wir auch und gerade 20 Jahre nach Wiederherstellung der Einheit unseres Landes erinnern.