Parlament

Rede anlässlich der Verleihung des Dolf-Sternberger-Preises für öffentliche Rede am 4. Dezember 2010 in Heidelberg

Magnifizenz, sehr geehrter Herr Professor Eitel,
Herr Vorsitzender,
sehr geehrter Herr Professor Landfried,
verehrter, lieber Herr Eppler,
lieber Bernhard Vogel,
liebe aktive und ehemalige Kolleginnen und Kollegen aus Parlamenten und Regierungen,
meine Damen und Herren,

bevor ich die unvermeidliche Frage an mich heranlasse, ob der Dolf-Sternberger-Preis für öffentliche Rede schon gar im Glanze der bisherigen Preisträger von Willy-Brandt über Wolfgang Schäuble und Helmut Schmidt bis Václav Havel nicht auch eine Last ist, mindestens eine im Wortsinn schöne Bescherung, ist er eine Lust, eine Freude, jedenfalls eine seltene Auszeichnung, für die ich mich herzlich bedanke bei der Gesellschaft, beim Vorstand, bei der Jury, ganz besonders beim Laudator, Erhard Eppler, der erstaunlicher Weise in der Liste der Preisträger fehlt, obwohl er in seinem öffentlichen Wirken mit und ohne prominente Ämter über Jahrzehnte den Ansprüchen genügt, die Dolf Sternberger für politische Reden formuliert hat. „Es ist die vorherrschende Meinung,“ schreibt Dolf Sternberger in seiner Schrift „Der Staatsmann als Rhetor und Literat“ (1966) „Es ist die vorherrschende Meinung,… dass Politik und Sprache, Regierungskunst und Redekunst, dass das Handeln und das Sprechen zweierlei Dinge seien, wesenhaft unterschieden, beinahe feindlich einander ausschließend und abstoßend. Kaum je kommt einer auf die Idee, dass der Politiker ein Schriftsteller und der Schriftsteller ein Politiker sein könne. Und doch ist genau das der Kern der Sache. Es ist ein Maßstab nicht der literarischen, sondern gerade der politischen Kultur eines Landes, ob der Politiker von diesem Triebe und Ehrgeiz, von dieser Nötigung erfüllt ist, eine originale und treffende Sprache zu führen, ob er auf literarischen, auf rhetorischen Rang bedacht ist. Das Zoon politikon und das Zoon logon echon sind ein und dasselbe Wesen. Die beiden aristotelischen Bestimmungen des Menschen gehören zusammen: Der Mensch ist ein staatliches, ein bürgerliches Wesen, und der Mensch ist ein Wesen, das Sprache hat.“

Ich erlaube mir in einem Anflug von Leichtsinn gleich an dieser Stelle eine erste differenzierende Bemerkung. Der Mensch ist jedenfalls nach meinem Verständnis kein staatliches Wesen, schon gar keine staatliche Schöpfung. Seine Fähigkeit, Bedürfnisse durch Sprache zu artikulieren, richtet sich freilich vornehmlich gegen den Staat. Diese Ansprüche gegenüber dem Staat, übrigens die materiellen wie die immateriellen Ansprüche, sind im Zuge ihrer Verwirklichung nicht kleiner, sondern größer, jedenfalls anders geworden. Der Sozialstaat zum Beispiel wird nicht kleiner, weil das Sozialprodukt immer größer wird, im Gegenteil: das höchste Bruttoinlandsprodukt aller Zeiten ist zugleich mit den höchsten Sozialleistungen aller Zeiten verbunden – und zugleich mit der öffentlichen Kritik, nichts werde in diesem Land systematischer gekürzt als die Rechtsansprüche auf Sozialleistungen.

Veränderte Ansprüche erleben wir nicht erst seit einigen Wochen, aber seit einigen Wochen auffälliger als vorher auch mit Blick auf Beteiligung, schon gar auf politische Beteiligung an für wichtig gehaltenen Entscheidungsprozessen.

Stuttgart 21 ist ein großes Thema, mit dem sich mühelos eine solche Festveranstaltung verderben ließe, zu dem ich auch deshalb nur einige wenige Anmerkungen machen will, zu denen ich mich allerdings beinahe verpflichtet fühle, weil man es nicht ganz zu Unrecht für feige halten könnte, möglichst viel Einleuchtendes vorzutragen und sorgfältig all das zu vermeiden, was den Streit lohnt. Ich will auch deswegen, wenn auch nur wenige Sätze zu diesem Thema sagen, weil ich glaube, dass die Bedeutung der Auseinandersetzung über das Projekt und das dafür jetzt vorläufig abgeschlossene Verfahren erst mit einigem zeitlichen Abstand wird seriös beurteilt werden können. Insofern wundere ich mich, nein ich wundere mich nicht: ich stelle einmal mehr eine Neigung sowohl bei prominenten Vertretern der Politik wie der Medien fest, diesen Vorgang voreilig mit Modellcharakter auszustatten, zu einem Zeitpunkt, zu dem wir nicht einmal wissen, ob er überhaupt irgendetwas verändert, geschweige denn was: Mindestens vermutlich wieder Erwartungen, Ansprüche, wie diffus sie auch immer sein mögen.

Vor einigen Wochen war in einer der zahlreichen Berichte zu diesem Projekt und seiner damals bevorstehenden baulichen Umsetzung zu lesen, ich zitiere aus der Frankfurter Rundschau: „In Stuttgart wird ein Exempel statuiert. Die Regierung will demonstrieren, dass sie stärker ist als das Volk.“ Der ergänzende Satz, der hier nicht steht; und das Volk will demonstrieren, dass es stärker ist als die Regierung, wäre auch nicht völlig falsch gewesen.

Nun sind jedenfalls nach meiner Überzeugung auch und gerade Großprojekte, wie der Bau von Bahnhöfen, von Flughäfen, von Kraftwerken – so wichtig sie im Einzelnen natürlich sein mögen – kein geeigneter Anlass für Kraftproben, weder für die Regierung noch für das Volk. Ganz am Ende ist im Übrigen das Volk immer stärker als jede beliebige Regierung, wie wir durch jüngere Erfahrungen der deutschen Geschichte mit besonderem Selbstbewusstsein festhalten können. Aber auch das Volk kann kein Interesse an einer Kraftprobe mit dem Rechtsstaat haben, von dessen verlässlicher Ordnung die Wahrung seiner Freiheitsrechte abhängt. Und auf genau das Spannungsverhältnis, das in diesem Zusammenhang gerne übersehen wird, hat Erhard Eppler in einem denkwürdigen Interview gleich zu Beginn der Auseinandersetzung um dieses Projekt aufmerksam gemacht. „Hier beißen sich“ – sagt er – „Hier beißen sich Rechtsstaats- und Demokratieprinzip. Das ist ein ganz gefährlicher Vorgang.“ Ja, das ist in der Tat ein Vorgang, dessen explosive Wirkung schwerlich zu überschätzen wäre. Zumal sich ja leider nicht übersehen lässt, dass es jedenfalls die Versuchung gibt, in einem solchen Spannungsverhältnis dem Demokratieprinzip Vorrang vor dem Rechtsstaatsprinzip einzuräumen. Würde man dies aber durchgehen lassen, könnte das Demokratieprinzip auf dem Wege vom Plebisziten notfalls auch Grundrechte aushebeln, die eben nicht vom Demokratieprinzip gesichert werden, sondern vom Rechtsstaat.

Jeder, der schon gar Interesse an Minderheitenrechten hat, wird eine Vorrangentscheidung des Demokratieprinzips gegenüber dem Rechtsstaat nicht für eine Errungenschaft, sondern für ein Verhängnis halten müssen. Was im Übrigen natürlich nahezu alle praktischen Fragen, die sich im Umgang mit diesen und anderen Projekten verbindet, nicht beantwortet, auch nicht die Frage, ob den zweifellos wachsenden Erwartungen an politischer Beteiligung durch großzügigere Öffnung zugunsten plebiszitärer Verfahren entgegenzukommen sei, was Erhard Eppler entschieden bejaht und ich auch aus den genannten Gründen sehr viel zögerlicher betrachte.

Richard Schröder, der seine Erfahrung sowohl mit demokratischen Ansprüchen wie mit rechtsstaatlichen Defiziten gemacht hat, hat seinerseits vor einigen Wochen Anlass gesehen, auf die Probleme aufmerksam zu machen, die sich durch eine sicher gut gemeinte, aber doch voreilige und treuherzige Beschwörung von Volkssouveränität als dem allen anderen voranzustellenden politischen Strukturprinzip einer modernen Demokratie ergeben können. „Wer uns“ – schreibt Richard Schröder – „Wer uns aber eine bessere Demokratie vorbei an Grundrechten und Gewaltenteilung verspricht, dem müssen wir die bittere Erfahrung entgegenhalten, Antiparlamentarismus im Namen des Volkes hat in Deutschland schon zweimal in die Diktatur geführt. Beide Diktaturen liebten das Wort “Volk„ ganz besonders: Volkspolizei und Volksarmee und Volkskammer und Volksgerichtshof und Volkswille und Volkszorn. Alles direkt und spontan und ganz einfach und ohne diesen Formelkram.“

Meine Damen und Herren, sowohl Erhard Eppler wie Bernhard Vogel haben sich in einer beschämend liebenswürdigen Weise der Rolle des Parlamentspräsidenten im Allgemeinen und der Wahrnehmung dieses Amtes durch den gegenwärtigen Amtsinhaber angenommen. Ich will zur Einordnung des Vorgetragenen doch darauf hinweisen: Der Bundestagspräsident hat aufgrund unserer Verfassung wie der Geschäftsordnung in unserem politischen System kaum etwas zu sagen, wenn er nicht tatsächlich etwas zu sagen hat. Das ist hart aber fair, jedenfalls kann man damit umgehen. Die vom Parlamentspräsidenten erwartete Überparteilichkeit der Amtsführung wird immerhin durch die Polizeigewalt überhöht, die er als Hausherr und zugleich Polizeichef einer eigenen Bundestagspolizei ausübt. Mit diesem gewaltigen militärischen Apparat kann man Bandenkriege nur begrenzt bekämpfen, schon gar nicht Bandenkriege innerhalb parlamentarischer Gruppierungen. Der politische Einfluss des Bundestagspräsidenten ist umso höher, je unauffälliger er sich in den Kulissen bewegt und anderen den Auftritt auf der Vorderbühne überlässt. Zur Tragik des Amtes gehört, dass auch gelungene Reden nicht unbedingt etwas bewirken, misslungene aber fast immer. Sie beschädigen Ansehen und Einfluss eines Amtes, das ohnehin auf nichts anderem, jedenfalls auf nichts anderem mehr als der Kraft der Reden beruht.

Die immer wieder vorgetragenen Befürchtungen über den Verfall der politischen Kultur in Deutschland im Allgemeinen und der politischen Rede im Besonderen verdienen sicher eine sorgfältigere Untersuchung als dies im Rahmen einer Danksagung möglich ist. Immerhin erlaube ich mir die Frage, ob der vermeintliche Verfall parlamentarischer Redekultur wirklich ausgeprägter und besorgniserregender ist als die Berichterstattung, die sich damit mehr oder weniger regelmäßig auseinandersetzt. Jedenfalls spricht manches für die Vermutung, dass der unwiderstehliche Trend zur Entertainisierung der Berichterstattung genau den Typus von Politikern erzeugt und erzieht, der anschließend als abschreckendes Beispiel lebhaft beklagt wird.

Auf diese Fehlentwicklung hat Helmut Schmidt in seiner Dankrede bei der Verleihung des Dolf-Sternberger-Preises schon vor acht Jahren hingewiesen, als er von der Fragwürdigkeit der Fernsehmassendemokratie gesprochen hat, die ganz was anderes sei, als die Demokratie einer lesenden Gesellschaft. „Eine Demokratie, für die einprägsame lebende Bilder, die unmittelbar ins Bewusstsein von Millionen dringen, wichtiger geworden sind als etwa sorgfältig formulierte Sprache. Das Fernsehen erzieht das Publikum zur Oberflächlichkeit und ebenso den Politiker.“

Auf eine andere unter den Bedingungen der Mediendemokratie schwer vermeidbare Versuchung hat Václav Havel in seiner Dankadresse bei der letzten Preisverleihung hingewiesen. „Wenn wir zum Thema Sprache und Politik sprechen sollen, scheint es mir, dass wir verpflichtet sind, insbesondere der Banalisierung der politischen Sprache Beachtung zu schenken, weil diese ein Zeichen für banales Denken und banale Taten ist.“ Das hätte fast Sternberger im Wortlaut sein können. „Es gibt Wendungen, Floskeln und Klischees, die wie Viren in der Luft schweben.“

Meine Damen und Herren: „Erst mit der Sprache geht die Welt auf.“ Diese kluge Bemerkung von Hans-Georg Gadamer verdeutlicht in einem einzigen prägnanten Satz die überragende Bedeutung, die die Sprache für unser Verhältnis zur Welt hat, zur eigenen Herkunft, zur jeweiligen Umwelt, zu der Welt, in der wir leben, die wir ohne das Mittel der Sprache kaum begreifen und noch weniger erklären können. Insofern kann man bei der Beschreibung des Stellenwertes von Sprache kaum übertreiben. Sie ist unter nahezu jedem Gesichtspunkt ein Schlüssel, dessen Vorhandensein oder Fehlen ganz wesentlich darüber entscheidet, ob bestimmte individuelle, gesellschaftliche, natürlich auch politische Entwicklungen überhaupt möglich sind und schon gar in welcher Weise sie stattfinden. Die Artikulation von Interessen erfolgt durch Sprache. Die Werbung für und die Propaganda gegen Anliegen und Bedürfnisse wird sprachlich, daneben zunehmend durch Bilder vermittelt.

Die öffentliche Auseinandersetzung, insbesondere aber nicht nur in den Medien, erfolgt durch Sprache. Ebenso der parlamentarische Streit, Gesetze formulieren ihre Ansprüche in Sprache, und die Richter formulieren ihre Urteile wiederum in Sprache.

Politik, meine Damen und Herren, ist für Sprache nicht zuständig, aber mitverantwortlich. Und ich hoffe sehr, dass spätestens nach der Leidensgeschichte der Rechtschreibreform die Einsicht gewachsen ist, dass man Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten besser nicht verwechseln sollte. Am Ende hatte die Politik eine Reihe von Problemen zu lösen, die sie gar nicht gehabt hätte, wenn sie nicht unnötigen Gestaltungsehrgeiz in einer Frage entwickelt hätte, für die sie nicht zuständig ist.

Es gibt eben auch und schwer überhörbar einen politischen Beitrag zur Sprachentwicklung eines Landes. Mein Eindruck ist, dass die politische Sprachschöpfung ebenso häufig von dem verzweifelten Hang zur Originalität befallen ist wie von der Neigung zur Schludrigkeit, zur Oberflächlichkeit. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen in ganz alten, leider auch in ganz neuen Texten. Ich ahne, wie die ohnehin in der deutschen Bevölkerung ausgeprägte Vorfreude auf die Gesundheitsreform durch die Ankündigung eines „morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs“ befördert wird. Und ich habe auch eine durch meine eigenen Kinder gestützte Vermutung, dass jedenfalls die betroffenen Schülerinnen und Schüler die im Ganzen bescheidenen Befunde der Pisa-Studie leichter wegstecken, wenn ihnen attestiert wird, dass sie immer häufiger die gesetzten „Curricularnormwerte“ nicht erreichen, statt schlicht und ergreifend zum Ausdruck zu bringen, dass sie den Mindestansprüchen nicht genügen, die in der Welt von heute unverzichtbar sind.

Dieses Thema Sprache, Sprache und Politik, ist unter vielerlei Gesichtspunkten wichtig und interessant und verdient nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung des Gesetzgebers mindestens für die Verständlichkeit dessen, was er da tut, besondere Aufmerksamkeit. Manchmal könnte man den Eindruck haben, als hätten deutsche Staatsbürger, sobald sie zu Gesetzgebern mutieren, eine besondere Begabung, Einfaches kompliziert auszudrücken und Verständliches in einer Weise, dass es sich selbst karikiert. Aus der noch relativ neuen und aus anderen Gründen berühmt-berüchtigten Hartz-Gesetzgebung ist etwa die Klarstellung zu gewinnen: „Ist in einer Bedarfsgemeinschaft nicht der gesamte Bedarf aus eigenen Kräften und Mitteln gedeckt, gilt jede Person der Bedarfsgemeinschaft im Verhältnis des eigenen Bedarfs zum Gesamtbedarf als hilfebedürftig.“ Aber es wird auch nicht besser, wenn der Eifer zur Verständlichkeit die Feder führt. Einer der Klassiker ist die Klarstellung in einer Verordnung der Bundeswehrverwaltung, dass „der Tod aus versorgungsrechtlicher Sicht die stärkste Form der Dienstunfähigkeit darstellt.“ Dieser Formulierung kann man den Vorwurf der Unverständlichkeit nicht machen, sie ist nachvollziehbar und volkstümlich, trägt aber wiederum kaum zum Glanz der Sprachfähigkeit deutscher Politik bei.

Unter ausdrücklicher Aufrechterhaltung meiner Vorsicht und Warnung vor voreiligen gesetzlichen Regelungen bin ich aus einer Reihe von im Einzelnen hier natürlich nicht darzustellenden Gründen der Meinung, dass Deutsch als Landessprache ins Grundgesetz gehört. Und auch wenn ich mit Professor Gauger von der Dolf-Sternberger-Gesellschaft die Beurteilung der Lage im Allgemeinen nahezu komplett teile, komme ich in der Schlussfolgerung zu einer anderen Bewertung.

Natürlich, wenn mich irgendjemand fragt, ob ich es für unbedingt nötig halte, müsste meine Antwort lauten: Nein, unbedingt nötig ist es nicht. Allerdings im Vergleich zu manchem, was der deutsche Verfassungsgesetzgeber in den letzten 50 Jahren an Ergänzungen und Einfügungen unserer Verfassung für nötig gehalten hat, glaube ich den Nachweis führen zu können, dass man schwerlich unter 55 Grundgesetzänderungen fünf andere Änderungen des Grundgesetzes finden wird, die es an Ernsthaftigkeit und Rang mit diesem Vorschlag aufnehmen können. Das Grundgesetz gibt sich sehr restriktiv, sehr zurückhaltend mit allem, was die geistigen Wurzeln dieser Verfassung   betrifft, es ist dagegen sehr großzügig zu seinen Trieben und Blüten, die gelegentlich zu einem Wildwuchs missraten sind.
Am Ende dieses Jahres ist das Grundgesetz länger gültig als die Verfassung des Deutschen Reiches und die Weimarer Verfassung zusammengenommen. Dieses Grundgesetz gilt inzwischen, jedenfalls nach meinem Eindruck, auch und gerade bei ausländischen Beobachtern und Experten als eine der großen Verfassungen der Welt. Davon konnte man auch nicht unbedingt ausgehen, als die ersten Beratungen zu dieser provisorischen Verfassung im Parlamentarischen Rat stattgefunden haben. Carlo Schmid hat damals im Parlamentarischen Rat von einem „Bauriss für ein Notgebäude“ gesprochen. Daraus ist jedenfalls ein erstaunlich stabiles Gebäude geworden.

Seit 1949 ist das damals verkündete Grundgesetz 55 oder 56-mal ergänzt oder geändert worden. Das ist bei über 60 Jahren im Durchschnitt weniger als einmal pro Jahr, aber es ist immerhin doppelt so häufig wie die amerikanische Verfassung in mehr als 200 Jahren. Für jede einzelne dieser Änderungen oder Ergänzungen hat es Gründe gegeben, mal mehr und mal weniger zwingende. Aber, dass dem Verfassungsgesetzgeber jede einzelne dieser Änderungen gleich gut gelungen sei, wird man wohl nur schwer behaupten können.

Das Grundgesetz ist in den vergangenen sechs Jahrzehnten jedenfalls deutlich länger geworden. Nach Auskunft von Experten hat es inzwischen nahezu den doppelten Umfang gegenüber dem Text von 1949. Ob es mit der erheblichen Erweiterung auch erheblich besser, jedenfalls präziser geworden ist, diese Frage werden wir uns mindestens gefallen lassen müssen. In einer interessanten staatsrechtlichen Studie, die im vergangenen Jahr veröffentlicht worden ist, findet sich jedenfalls der diskussionswürdige Satz: „Ein Blick in den Text des Grundgesetzes bestätigt die Vermutung, dass wenig so schnell veraltet wie seine Neuerungen.“ Ich erlaube mir, weil hier heute morgen einige ausgewiesene Experten zusammen sind, die sich mit diesem Thema immer wieder und aus unterschiedlicher Perspektive beschäftigt haben, auch den Hinweis, dass es natürlich kein Zufall ist, dass der Löwenanteil dieser Verfassungsänderungen in der vergleichsweise kurzen Zeit der beiden großen Koalitionen zustande gekommen ist. Das ist mehr als ein starkes Indiz für die Vermutung, dass verfassungsändernde Mehrheiten, wenn es sie denn gibt, sich bei schwierigen Gesetzgebungen besonders gern den scheinbar bequemen Weg über eine Verfassungsänderung suchen, ohne besonders sorgfältige Prüfung der Frage, ob die angestrebte, politisch für zweckmäßig gehaltene Regelung wirklich in eine Verfassung gehört. Das letzte geradezu sich selbst parodierende Beispiel ist die Ausschmückung der sogenannten Schuldenbremse, die nur um den Preis ins Grundgesetz gekommen ist, dass eine Handvoll Bundesländer die von ihnen in diesem Zusammenhang reklamierten Ausgleichszahlungen in Eurobeträgen und Jahreszahlen im Grundgesetz haben verankern lassen.

Im Übrigen sind mit dieser Problematik und dieser aus meiner Sicht ganz offenkundigen Fehlentwicklung keineswegs nur Fragen der Verfassungsästhetik berührt, sondern auch die hochpolitische Frage verbunden, welche Folgen es eigentlich hat, wenn immer häufiger neben Grundsätzen und Grundregeln politische Gestaltungsabsichten mit Verfassungsrang ausgestattet werden. Was bedeutet das eigentlich für die Spielräume künftiger Gesetzgeber wiederum demokratisch legitimierter Mehrheiten und damit für die Architektur unseres politischen Systems, für das wir uns gerne und zurecht wechselseitig beglückwünschen, weil uns in unserer Geschichte selten Ähnliches ähnlich gut gelungen ist wie diese Verfassung.

Meine Damen und Herren, es ist natürlich nicht ganz zufällig, dass ich in meiner Dankadresse gerade diesen Punkt mit einem besonderen Akzent versehen habe, weil ich gerade nach den jüngeren stattgefundenen Erfahrungen glaube Anlass zu haben darauf hinzuweisen, dass wir uns einen etwas sorgfältigeren Umgang nicht nur mit Gesetzgebung im Allgemeinen, sondern schon gar mit Verfassungsgesetzgebung wieder angewöhnen müssen. Das Grundgesetz ist keine Baustelle, sondern wenn überhaupt das Grundstück und das Fundament, auf dem sich der Bau von Staat und Gesellschaft ständig entwickelt durch Anbauten und Umbauten, durch Aufstockungen und Erneuerungen. Nicht jede Veränderung erweist sich als Verbesserung. Diese eher banale aber solide Einsicht reicht selbstverständlich nicht, Veränderungserwartungen auszuweichen oder sie gar blockieren zu wollen. Aber sie ist doch mindestens ein Grund zur Sorgfalt und erinnert an die klassische Empfehlung von Max Weber, neben der Leidenschaft auch Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein zur Grundlage politischer Entscheidungen zu machen.

Meine Damen und Herren, für die Großzügigkeit, meine regelmäßigen Bemühungen um diese ebenso komplizierten wie zentralen Zusammenhänge mit einem Preis für öffentliche Rede auszustatten, möchte ich mich herzlich bedanken, nicht zuletzt für die Geduld, mit der Sie eine erneut unvollkommene Annäherung an diesen Sachverhalt heute Mittag bei vorgeschrittener Zeit ertragen haben.

Parlament

Rede zur Demokratie in Leipzig, Nicolai-Kirche am 9. Oktober 2010

Sehr geehrter Herr Superintendent,
Herr Oberbürgermeister,
Herr Minister, meine Damen und Herren,
hochverehrtes Leipziger Volk,

am letzten Sonntag haben wir mittags in Bremen und abends in Berlin und gleichzeitig in vielen Städten des Landes den 20. Jahrestag der deutschen Einheit gefeiert. Ein Ereignis, das vielen, die damals dabei waren und manchen bis heute wie ein Wunder erscheint. Ein Wunder war es aber nicht - auch nicht ein Naturereignis, sondern die Folge einer nicht nur in der deutschen Geschichte beispiellosen friedlichen Revolution, die ihre selbst gesetzten Ziele nicht nur erreicht, sondern am Ende sogar überboten hat. Als jemand, der wie ich Beobachter der damaligen Ereignisse war, aber nicht Beteiligter, der nicht Bedrohter gewesen ist, sondern zu den Begünstigten der Entwicklungen gehört, die daraus entstanden sind, wird  bis an mein Lebensende meine Bewunderung und mein Respekt den Frauen und Männern gelten, die damals scheinbar ohne jede Aussicht und scheinbar wider gegen jede Vernunft für ihre Freiheit und ihre Selbstbestimmung auf die Straße gegangen sind und am Ende die Einheit unseres Landes in Freiheit möglich gemacht haben.

Wir leben heute in einem freien Land mit einer demokratischen Verfassung, in einem Land, in dem wir als Deutsche und zugleich als Europäer zum ersten Mal überhaupt in unserer Geschichte mit allen unseren Nachbarn in Frieden und Freundschaft zusammenleben. Da wir uns längst daran gewöhnt haben, diesen außergewöhnlichen Zustand für selbstverständlich zu halten, ist ein Tag wie heute eine gute Gelegenheit daran zu erinnern: Glücklichere Zeiten hatten wir Deutsche nie. Und bei allem, was in den zwanzig Jahren seit dem 3. Oktober 1990 nicht gelungen sein mag oder nicht sofort gelungen oder nicht in vollem Umfang gelungen, weil ja meistens im Leben die Erwartungen sich noch schneller entwickeln als unsere Möglichkeiten und Errungenschaften, auch bei selbstkritischer Betrachtung dieser vergangenen zwanzig Jahre haben wir allen Anlass zu stillem Stolz und lautem Dank. Und das gilt im Übrigen und ausdrücklich für den Westen gegenüber dem Osten nicht weniger als umgekehrt.

Historische Ereignisse haben ihre Daten, an die wir uns erinnern, weil damals etwas stattgefunden hat, was wir als Zäsur empfinden. Tatsächlich haben die herausragenden historischen Ereignisse regelmäßig meist Ursachen und Folgen, die weit über diese Daten hinausweisen. „Der frische Wind weht schon, auch wenn wir ihn nicht sehn“, wie Martin Jankowski in seinem Lied „Meine Ahnung (frischer Wind)“ schon 1988 ausdrückte und das er im Friedensgebet eben wieder vorgetragen hat. Ohne den 9. Oktober 1989 in Leipzig gäbe es den 9. November in Berlin nicht, den Fall der Mauer. Und beides zusammen war die Voraussetzung für den 3. Oktober 1990, die Wiederherstellung der Einheit unseres Landes und damit zugleich für die Überwindung der Teilung nicht nur Deutschlands, sondern Europas. Aber der Weg zur Freiheit hat nicht am 9. Oktober hier begonnen - so wenig wie er am 9. Oktober zu Ende war. Wenn überhaupt sich für solche Entwicklungen Daten benennen lassen, dann hat dieser lange, mühsame, entbehrungsreiche, verzweifelte Weg zur Freiheit begonnen am 17. Juni 1953. Damals sind zum ersten Mal erfolglos die Menschen in Ostberlin und in vielen anderen Städten aufgestanden und haben sich gegen die Bevormundung, die Entmündigung, die Verweigerung von Grundrechten aufgebäumt. Dieser Aufstand ist niedergeknüppelt worden, so wie der Volksaufstand 1956 in Budapest und der Prager Frühling 1968 und der Aufstand der Solidarność in Danzig 1980. Der Triumph der Freiheit war die Folge einer Serie von Niederlagen und er ist nur deswegen möglich geworden, weil die Menschen sich geweigert haben, diese jeweils zusammengeknüppelten Aufstände als das letzte Wort der Geschichte zu akzeptieren.

Freiheitskämpfe verdienen nicht dann Respekt, wenn sie erfolgreich gewesen sind, sondern wenn sie stattfinden. Würde Stefan Zweig heute noch leben, würde er vermutlich in seinen „Sternstunden der Menschheit“ dem 9. Oktober 1989 in Leipzig ein literarisches Denkmal setzen. Denn natürlich gibt es nur wenige Tage an denen sich der Wind der Veränderung so deutlich spüren und auch nachvollziehen lässt, wie das an jenem Tag in Leipzig der Fall gewesen sein muss. Damals hat hier Weltgeschichte stattgefunden, was man übrigens regelmäßig erst hinterher so genau weiß. Wenn meine Informationen über den Ablauf der Ereignisse richtig sind, ist damals nicht eine Scheibe zu Bruch gegangen, nur ein System. Das war - bis an die Zähne bewaffnet und scheinbar auf alles vorbereitet - zum eigenen Entsetzen am Ende seiner Möglichkeiten angelangt, nachdem es unmittelbar vorher mit Pomp und Militärparaden seinen vierzigsten Geburtstag zelebriert hatte. Diesen vierzigsten Geburtstag hat Erich Honecker damals mit dem nie mit Literaturpreisen ausgezeichneten, schwer überbietbaren Zitat geschmückt : „Den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf“. Vier Wochen später war die Mauer gefallen. Sechs Monate später war die Regierung in den ersten freien Wahlen, die es in der DDR überhaupt gab, aus dem Amt gewählt. Noch einmal sechs Monate später hatte sich der Staat aufgelöst. Aber es waren tatsächlich nicht Ochsen und Esel, es waren die Menschen die diese Veränderung wollten und die sie durchgesetzt haben. Deshalb ist tatsächlich der 9. Oktober ein Fest der Demokratie,  und ich bedanke mich sehr für die Einladung, mich an dieser schönen Tradition beteiligen zu dürfen, an diesem Tag gemeinsam über Demokratie nachzudenken.

Wenn wir auf die politischen Verhältnisse heute, zwanzig Jahre danach, in unserem demokratisch verfassten geeinigten Land schauen, dann stellen wir fest: weder die Parteien noch die Parlamente, weder die Regierungen noch die Opposition befinden sich auf dem Höhepunkt ihres öffentlichen Ansehens. Es gibt viel unzutreffende, aber eben auch manche berechtigte Kritik am Zustand unseres politischen Systems. Und dafür müssen wir gar nicht Umfragen bemühen mit den Zufälligkeiten der Umfragezeitpunkte und den Ungenauigkeiten in der Zuordnung von Auskünften. Eines wird man bei ruhiger und selbstkritischer Betrachtung schwerlich übersehen können: Das, was wir zum Funktionieren einer demokratischen, modernen Gesellschaft am dringendsten brauchen, droht zunehmend verloren zu gehen – Vertrauen. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Politik und für Politiker, das ist wohl wahr. Es gilt für Unternehmer, es gilt für Banker, es gilt für Sportler, es gilt für Funktionäre unterschiedlichster gesellschaftlicher Bereiche, es betrifft die Medien und es macht auch vor den Kirchen nicht halt.

 Das ist die Lage. Ich empfehle uns dringend, nicht zu unterschätzen, welcher Gesamteindruck sich in der Öffentlichkeit zunehmend  vermittelt und fast zwangsläufig ergeben muss. Denn wo immer man hinguckt, immer häufiger werden Erwartungen enttäuscht und wird das Vertrauen nicht bestätigt, das man gerade mit der Übernahme herausragender Funktionen diesseits und jenseits der Politik - wie ich finde zu recht - verbindet. Der Befund, über den wir hier reden, ist auch keine Momentaufnahme. Es ist ja leider nicht so, als sei es bis kurz vor diesem erstaunlichen Befund ganz anders gewesen und deswegen ab übernächster Woche auch sicher wieder alles in Ordnung. Wir reden nicht über eine vorübergehende Schlechtwetterfront, sondern wenn überhaupt reden wir über einen schleichenden Klimawandel, auch im Verhältnis der Bürger zu ihren Repräsentanten. Ein Wandel, der sich bei genauem Hinsehen schon seit einer beachtlichen langen Zeit in einem besorgniserregend stabilen Trend bemerkbar macht.

Dass Demokratien ausbluten können oder erodieren, dass wissen wir Deutsche seit dem Scheitern der Weimarer Republik. Am mangelhaften Verfassungstext ist die Weimarer Republik nicht gescheitert, am unzureichenden Einsatz der Demokraten schon sehr viel eher. Die Demokratie im Normalzustand erzeugt in der Regel auch weniger Leidenschaft, als eine Diktatur im Ausnahmezustand. Deswegen wird man sich aber wohl schwerlich den Ausnahmezustand als Dauerzustand wünschen wollen, um die Leidenschaften auf Dauer zusetzen.

Für den Verlust an Vertrauen gibt es viele Indizien: Dazu gehört die seit Jahren rückläufige Wahlbeteiligung. Dazu gehört der nicht zu übersehende bemerkenswerte Verlust der Bindungskraft politischer Parteien, auch und gerade der großen Volksparteien. Man muss eigentlich längst sagen :der früher großen Volksparteien. Haben doch allein die beiden größeren Volksparteien in Deutschland in den vergangenen fünfzehn Jahren zusammen mehr als eine halbe Millionen Mitglieder und weit mehr Wähler verloren. Dieser geringe Anteil an Bindungskraft führt kombiniert mit der rückläufigen Wahlbeteiligung zu dem außerordentlich ernüchternden Befund, das die Partei der Nichtwähler inzwischen die größte politische Gruppierung in Deutschland ist und zugleich die mit den höchsten Zuwachsraten.

Dennoch und gerade deshalb müssen wir sorgfältig zwischen der Zustimmung zur Demokratie als Staatsform und der Kritik an der Arbeit demokratischer Institutionen und den konkret stattfindenden politischen Ereignissen unterscheiden. Diese Kritik ist im übrigen nicht nur erlaubt, sie ist auch notwendig, auch wenn nicht jede Kritik berechtigt und in Art und Umfang überzeugend ausfallen muss. Die Anforderungen, denen sich die Politik heute ausgesetzt sieht -  von der kommunalen Ebene angefangen bis zum Bund und bis zur europäischen Gemeinschaft und den internationalen Organisationen - sind im übrigen nicht nur anders als früher, sie sind auch höher und größer als früher. Ein so unverdächtiger,  jedenfalls der Neigung zur Übertreibung unverdächtiger, erfahrener und kluger Beobachter wie Hans-Jochen Vogel, der Erfahrungen so wohl in der Kommunalpolitik als langjähriger Münchener Oberbürgermeister als auch in der Landes- und in der Bundespolitik hat, als Regierender Bürgermeister in Berlin, als Bundesminister in Bonn, der also in Regierungsämtern und in Gesetzgebungsorganen über eine jahrzehntelange Erfahrung verfügt, hat gerade im Kontext dieser Auseinandersetzung einmal darauf hingewiesen, früher sei tatsächlich alles deutlich einfacher gewesen. Heute, sagt er, sei die Wahrung von Wohlstand und sozialer Sicherung bei rückläufiger Bevölkerungszahl und zunehmender Überalterung unter den Wettbewerbungsbedingungen der Globalisierung eine neue und große Herausforderung, die es früher so nicht gegeben hat. Dem wird man schwerlich widersprechen können. Die Erwartungen der Öffentlichkeit im Umgang mit diesem Problem sind allemal ausgeprägter  als die tatsächlichen Gestaltungsspielräume, die sowohl bei den Regierungen als auch bei Parlamenten regelmäßig sehr viel enger sind, als die Öffentlichkeit in den großzügigen Entwürfen erhofft und gelegentlich vermutet. Es ist im übrigen auch schwer zu übersehen, dass die konkreten Erwartungen des Publikums an Regierungen und Parlamenten sich nicht selten wechselseitig ausschließen, weil das, was die einen für absolut dringlich halten, die anderen oft für unzumutbar erklären und umgekehrt. Auf diese Weise werden durch Festhalten an gewohnten Verhältnissen und liebgewordenen Besitzständen genau die Veränderungen verhindert, deren Ausbleiben die Wähler anschließend Parteien, Parlamenten und Regierungen vorwerfen.

 Ihnen fällt in diesem Zusammenhang vermutlich auch ein konkretes Beispiel ein, mir auch. Und es wäre ja geradezu wirklichkeitsfremd, an einem Tag wie heute in Leipzig, wo wir die Bedeutung und Wirkung der Montagsdemonstrationen würdigen, nicht über Rang und Bedeutung der Demonstrationen nachzudenken, die in Stuttgart schon seit Wochen stattfinden und von denen nicht wenige meinen, dass ihnen eine durchaus vergleichbare politische, wenn nicht historische Bedeutung zukomme.

Deshalb möchte ich doch zu Beginn auf den mehr als nur marginalen Unterschied aufmerksam machen, dass die Leipziger Montagsdemonstrationen der Einforderung eines Rechtsstaates dienten, den es damals nicht gab, während wir heute, ob in Stuttgart, Berlin, Dresden, Köln oder Hamburg, wo immer wir vom Demonstrationsrecht Gebrauch machen, uns der Errungenschaften ganz selbstverständlich bedienen, die der Rechtstaat garantiert, was offenkundig nicht dasselbe ist.

Der Bau eines Bahnhofs, der Bau eines Flughafens oder eines Kraftwerkes, so wichtig sie jeweils sein mögen, ist sicher kein geeigneter Anlass für eine Regierung, zu demonstrieren, dass sie stärker ist als das Volk. Am Ende, das wissen wir inzwischen ja etwas genauer, ist ohnehin das Volk immer stärker. Aber auch das Volk kann bei ruhiger Betrachtung kein Interesse an einer Kraftprobe mit dem Rechtsstaat haben, von dessen verlässlicher Ordnung die Wahrung seiner Freiheitsrechte abhängt.

Richard Schröder, der Theologe und Teilzeit-Politiker, damals Fraktionsvorsitzender in der SPD in der freigewählten Volkskammer, hat im Sommer dieses Jahres in einem sehr lesenswerten Essay unter dem Titel „Warum die Demokratie dennoch die bessere Staatsform ist“, sich mit den Erwartungen und Frustrationen auseinandergesetzt, die zunehmend die öffentliche Stimmung prägen, und in diesem Zusammenhang mit Nachdruck davor gewarnt, die Demokratie pauschal zu kritisieren. Ich möchte zwei Sätze zitieren, weil ich sie gerade auch im Zusammenhang mit den aktuellen Auseinandersetzungen nicht nur aber auch in Stuttgart für eine zutreffende Ermahnung an alle Beteiligten halte. „Wer uns aber,“ schreibt Richard Schröder, „eine bessere Demokratie vorbei an Grundrechten und Gewaltenteilung verspricht, dem müssen wir die bittere Erfahrung entgegen halten: Antiparlamentarismus im Namen des Volkes hat in Deutschland schon zweimal in die Diktatur geführt. Beide Diktaturen liebten das Wort Volk ganz besonders: Volkspolizei und Volksarmee und Volkskammer und Volksgerichtshof und Volkszorn und Volkswille.“

Je genauer man hinsieht, desto schwieriger wird der Umgang mit der Demokratie. Sie  ist eben nicht nur die beste uns bislang bekannte Staatsform, es ist auch die schwierigste, die anspruchsvollste. Müssen sich auch demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente Widerspruch und Widerstand von Menschen gegen demokratisch getroffene Entscheidungen gefallen lassen? Ja, sie müssen sich das gefallen lassen, denn dies ist der Preis der Freiheit. Aber auch Demonstranten müssen sich zumuten lassen, dass ihnen geltendes Recht vorgehalten wird, denn es ist die Bedingung ihrer Freiheit und wenn wir uns einmal auf das riskante Spiel einlassen, die einen Rechte gegen die anderen auszuspielen, zum Beispiel das Demonstrationsrecht gegen das Baurecht, dann bedenke jeder das Ende. Wenn für einmal getroffene Entscheidungen,  bei denen im übrigen ernsthaft niemand bislang den Vorwurf erhoben hat , es sei durch Verkürzung von Rechtswegen oder gar durch Verweigerung von Beteiligungsrechten entstanden, wenn einmal allgemein akzeptiert wird, dass eine korrekt zustande gekommene Entscheidung dispositionsfähig sein müsse, muss jeder die Frage für sich beantworten, was für die nächste, die übernächste, die dritte, die dreißigste, die dreihundertste und die dreitausendfünfhundertste Entscheidung denn an Regeln gelten soll, die für alle verbindlich sein sollen und müssen.

Parlamente wie Regierungen  müssen ganz gewiss lernfähig sein. Und wo diese Begabung nicht besonders ausgeprägt ist - was gelegentlich vorkommt - muss es trainiert werden.  Für die Parteien gilt das ganz besonders. Aber sie sollten nicht wankelmütig sein. Mit Abstand wichtiger und wirksamer als die schwankende Popularität einer Politik ist ihre Glaubwürdigkeit. Was die Politik an Glaubwürdigkeit verliert - wodurch auch immer - durch Wankelmütigkeit, durch Wortbruch, durch Gleichgültigkeit oder durch Beliebigkeit, warum auch immer, was sie an Glaubwürdigkeit verliert, kann sie an Popularität weder gewinnen noch ausgleichen. Wir alle miteinander, aber die Politiker natürlich in allererster Reihe, sollten vielleicht etwas bescheidener in unseren Ankündigungen werden ,dafür aber anspruchsvoller in den Zielen und mutiger in den Entscheidungen.

Streit ist nicht nur erlaubt sondern im Ringen um die beste Lösung unverzichtbar, er sollte aber immer an der Sache orientiert sein. Er muss Diffamierungen und Übertreibungen vermeiden. Demokratie ist kein Verfahren zur Vermeidung von Streit, ganz im Gegenteil. Demokratie ist das beste uns bislang bekannte Verfahren, unvermeidlichen Streit erstens fair und zweitens verbindlich auszutragen. Und das Kriterium der Fairness ist nicht weniger wichtig als die Erwartung der Verbindlichkeit. Das eine ist die Voraussetzung für das andere.

Politik kann im übrigen immer nur so gut sein wie die Leute, die sich für das Gemeinwohl zur Verfügung stellen. Buhrufe von den Zuschauerplätzen sind  erlaubt, ersetzen aber nicht das eigene Engagement. Und im übrigen, einmal ganz praktisch betrachtet: jeder,  der sich für die Politik für zu gut hält, muss wissen, das er sie damit anderen überlässt, die er selbst für schlechter hält. Dass ein beachtlicher Teil politischer Entscheidungen in den berühmten Kulissen stattfindet, nicht auf der Vorderbühne, der unmittelbaren Beobachtung des mal mehr und mal weniger begeisterten Publikums entzogen, ist wahr. Und auch auf die Gefahr hin, das jetzt die ersten Zuhörer gehen: Es ist vernünftig. Es ist nämlich eine Voraussetzung dafür, dass Kompromisse überhaupt möglich werden, die nach den blutigen Opfern des politischen und religiösen Fundamentalismus, die wir bis in unsere Tage beklagen, zu den größten Errungenschaften der Menschheit gehören. Eine Gesellschaft , die nicht mehr kompromissfähig ist, wäre weder eine humane noch eine freiheitliche Gesellschaft.

Deshalb muss ein politisches System, das sich von seinem Grundverständnis her als Ordnungsrahmen einer freiheitlichen Gesellschaft versteht, die Voraussetzungen dafür schaffen und erhalten, dass Kompromisse möglich bleiben oder möglich werden.

Ich möchte zum Schluss noch eine Bemerkung zur jungen Generation machen, an deren Interesse und Engagement für viele wichtige, manchmal auch nicht ganz so wichtige Dinge, kein ernsthafter Zweifel erlaubt ist, bei der wir aber auch nicht übersehen dürfen, dass das vorhin im Allgemeinen festgestellte begrenzte Vertrauen gegenüber politischen Institutionen und vor allem gegenüber den Parteien bei ihnen eine besonders starke Ausprägung findet. Attraktiv erscheinen für junge Leute insbesondere Institutionen, die mit Politik wenig und mit Parteien gar nichts zu tun haben. Das muss uns nachdenklich stimmen, denn eine Erleichterung oder Begünstigung ist das bei genauem Hinsehen für niemanden, nicht mal für die jungen Leute selbst. Es ist auch kein Naturgesetz. Deshalb wäre es schon mehr als nur schön, sondern dringend erwünscht, wenn möglichst viele junge Leute mehr als heute auch die öffentlichen Angelegenheiten für ihre eigenen Angelegenheiten hielten und sich mit Nachdruck selber darum kümmern. Über welche Themen wir heute auch immer reden und gelegentlich entscheiden, ob über die Entwicklung des Arbeitsmarktes, die Zukunft unserer sozialen Sicherungssysteme, die künftige Struktur unserer Energieversorgung, den Wehrdienst, den Klimawandel und wie wir damit umgehen wollen, für alle diese Themen gilt: wir verhandeln über die Zukunftsperspektiven von niemanden mehr als von der jungen Generation, die den größten Teil ihres Lebens noch vor sich hat.

Und in diesem Zusammenhang mal nur zum weiteren Nachdenken: Nehmen wir mal an, wir meinten es ernst mit dem Bau einer völlig neuen Architektur unserer künftigen Energieversorgung, die wenn eben möglich ganz oder so gut wie vollständig auf erneuerbaren Energien aufgebaut sein soll. Wenn wir das ernst meinen, werden wir in einem gigantischen Umfang Netze nachrüsten müssen und Stromleitungen brauchen, die nach allen Erfahrungen  dort, wo sie gebaut werden, nicht auf die jubelnde Zustimmung der dort jeweils lebenden Menschen treffen. Wollen wir dann jeweils Volksabstimmungen durchführen, Ort für Ort, Region für Region, und führen in einem großen verzweifelten Finale einer selbst sich am Ende überholenden Volksherrschaft die Demokratie restlos ad absurdum? Oder erhalten wir unsere Fähigkeit, verantwortlich mit der eigenen Zukunft umzugehen?

Václav Havel, der tschechische Bürgerrechtler, der übrigens in dieser Woche seinen 74. Geburtstag gefeiert hat, hat vor einiger Zeit einmal, mit Blick auf die zurückliegenden Ereignisse gesagt: „Solange wir um die Freiheit kämpfen mussten, kannten wir unser Ziel. Jetzt haben wir die Freiheit und wissen gar nicht mehr so genau, was wir wollen.“

Wissen wir, was wir wollen? Die Euphorie und die Ängste, die elektrisierende Atmosphäre des 9. Oktober der Tage davor und danach, vor und nach dem Mauerfall bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit  kann man nicht ernsthaft auf Dauer setzen. Man kann Euphorie nicht auf Flaschen ziehen und Begeisterung nicht in Konserven lagern. Aber das, was aus den damaligen Ereignissen geworden ist, das kann man nicht nur konservieren, das müssen wir konservieren, das ist unsere Aufgabe. Einigkeit und Recht und Freiheit. Roman Herzog, unserer früherer Bundespräsident, hat einmal gesagt: „Es gibt viele demokratische Tugenden, Bequemlichkeit gehört nicht dazu“. Das ist ein kluger Satz. Er gilt im übrigen nicht nur für das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat, er gilt auch für das Verhältnis der Politik gegenüber der Gesellschaft. Die erste demokratische Tugend ist Verantwortung, Verantwortung für sich selbst und Mitverantwortung für das eigene Land. Für die Verhältnisse in unserem Land, für die politische, die wirtschaftliche, die soziale und die kulturelle Entwicklung in unserem Land sind wir verantwortlich.

Wir alle. Wer sonst? Wir sind das Volk.

Parlament

Begrüßung und Ansprache des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, beim Fest zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010

Meine Damen und Herren,
verehrte Gäste,

herzlich willkommen zur Feier des 20. Jahrestages der deutschen Einheit auf dem Platz der Republik.

Ich begrüße Sie alle, ganz besonders herzlich

- unseren Bundespräsidenten Christian Wulff,

- die Bundeskanzlerin Angela Merkel,

- den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Prof. Andreas Voßkuhle.

Es ist besonders schön, dass wir dieses Fest nicht nur mit den heutigen Repräsentanten der Verfassungsorgane begehen können, sondern gemeinsam mit den Frauen und Männern, die damals Verantwortung für unser Land getragen haben. Ich begrüße darum besonders gerne und besonders herzlich

- Bundespräsident Richard von Weizsäcker und

- seinen Vorgänger im Amt, Bundespräsident Walter Scheel,

- ich begrüße die damalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, Rita Süssmuth,

- den einzigen freigewählten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière,

- die damalige Präsidentin der Volkskammer und das letzte amtierende Staatsoberhaupt der DDR, Sabine Bergmann-Pohl,

- mein besonderer Gruß gilt unserem langjährigen Außenminister und Vizekanzler, Hans-Dietrich Genscher.

Es ist für uns alle eine besondere Freude, dass heute abend als Ehrengast der Mann unter uns ist, mit dessen Namen sich mehr als mit jedem anderen die deutsche Einheit verbindet: Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.

Lieber Helmut Kohl, Sie waren nicht der einzige, der die Wiederherstellung der deutschen Einheit wollte, und natürlich haben Sie sie auch nicht alleine zustande gebracht.

Viele haben daran mitgewirkt, dass die Mauer fallen konnte - Bekannte und Unbekannte, Deutsche und Freunde im Ausland. Aber dass wir Deutsche diese historische Chance im Einvernehmen mit allen unseren Nachbarn und mit Unterstützung wichtiger Partner in der Welt tatsächlich nutzen konnten, daran haben Sie einen herausragenden persönlichen Anteil. Heute ist eine besonders gute Gelegenheit, Ihnen, lieber Helmut Kohl, dem Kanzler der Einheit und dem Ehrenbürger Europas, für diese historische Leistung zu danken.

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Exzellenzen, verehrte Gäste, meine Damen und Herren!

Heute vor 20 Jahren um Mitternacht wurde hier in Berlin an gleicher Stelle vor dem Berliner Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestages, erstmals feierlich die Bundesflagge aufgezogen, um den Geburtstag des wiedervereinten Deutschland zu feiern. Der Bundespräsident hat heute Mittag beim Festakt in Bremen daran erinnert.

In der alten und neuen Hauptstadt unter dem Läuten der Freiheitsglocke und in vielen anderen Städten Deutschlands bejubelten hunderttausende Menschen in der größten Straßenparty des Jahrhunderts das historische Ereignis, das den meisten, die damals dabei waren, und manchen bis heute wie ein Wunder erscheint. Ein Wunder war es nicht, auch kein Naturereignis. Sondern die Folge einer friedlichen Revolution, die ihre selbstgesetzten Ziele nicht nur erreicht, sondern am Ende sogar überboten hatte. Unser Dank und Respekt gilt heute all den Frauen und Männern in Ost und West, die über Jahre und Jahrzehnte für Freiheit und Selbstbestimmung gekämpft und schließlich die Einheit in Freiheit durchgesetzt haben.

Innerhalb von nur elf Monaten nach dem Fall der Mauer waren die Voraussetzungen geschaffen für die Vereinigung der beiden Teile Deutschlands. Wir sind seitdem wieder ein Volk und eine Nation in einem Staat. Einigkeit und Recht und Freiheit - der Wille der Deutschen zur Einheit in freier Selbstbestimmung, der in diesen Worten unserer Nationalhymne zum Ausdruck kommt, ist Wirklichkeit geworden.

Meine Damen und Herren, wenn das wiedervereinigte Deutschland heute seinen 20. Geburtstag feiert, ist die erste Generation erwachsen geworden, die nie etwas anderes erlebt hat. Ein freies, geeintes und demokratisches Deutschland in einer europäischen Gemeinschaft, der scheinbar ebenso selbstverständlich west-, mittel- und osteuropäische Staaten angehören. Sie erlebt ein Deutschland, das vor 20 Jahren neu entstanden ist und dessen Zukunft ihre Aufgabe ist, die Aufgabe der jungen Generation. Deswegen möchte ich an dieser Stelle noch einmal ganz besonders den vielen jungen Leuten danken, die diesen wunderschönen Abend heute für uns gestaltet haben.

Wir leben heute in einem Land, in dem wir als Deutsche und zugleich als Europäer zum ersten Mal in der Geschichte mit allen unseren Nachbarn in Frieden und Freundschaft zusammenleben. Meine Damen und Herren, liebe Landsleute, auch bei selbstkritischer Betrachtung der 20 Jahre seit dem 3. Oktober 1990, haben wir alle miteinander Anlass zu stillem Stolz und lautem Dank. Und das gilt im übrigen für den Westen gegenüber dem Osten nicht weniger als umgekehrt.

Meine Damen und Herren, die spontane Begeisterung und grenzenlose Freude jener Tage lassen sich nicht auf Dauer setzen, die damals geschaffenen Veränderungen schon. Einheit und Freiheit und Frieden in einem Land, das seine Einheit wieder gefunden hat in einem vereinten Europa. Meine Damen und Herren, diese stolzen Errungenschaften verdanken wir den revolutionären Ereignissen, die vor 20 Jahren stattgefunden und unser Land verändert haben. Glücklichere Zeiten hatten wir Deutsche nie. Das ist gewiss ein Grund zu feiern, hier in Berlin und überall im Lande. Im dankbaren Rückblick und vor allem der Zukunft zugewandt.

Blüh im Glanze dieses Glückes, blühe deutsches Vaterland!

Parlament

Grußwort des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, aus Anlass des 20. Jahrestages der Schließung des Untersuchungsgefängnisses des DDR-Staatssicherheitsdienstes in Berlin Hohenschönhausen am 27. September 2010

Sehr geehrter Herr Knabe, Herr Professor Wolffsohn, Herr Schüler,
meine Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus parlamentarischen Gremien,

am nächsten Sonntag begehen wir den 20. Jahrestag der Deutschen Einheit und wenige Tage vorher erinnern wir daran, dass damit gleichzeitig auch eines der ebenso authentischen wie entsetzlichen Hinterlassenschaften der DDR zu Ende gegangen ist, nämlich das Gefängnis Hohenschönhausen. Zwischen diesen beiden Ereignissen besteht ein enger Zusammenhang und ich finde, es hat eine nicht weiter erläuterungsbedürftige innere Logik, diesen Zusammenhang gemeinsam in den Blick zu nehmen.

Auch deswegen bin ich gerne der Einladung gefolgt, heute Abend dabei zu sein. Ich habe - wenn Sie so wollen - eine offizielle und eine private Motivation. Die offizielle Motivation ergibt sich aus dem Amt und die private ergibt sich aus meiner Wahrnehmung der eigenen Biographie im Kontext der Geschichte dieses Landes, unseres Landes, das seit 20 Jahren wieder in einem Staat unter demokratischen Bedingungen vereint ist. Als die Berliner Mauer gebaut wurde, war ich noch nicht ganz 13 Jahre alt. Ich kann mich an den Tag sehr gut erinnern, ich war mit meinen Eltern in den Sommerferien in Holland, und wir erhielten die Nachricht vom Bau einer Mauer in Berlin. Mein Interesse an Politik hat an diesem Tag nicht begonnen, aber es ist von diesem Tage an noch intensiver und dauerhafter gewesen als zuvor. Ich bin, woran es in diesen Tagen zu erinnern lohnt, in einer Zeit groß geworden, in der vermutlich die meisten Deutschen in Ost wie in West die Teilung dieser Stadt, die Teilung dieses Landes, die Teilung Europas, die Zugehörigkeit von zwei deutschen Staaten zu zwei unterschiedlichen Militärbündnissen - beide politisch, militärisch und ideologisch gewissermaßen bis an die Zähne bewaffnet sich gegenüber stehend -, in der die meisten Deutschen in Ost wie in West diesen Zustand für normal gehalten haben, normal mindestens im Sinne von scheinbar unvermeidlich, scheinbar nicht zu verändern.

Ich trage das nur deshalb vor, weil in diesen Tagen, in denen wir an die 20 Jahre seit Überwindung von Diktatur und Mauern und Stacheldrahtzäunen und staatlich organisierten Unrecht erinnern, weil seitdem eine Generation herangewachsen ist, die erste Generation in Deutschland, die in ihrer Biographie nie andere Verhältnisse kennengelernt hat als ein vereintes Deutschland, demokratisch verfasst, mit regelmäßigen freien Wahlen, mit einem funktionierenden, wenn auch nicht immer über jeden Zweifel erhabenen Rechtsstaat, in einem friedlich zusammenwachsenden Europa. Und natürlich hält diese heutige Generation der 20jährigen die neue Lage für genauso selbstverständlich wie wir damals die Teilung empfunden haben, weil wir nichts anderes kennengelernt hatten. Aber die Wahrheit ist, dass weder die Teilung normal war noch die Wiederherstellung der Einheit selbstverständlich, und dass dies auch nicht wie ein Naturereignis über dieses Land gekommen ist, sondern als Ergebnis eines bemerkenswerten Engagements von vielen, in der Mehrzahl unbekannten Frauen und Männern, übrigens auch nicht nur in Deutschland, sondern auch bei unseren Nachbarn, die sich geweigert haben, diesen scheinbar normalen, aber zutiefst unnormalen Zustand als letztes Wort der Geschichte hinzunehmen.

Manche von Ihnen mögen verfolgt haben, dass ich es mir in meiner Amtszeit als Parlamentspräsident zur ganz selbstverständlichen Gewohnheit gemacht habe, auch und gerade an die herausragenden jüngeren Ereignisse der deutschen Geschichte in Gedenkveranstaltungen im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zu erinnern. Und dass wir in diesem Zusammenhang auch ein Datum wieder ins öffentliche Bewusstsein gehoben haben, das sowohl in der ostdeutschen wie in der westdeutschen jüngeren Geschichte schon dem allgemeinen Vergessen anheim gegeben war, nämlich den 17. Juni 1953.

Für mich persönlich beginnt die Geschichte der Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas am 17. Juni 1953. Denn an diesem Tag beginnt die Auflehnung gegen den Zustand, der damals in Deutschland bestand.

Weil diese Gedenkstätte die verdienstvolle Aufgabe übernommen hat, insbesondere nachfolgenden Generationen von Entwicklungen zu berichten, die sie nicht erlebt haben, die sie nie erleben mussten: Es gehört zu diesem Prozess des wechselseitigen Erinnerns und Verdeutlichens von selber nicht gemachten, aber politisch hoch bedeutsamen Erfahrungen, gelegentlich daran zu erinnern, dass die Überwindung der Diktaturen in Deutschland und in Mittel- und Osteuropa durch eine Serie von Niederlagen zustande gekommen ist, an deren Ende nur deswegen der Triumph der Freiheit stehen konnte, weil die Menschen nicht bereit waren, die Niederlagen als die abschließende Antwort der Geschichte zu akzeptieren.

1953 hier in Berlin und in anderen Städten der damaligen DDR, 1956 in Budapest, 1958 in Prag, 1980 in Polen - alles niedergeschlagene Aufstände, alle mit militärischer Gewalt niedergeknüppelt. Und wenn die einen wie die anderen bzw. die einen oder die anderen resigniert hätten und diesen Zustand, wenn schon nicht für normal, so dann doch wenigstens für unabänderlich gehalten hätten, bestünde er vermutlich noch heute. Jedenfalls, das sage ich in die Gewissenserforschung der Westdeutschen hinein, hätte die tapfere Aufrechterhaltung des politischen Anspruchs und des Völkerrechtsanspruchs, das deutsche Volk in einem Staat wieder zusammenzuführen, alleine die Einheit nicht herbeigeführt, wenn die Menschen, denen die Freiheit verweigert war, diese Freiheit nicht zurückerkämpft hätten.

Das eine war ohne das andere nicht zu haben. Denn es hätte auch dieser tapfere Kampf nichts geholfen, wenn die Rechtsansprüche in der Zwischenzeit aufgegeben gewesen wären, um die sich viele von Ihnen mit verzweifelter Wut bemüht haben. Und deswegen glaube ich, haben wir uns am 20. Geburtstag der Deutschen Einheit nicht wechselseitig Aufrechnungen zu machen, sondern im Gegenteil, den jeweiligen -sehr unterschiedlichen, aber jeweils unverzichtbaren - Beitrag zu dieser glücklichsten Wende, die es in der jüngeren deutschen Geschichte je gegeben hat, zu würdigen.

Ich hatte zu Beginn gesagt, ich bis deswegen gerne gekommen, weil ich neben einem offiziellen Amt auch eine private Wahrnehmung der eigenen Biographie im Kontext einer schwierigen deutschen Geschichte habe. Als ich zum ersten mal dieses Gefängnis in Hohenschönhausen besucht habe, da ist mir - wie vermutlich vielen Tausend Besuchern vorher und hinterher auch - der prinzipielle Unterschied bewusst geworden, der darin besteht, ob man ein Gefängnis als Besucher oder als Häftling betritt. Und so banal sich dieser Unterschied anhört, so wenig selbstverständlich ist er offenkundig im Bewusstsein vorhanden. Aber dass wir solche authentische Stätten der Erinnerung brauchen, das macht alleine schon die erstaunliche Debatte deutlich, die es immer noch über die Frage gibt, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Wer jemals in Hohenschönhausen war, auch als Besucher, für den hat sich diese Frage beantwortet.

Ein Staat, in dem es weder eine freie Presse gibt noch eine legale Opposition, in dem Wahlen nicht stattfinden oder ihre Ergebnisse vorher feststehen und in einer eher transparenten als unübersichtlichen Weise dem nur mäßig erstaunten Volk präsentiert werden, in dem nicht nur Gesinnungsschnüffelei sondern Gesinnungsterror stattfindet und exekutiert wird: einen Staat, der seinem terminologischen Selbstverständnis zum Trotz sich zwar „Deutsche Demokratische Republik“ nennt, aber zu keinem Zeitpunkt auch nur die Absicht hatte, seine Bürger darüber befinden zu lassen, von wem sie regiert werden wollen, einen solchen Staat mag man nennen wie man will, dass es ein Unrechtsstaat ist, liegt offen zutage. „Nennt es, wie ihr wollt“, hat Richard Schröder dazu gesagt, „aber vergesst nicht, wie es war.“ Nicht zu vergessen, wie es war: das ist die wichtige Aufgabe der Gedenkstätte Hohenschönhausen.

Christa Wolf hat, wie viele von Ihnen wissen, ein Tagebuch geschrieben, das zunächst nur für einen kurzen Zeitraum geplant war und die Erlebnisse eines Tages schildern sollte, das sie dann aber bis zum Jahre 2000 fortgesetzt hat. Sie beginnt ihre Aufzeichnungen heute auf den Tag genau vor 50 Jahren, am 27. September 1960. Ich will zwei kurze Zitate aus diesem Tagebuch vortragen, die für mich den Prozess sowohl des Bewusstwerdens wie des Selbsttäuschens verdeutlichen, der unter den geschilderten Bedingungen eines im technischen Sinne nahezu perfekt organisierten Unrechtsstaat geherrscht hat. Am 27. September 1961 schreibt sie in ihrem Tagebuch: „Ins Gespräch kommt überraschenderweise die Frage, was uns eigentlich, ganz konkret, in der DDR hielt (und hält), da so viele weggingen. (…) Im Negativen sofort zu beantworten: man weiß, was ‚drüben‘ gespielt wird, und daß man da nicht hingehört. Im Positiven: Daß hier bei uns die Bedingungen zum Menschwerden wachsen. Theoretisch ganz klar. Praktisch: wachsen sie wirklich?“(„Ein Tag im Jahr“, S. 34 f.) Das war ein paar Wochen nach dem Mauerbau und wenn man die Frage nicht für zynisch halten will, hatte sie sich zu dem Zeitpunkt eigentlich längst beantwortet. Und am 27. September 1989 schreibt sie in ihr Tagebuch: „Wir nannten es Kommunismus. (…) Uns ist bewußt, daß der Staat, in den wir hineingewachsen sind und der jetzt in seiner tiefsten Krise steckt, seine Legitimation aus abstrakten Zielen genommen hat; aus einer Theorie, der er die Wirklichkeit anpassen wollte.“ (Ebd., S. 441 und 450f.) Sechs Wochen später war die Mauer gefallen und die Wirklichkeit hatte endgültig die Theorie wiederlegt.

Natürlich ist der 20. Jahrestag des Endes von Hohenschönhausen, der 20. Jahrestag der Wiederherstellung der Einheit eines Landes unter den Bedingungen einer demokratischen Verfassung mit all den Strukturelementen, die uns für ein demokratisches politisches System unverzichtbar und insofern selbstverständlich vorkommen, ein Tag der Freude. Aber ich verstehe gut, dass er für manche - und vor allem für manche von Ihnen - nicht nur mit Gefühlen des Dankes und der Erleichterung, sondern auch mit manchen Gefühlen der Bitternis verbunden ist. Und es fällt mir auch nicht schwer nachzuvollziehen, dass sich diese gelegentlich auch auf die Prinzipien und Mechanismen und Verfahren und damit verbundenen Entscheidungen eines Rechtsstaates bezieht, bei dem zwischen dem, was gültiges Recht ist und dem, was dem eigenen Gerechtigkeitsempfinden entspricht, gelegentlich eine empfindliche Diskrepanz besteht. Ich habe in meiner Rede zum Nationalfeiertag 2007 in Schwerin schon öffentlich die Frage gestellt, ob der Eindruck völlig unberechtigt sei, dass das neue, das vereinte Deutschland, die demokratische Republik gegenüber den Opfern des Unrechts weniger Großzügigkeit aufgebracht hat als gegenüber den Tätern. Man muss auf diese Frage nicht eine rundum überzeugende Antwort haben, ich jedenfalls habe keine rundum überzeugende Antwort. Aber die Frage wird man stellen dürfen und müssen, und ich glaube, wir sind das auch all den Frauen und Männern schuldig, die in ihrer persönlichen Biographie den mit Abstand schwierigeren Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte hinter sich zu bringen hatten. Und das darf auch und gerade an einem Tag des Feierns und der Freude über die Wiederherstellung von Einigung und Recht und Freiheit nicht verdrängt werden.

Und deswegen verbinde ich meinen Glückwunsch zu diesem glücklichen Geburtstag mit dem ausdrücklichen Dank und Respekt für all diejenigen von Ihnen, die mit einem bewundernswerten Einsatz sich der Pflege dieser Erinnerung widmen, dem völlig unverzichtbaren Bemühen, einer Generation, die jetzt in Deutschland unter bislang beispiellos günstigen Verhältnissen groß wird, zu vermitteln, dass fast nichts von dem, was sie für selbstverständlich halten, tatsächlich selbstverständlich war.

Parlament

Festrede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, aus Anlass der Veranstaltung „60 Jahre Charta der Heimatvertriebenen“ am 5. August 2010 in Stuttgart

Im Rückblick sieht vieles oft leichter und einfacher aus, als es tatsächlich gewesen ist. Und selbst für schwierige Geschichten und eine im wörtlichen Sinne dramatische Geschichte finden Historiker mit dem gebotenen zeitlichen Abstand meist plausible Erklärungen über Abläufe, ihre Ursachen und ihre Wirkungen.

Die Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahr 1950 gehört zu den Gründungsdokumenten der Bundesrepublik Deutschland, sie ist eine wesentliche Voraussetzung ihrer vielgerühmten Erfolgsgeschichte. Die Charta ist deshalb von historischer Bedeutung, weil sie innenpolitisch radikalen Versuchungen den Boden entzog, außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung und Versöhnung unter Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Nachbarn vorbereitete und wirtschafts- und gesellschaftspolitisch nicht nur die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, sondern über sie hinaus einen beispiellosen Wirtschaftsaufbau ermöglichte, der weltweit als „deutsches Wirtschaftswunder“ Anerkennung gefunden hat. Die wirkliche Bedeutung, ja die Größe dieser Charta, zu der heute manche erstaunlichen Kommentare zu hören und zu lesen sind, ergibt sich natürlich erst und nur aus der Kenntnis der Umstände, in denen sie entstanden ist und an die Frau Steinbach mit vollem Recht erinnert hat.

1950 lebten in Deutschland 12, 13 oder 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, niemand weiß das ganz genau, mehr als acht Millionen in der jungen Bundesrepublik. Von den Heimatvertriebenen lebten im Jahre 1950, fünf Jahre nach dem 2. Weltkrieg, noch 49,5 Prozent, also ziemlich genau die Hälfte, in Lagern und 34,3 Prozent in Notwohnungen. Damals - 1950 - kamen in der Bundesrepublik auf 1000 Einwohner 220 Wohnungen. In den ausgebombten Städten des Westens war schon angesichts des Fehlbestandes von 4,3 Millionen Wohnungen kein Platz für die Aufnahme von Zuwanderern. Die Neuankömmlinge wurden entweder in Barackenlager eingewiesen, die bis Kriegsende durch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter belegt gewesen waren, oder die Einheimischen wurden durch Flüchtlingskommissare oder die Polizei gezwungen, Vertriebene in ihre Häuser und Wohnungen aufzunehmen. Dabei wurden nicht selten leere Räume in Dachgeschossen zugewiesen, die in der Regel nicht heizbar waren. Die Ansiedlung erfolgte weithin auf dem Land, vorwiegend in Orten unter 5000 Einwohnern. Die Statistik für den Freistaat Bayern, die auf einer Volkszählung von Dezember 1949 beruht, weist aus, dass damals insgesamt mehr als 75 Prozent der Vertriebenen in Wohnorten unter 5000 Einwohnern lebten. In einem Dörfchen wie Holzhausen am Starnberger See bekamen die 561 dort angestammten Bürgerinnen und Bürger einen ungebetenen Zuzug von 824 Vertriebenen und Evakuierten.

Meine Damen und Herren, man braucht nicht viel Phantasie und man muss auch - wie ich - damals noch nicht gelebt haben, um sich vorzustellen, welche Unterschiede in der Mentalität, dem Dialekt, den Lebensweisen und welche handfesten Interessen damals hart aufeinander prallten. In einem Memorandum der britischen Militärregierung hieß es damals, der Stress mit den Einwanderern fördere „ein bedeutendes Unmutspotenzial“. Das war vermutlich eher vorsichtig formuliert. Ohne einschneidende Verbesserungen, so hieß es weiter, werde „Deutschland zu einem unbequemen Partner der westlichen Gemeinschaft“. Der Generaldirektor des Internationalen Roten Kreuzes soll damals das Flüchtlingsproblem als „gefährlicher als die Atombombe“ bezeichnet haben. Solche Vergleiche sind immer etwas schwierig, aber wer sich heute gelegentlich mit der explosiven Situation in palästinensischen Flüchtlingslagern beschäftigt, wo über Jahrzehnte der Zustand aufrecht erhalten geblieben ist, der damals zeitweilig auch in Deutschland bestand, der bekommt mindestens eine Vorstellung von den Problemen, den Herausforderungen und Risiken, mit denen damals dieses Land und insbesondere die Vertriebenen und Flüchtlinge konfrontiert gewesen sind.

Es war eine Zeit gründlicher existentieller Veränderungen der Lebensverhältnisse für Millionen Menschen. Zwei Drittel der vor dem Krieg im Osten beschäftigten Flüchtlinge und Vertriebenen hatten zwischen 1945 und 1950 in Westdeutschland ihren Erwerbszweig zu wechseln. Bei den Agrarbeschäftigten waren es sogar 87 Prozent. Das, meine Damen und Herren, war die politische, die soziale und die wirtschaftliche Situation, in der das erste Bundestreffen der Heimatvertriebenen im August 1950 auf dem Stuttgarter Schlossplatz stattgefunden hat. In der Stuttgarter Zeitung war damals zu lesen: „Das sind Menschen, denen man ihr schweres Los nicht nur an der dürftigen und verschlossenen Kleidung ansieht. Ihr Schicksal, die grauenhaften Erlebnisse ihrer Flucht vor fünf Jahren, haben sich in die Gesichter eingezeichnet. Das sind ernste, resignierende Gesichter, die keinen Zweifel darüber lassen, dass diese Demonstration nichts mit einem fröhlichen Heimattreffen zu tun hat.“

Für Fröhlichkeit bestand damals auch wenig Anlass. Umso eindrucksvoller ist der „heilige Ernst“, den diese Charta im Wortlaut und im Geist zum Ausdruck bringt. Manche der Forderungen, die aus der Situation heraus in dieser Charta formuliert worden sind, wurden durch das Lastenausgleichsgesetz 1952, durch das Bundesvertriebenengesetz 1953, durch eine Fülle mehr und weniger auffälliger politischer, rechtlicher, sozialer, gesellschaftlicher Initiativen erfüllt: gleiche Rechte als Staatsbürger, eine gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten, der sinnvolle Einbau aller Berufsgruppen der Heimatvertriebenen in das Leben dieses Landes, des deutschen Volkes und schon gar ihre Beteiligung am Wiederaufbau Europas. Und manche, die sich in diesen Tagen verständlicherweise von diesem Dokument aus dem August 1950 eine umfassende Beschreibung der historischen Abläufe bis zu diesem Treffen erwarten, sollten sich vielleicht gelegentlich in Erinnerung rufen oder rufen lassen, dass dieser Text keine Analyse von Historikern war und auch keine parlamentarische Resolution, sondern eine Stellungnahme von Betroffenen.

Ich stimme dem Publizisten Ernst Friedlaender ausdrücklich zu, der in seiner Beurteilung der Bedeutung dieses Textes geschrieben hat: „Hier sprechen nicht radikale Interessenten, sondern leidende Menschen, denen ihr Leid, über alle Bitterkeit hinweg, Reife geschenkt hat, die Reife der Einsicht und des Wollens.“ Und deswegen, verehrte Frau Frank, möchte ich Ihnen stellvertretend für all diejenigen, die damals unter den nur grob geschilderten, fast unglaublichen Bedingungen diesen unglaublichen Text formuliert haben, meinen persönlichen Respekt und auch den vieler Kollegen der Vertretungskörperschaften dieses deutschen Volkes heute übermitteln.

Meine Damen und Herren, ich will nicht unterschlagen, dass nicht alle späteren öffentlichen Erklärungen von Spitzenvertretern von Vertriebenenorganisationen in Form und Inhalt den Geist dieser Charta geatmet und vermittelt haben. Aber wahr ist auch, dass die übergroße Mehrheit der in den Vertriebenenorganisationen Organisierten keineswegs rechtsextremistisch oder revisionistisch orientiert war und dass die ganz überwiegende Mehrheit sich in erstaunlich kurzer Zeit in das Spektrum der demokratischen Parteien dieser neuen Republik eingebunden hat.

Im Blick auf 65 Jahre deutscher Nachkriegsgeschichte ist heute deutlicher, was viele Zeitgenossen damals nicht wahrhaben wollten oder nicht wahrhaben konnten. Christian Graf von Krockow hat in seinem lesenswerten Buch „Heimat - eine Einführung in das Thema“ geschrieben: „Im Rückblick möchte man fast meinen, dass die Heimatvertriebenen sich als exemplarisch, um nicht zu sagen als eine Vorhut für die Gesamtbevölkerung erwiesen haben. In einem weiteren und tieferen Sinne waren nach 1945 alle Deutschen Entwurzelte, auf der Flucht vor dem, was gestern noch galt und was sie begeistert hatte. Und sie waren die Deklassierten, die moralisch Geächteten der Siegermächte und der Völker ringsum. Die Konzentration auf Arbeit und Leistung, die Umwendung von der Vergangenheit zur Zukunft brachte darum nicht nur den Aufstieg zum Wohlstand, sondern auch - und vielleicht noch wichtiger - die Entlastung von drängenden Fragen, die Möglichkeit, sich ein neues Selbstwertgefühl zu verschaffen.“

Heute, meine Damen und Herren, ist das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland 50 mal so hoch wie damals. Damals hatte, um Größenordnungen halbwegs vergleichbar zu machen, die Bundesrepublik Deutschland ein Sozialprodukt, das etwa dem heutigen von Burma entspricht. Und durch eine ganz außerordentliche, historisch kaum mit Parallelen versehene, gemeinsame Aufbauleistung ist heute das Sozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung 30 mal so hoch wie das 1950 der Fall gewesen ist. Eine erstaunliche Erfolgsgeschichte, an der die Vertriebenen und Flüchtlinge einen großen Anteil haben.

Meine Damen und Herren, 60 Jahre nach Verabschiedung der Charta stehen wir in Deutschland vor neuen Integrationsaufgaben ähnlichen Umfangs und nicht geringerer Bedeutung, ähnlichen Herausforderungen mit beachtlichen Risiken, aber wieder einmal mit noch größeren Chancen.

Die Zahl der in Deutschland lebenden Migranten hat im Jahr 2009 erstmals die Grenze von 16 Millionen überschritten. Das sind fast 20 Prozent unserer Bevölkerung. Wenn wir heute von 16 Millionen Migranten reden, dann reden wir erstaunlicherweise über eine sehr ähnliche Größenordnung, wie über die erzwungenen Migranten der Zeit zwischen 1945 und 1950. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund steigt insbesondere unter den jüngeren kontinuierlich. Mehr als ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren stammt aus Einwandererfamilien. In Großstädten sind es noch deutlich mehr, in Frankfurt kommen mehr als 65 Prozent der unter Sechsjährigen aus einer Zuwandererfamilie.

Das ist eine beachtliche Herausforderung. Aber wenn, wie der Innenminister zurecht angemahnt hat, ein Tag wie heute nicht nur dem Dank und Respekt für eine in der Vergangenheit erbrachte Leistung dienen soll, sondern auch der Ermutigung für die Bewältigung von neuen Herausforderungen in der Zukunft, dann ist es mindestens angemessen, auf diese neue, andere, aber nicht weniger gewichtige Herausforderung aufmerksam zu machen.

Dass im übrigen ein immer größerer Teil unserer Gesellschaft und mit Blick auf die nachwachsende Generation ein noch höherer Teil unserer Gesellschaft aus Einwandererfamilien stammt, hat sich jedenfalls für die Deutsche Fußballnationalmannschaft zuletzt bei der Weltmeisterschaft nicht als unüberwindliches Handicap herausgestellt. Und ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass die sich daraus herleitenden Einsichten auch jenseits von Fußballplätzen ihre Wirkung entfalten können, wenn wir mit dieser Herausforderung so intelligent umgehen, wie das damals unter ganz anderen Voraussetzungen ganz offenkundig in einer bemerkenswerten Weise gelungen ist. Genau daran müssen wir arbeiten: Dass aus den Nachkommen von Türken, von Griechen, von Spaniern und Portugiesen genauso selbstbewusste Schwaben und Sachsen, Mecklenburger, Bayern und „Ruhris“ werden, wie die polnischen Zuwanderer und die Heimatvertriebenen aus Mittel- und Osteuropa auch.

Auch wenn das keineswegs schon allgemeiner gesellschaftlicher Konsens ist: unser Problem in Deutschland ist nicht zu viel Einwanderung, sondern zu wenig Einbürgerung. Es gelingt uns nicht in hinreichendem Maß, das eine in das andere zu übersetzen. Dass im übrigen nichts die Integration mehr fördert, als das Gefühl, willkommen zu sein, ist eine Erfahrung, die damals Vertriebene und Flüchtlinge gemacht haben und die ohne jeden Zweifel für die neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in ganz genau der gleichen Weise gilt.

Meine Damen und Herren, Flucht und Vertreibung sind eine scheinbar unendliche Geschichte. Sie handelt nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von der Gegenwart. Sie hat weder im 20. Jahrhundert begonnen, noch ist sie bedauerlicherweise im 20. Jahrhundert zu Ende gegangen. Im Jahr 2009 hat nach den Zahlen der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen die Zahl der Flüchtlinge weltweit die Größe von 43 Millionen Menschen erreicht. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Flüchtlinge im eigenen Land.

Wer eine schreckliche Vergangenheit nicht in die Zukunft verlängern will, muss die Lektionen der Geschichte lernen, soweit sich überhaupt über Generationen hinweg Erfahrungen vermitteln und Einsichten in Veränderungen umsetzen lassen. Eine ganz besondere Schwierigkeit besteht in der Diskrepanz zwischen den großen historischen Ereignissen und den scheinbar kleinen persönlichen Schicksalen, deren Summe aber überhaupt erst die großen Veränderungen ausmachen. Die Geschichte der Vertreibung in Europa ist dafür ein besonders gutes und zugleich sensibles Beispiel. Die historischen Kausalitäten, der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung liegen bei den großen Vertreibungen, die es in der europäischen Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts gegeben hat, regelmäßig klar zu Tage. Eine hinreichende Erklärung für das persönliche Vertreibungsschicksal ergibt sich daraus fast nie. Das macht den Umgang mit dem Thema so schwierig, persönlich wie politisch, das Risiko von Missverständnissen und Verletzungen so hoch, und es darf dennoch nicht zu dem bequemen Ausweg verleiten, Einzelschicksale verdrängen zu wollen und für die großen Zusammenhänge und für das veränderte Verhältnis von Nachbarländern zueinander - wie es so schön heißt - Irritationen zu vermeiden. Der Preis der Verdrängung ist Distanz. Nicht die kühle Distanz des Historikers, der emotionslos Fakten und Ereignisse sortiert, sondern die emotionale Distanz von Betroffenen zu den Institutionen und Repräsentanten des eigenen wie des dauerhaft fremden Landes, das auf diese Weise nie zum gefühlten guten Nachbarn werden kann. Deshalb, meine Damen und Herren, ist Erinnerungskultur ebenso wichtig wie schwierig. Und deshalb ist sie auch eine staatliche Aufgabe.

Menschen, die persönlich schuldlos Opfer politischer Verwicklungen, staatlich veranlasster Verirrungen oder Verbrechen geworden sind, haben einen Anspruch darauf, in ihrem Schmerz, mit ihrem Schicksal nicht allein gelassen zu werden. Auch deshalb sind überall in Deutschland zahlreiche Heimatmuseen und mehr als tausend Denkmäler entstanden, die an alte deutsche Städte und Stätten erinnern, der Opfer von Flucht und Vertreibung gedenken, und dies ist selbstverständlich die eigentliche, große Aufgabe der Stiftung Flucht, Vertreibung und Versöhnung, wie der Innenminister zu Recht gerade noch einmal hervorgehoben hat.

Wir reden hier über eine gemeinsame öffentliche Aufgabe, die durch gesellschaftliche Initiativen zu ergänzen, aber nicht zu ersetzen ist. Wer - wie ich - als Vertreter der Nachkriegsgeneration auch nur einen Hauch von Vorstellungskraft über Ereignisse besitzt, die er selber nicht erleben musste, wird sich keine Illusion über die Größe der Anstrengungen machen, die notwendig sind, um diesen Ansprüchen zu genügen. Aber ich fühle mich außerordentlich ermutigt, gerade durch die Fülle der Kontakte der letzten Jahre mit Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten wie den Regierungen unserer Nachbarländer. Und dies gilt in einer ganz besonderen Weise gerade für die Nachbarländer, mit denen uns das Flüchtlings- und Vertreibungsschicksal, an das wir heute erinnern, historisch in einer ganz besonderen Weise dauerhaft in Verbindung gebracht hat.

Ich bin im November 2007 - mit Erika Steinbach in meiner Begleitung - in das ungarische Parlament eingeladen gewesen und habe dort bei einer Veranstaltung gesprochen, in der sich die damalige ungarische Parlamentspräsidentin im Namen ihrer Volksvertretung für die Vertreibung von Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg aus Ungarn entschuldigt hat. Sie werden mir sofort glauben: Dies ist eine der eindrucksvollsten Erfahrungen meiner ganzen politischen Biografie gewesen. Ich habe diese Veranstaltung damals als ein großartiges Zeichen der Aussöhnung verstanden und ein bisschen wie eine späte Antwort auf die Charta der Heimatvertriebenen von 1950, die aus vielen Gründen, die heute hier nicht zu untersuchen sind, in anderen europäischen Ländern nach wie vor schwer vorstellbar erscheint. Allein der Umstand, dass diese Veranstaltung stattgefunden hat und nicht irgendwo stattgefunden hat, sondern in einem frei gewählten Parlament eines Landes, das heute scheinbar selbstverständlich zur Europäischen Union gehört, zeigt, welche Wirkung der Geist entfaltet hat, der auch und nicht zuletzt in der Charta der Heimatvertriebenen zum Ausdruck gebracht ist: Der Aufbau eines neuen Europa, das durch den Geist der Verständigung und der Versöhnung geprägt ist.

Meine Damen und Herren, jede Kultur beruht auf Erinnerung. Sie beginnt mit Erinnerung. Sie will freilich darüber hinaus, aber ohne Erinnerung hätte sie nicht einmal begonnen. Für uns Europäer gilt, schon gar im Kontext einer noch immer im Wachstum befindlichen Gemeinschaft, nach Überwindung der politischen Teilung dieses Kontinents, die nie, zu keinem Zeitpunkt, eine kulturelle Trennung war, dass wir uns im Interesse der gemeinsamen Zukunft auch um ein gemeinsames Verständnis der Vergangenheit bemühen müssen. Das ist schwierig, aber möglich und nötig ist es ganz gewiss.

Die Charta der Heimatvertriebenen ist nicht nur ein wichtiges Dokument der Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, der zweiten deutschen Demokratie, sie ist auch ein bleibendes Vermächtnis für die Zukunft des wiedervereinigten Deutschland in einem zusammenwachsenden Europa.

Parlament

Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, auf der 3. Weltkonferenz der Parlamentspräsidenten „Parlamente in einer Welt der Krisen: Sicherstellung einer globalen demokratischen Rechenschaftspflicht gegenüber dem Gemeinwohl“ in Genf vom 20. Juli 2010

In seiner Eröffnungsansprache hat IPU-Präsident Dr. Theo-Ben Gurirab „die vitale Rolle der Parlamente“ in einer Welt der Krisen unterstrichen und hinzugefügt: „Es gibt keine Demokratie ohne starke Parlamente“.

Das ist sicherlich wahr; es spiegelt die historischen Erfahrungen wider, die viele Länder gemacht haben.

Ich vertrete ein Land, welches ganz sicher nicht als Erfinder der Demokratie oder von parlamentarischen Institutionen gilt. Im Gegenteil, Deutschlands Weg zu mehr Demokratie war mehr als schwierig. Der erste Versuch war schon nach wenigen Jahren gescheitert. Demokratische Strukturen wurden durch ein totalitäres Regime ersetzt, das Parlament marginalisiert und mehr und mehr bedeutungslos. Zum Schluss - nach dem Demokratie und Menschenrechte beseitigt waren - verursachte die Diktatur einen Weltkrieg.

Als Ergebnis war Deutschland geteilt und zugleich Europa.

Die Teilung dauerte mehr als 40 Jahre und wurde erst vor 20 Jahren überwunden, dank einer breiten zivilgesellschaftlichen Demokratiebewegung in ganz Osteuropa. Der Ruf nach Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie wurde zwar über Jahrzehnte unterdrückt, trotzdem setzte er sich am Ende durch. Das zeigt, wie stark Demokratie ist - aber auch wie zerbrechlich.

„Demokratie muss immer wieder neu bekräftigt werden“, um Präsident Gurirab erneut zu zitieren. Diese Bekräftigung ist umso nötiger, je mehr die Demokratie in einer Welt der Krisen in Gefahr gerät.

Wir sind alle Mitglieder von Parlamenten oder parlamentarischen Gremien, aber wir arbeiten unter erheblich unterschiedlichen Bedingungen:

  • Es gibt Länder mit freien Wahlen und solche ohne freie Wahlen,
  • Länder mit einem fairen Wettbewerb zwischen Parteien und Kandidaten und Länder,
  • in denen das nicht der Fall ist,
  • Länder, in denen sich jeder um ein parlamentarisches oder öffentliches Amt bewerben
  • kann und Länder, in denen das nicht möglich ist,
  • Länder mit und ohne unabhängige Justiz,
  • Länder, die die Freiheit der Presse garantieren, andere mit ständiger Zensur der Medien,
  • es gibt viele Länder, in denen die Parlamente die Regierung kontrollieren, aber auch
  • eine Reihe anderer, in denen die Regierung das Parlament kontrolliert.

Die Bekräftigung der demokratischen Prinzipien beginnt damit, die Realität zu benennen und sie - wo immer nötig - zu verändern.

In dieser Hinsicht ist die IPU eine nützliche und wichtige Organisation, die es Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Traditionen und unterschiedlichen Entwicklungen ermöglicht, Erfahrungen auszutauschen. Dies umfasst, um Präsident Gurirab erneut zu zitieren „enge Beziehungen zwischen der VN und der IPU“.

Gleichwohl teile ich die Vorbehalte gegen die Institutionalisierung dieser Beziehung, die unser Kollege, Präsident Westerberg, in seiner Rede zum Ausdruck gebracht hat. Die IPU ist weder ein Weltparlament noch eine Unterorganisation der VN und soll dies auch nicht werden! Ebenso wenig ist und sollte die IPU Mediator zwischen den VN und den nationalen Parlamenten sein.

Aus einem Bericht der IPU, der dieser Konferenz vorgelegt wurde, ergibt sich, dass es keinen Mangel an Kooperation zwischen der IPU und den VN gibt und sonst auch keinen Bedarf für deren Institutionalisierung.

Aus diesem Grund haben die Parlamentspräsidenten der EU-Mitgliedstaaten, die an dieser Konferenz teilnehmen, vorgeschlagen, den Abschnitt D des Entwurfs der Abschlusserklärung der Konferenz durch folgenden Satz zu ersetzen:

We, the Speakers of Parliament, take note of and welcome the discussion which has been started within the IPU in order to strengthen its functions, promote its efficiency and develop its cooperation with the Unites Nations and its institutions.

Wir sind alle an einer ernsthaften Erörterung interessiert, aber wir können und sollten keine Schlüsse ziehen, bevor eine solche Debatte überhaupt begonnen hat.

Auch im Namen meiner europäischen Kollegen bitte ich Sie um Unterstützung für diesen Vorschlag, der es uns erlauben würde, die Erklärung im Konsens anzunehmen.

Parlament

Einleitende Worte von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zur Vereidigung des Bundespräsidenten am 2. Juli 2010

Es gilt das gesprochene Wort.

Ich eröffne die gemeinsame Sitzung des Bundestages und des Bundesrates nach Artikel 56 des Grundgesetzes.

Auch im Namen des Präsidenten des Bundesrates begrüße ich alle Gäste aus dem In- und Ausland, die Besucher auf den Tribünen und die Zuschauer an den Fernsehgeräten. Ich heiße sie alle sehr herzlich willkommen.

Besonders herzlich begrüße ich Herrn Bundespräsidenten Christian Wulff und seine Ehefrau Bettina Wulff und seinen Vorgänger im Amt, Herrn Bundespräsidenten Professor Dr. Horst Köhler und seine Ehefrau Luise Köhler sowie auf der Ehrentribüne Bundespräsidenten Professor Herzog und seine Gattin. Ich begrüße die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Merkel, und den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Herrn Professor Dr. Andreas Voßkuhle.

Die Vereidigung des Bundespräsidenten ist die erste und zugleich bestmögliche Gelegenheit, die guten Wünsche für das neue Staatsoberhaupt mit dem Dank an den Vorgänger zu verbinden.

Sie, Herr Professor Köhler, haben das höchste Amt unseres Staates sechs Jahre ausgeübt und wie Ihre Vorgänger mit Ihrer Persönlichkeit, Ihrer Lebenserfahrung und Ihren besonderen Anliegen und Ansprüchen geprägt.

Mit großem Engagement hat sich Bundespräsident Professor Köhler in seiner Amtszeit wichtiger Themen angenommen, die gelegentlich zu sehr außerhalb des Fokus unserer Aufmerksamkeit liegen: dem inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft, der Bedeutung der Zivilgesellschaft und vor allem dem Thema Gerechtigkeit in einer globalen Welt.

„Für mich entscheidet sich die Menschlichkeit unserer Welt am Schicksal Afrikas“, war einer der zentralen Sätze Ihrer Antrittsrede Es ist Ihr unzweifelhaftes Verdienst, dass unser Bild von Afrika heute mehr ist als das eines fortwährenden Krisengebietes, exotischen Urlaubsziels und - aktuell - des Austragungsortes einer Fußballweltmeisterschaft.

Leidenschaftlich haben Sie sich dafür eingesetzt, dass dieser Kontinent politisch und als Handelspartner ernst genommen wird. Für Sie geht es eben nicht um Partnerschaft für, sondern „Partnerschaft mit Afrika“, wie die von Ihnen begründete Initiative heißt.

Als ehemaligem Direktor des Internationalen Währungsfonds sind Ihnen die Probleme der Entwicklungsländer nur zu gut bekannt gewesen - und auch deren Entstehen, die häufig in der Ersten Welt zu suchen sind. Diese Doppelstandards haben Sie oft benannt, genauso wie Sie in Afrika wiederum Transparenz und die Überwindung von Korruption und Misswirtschaft eingefordert haben - „offen und unbequem“, wie Sie es angekündigt hatten.

Unbequemlichkeit ist freilich nur als Absichtserklärung populär, sobald die Ankündigung umgesetzt wird, hält sich die Begeisterung der Angesprochenen regelmäßig in engen Grenzen.

Horst Köhler sah sehr viel eher als andere kommen, welche Krise sich an den Weltfinanzmärkten zusammenbraute, und er hat mit deutlichen Worten davor gewarnt. Manche Beobachter hat er damit wie mit anderen Äußerungen überrascht, ja sogar irritiert. Es hat einige Zeit gedauert, bis sie nicht mehr allein den kühl kalkulierenden Ökonomen im Schloss Bellevue erkannten.

Viele Bürger haben das früher wahrgenommen als manche „Profis“. Viele seiner Gesprächspartner aus dem In- und Ausland haben sein ernsthaftes und ehrliches Interesse erfahren, ebenso wie die ungezählten Bürgerinnen und Bürger, denen er auf seinen Besuchen in den Regionen begegnet ist.

Sie alle konnten dabei immer wieder seine Neugier, seine Aufgeschlossenheit und seine persönliche Zuwendung spüren.

Den Menschen unverstellt zugewandt, immer offen für Anregungen. Er hat die Menschen, ihre Sorgen und Nöte ernst genommen, und sie danken es ihm mit anhaltender Zuneigung. Solch ungekünstelte Empathie und Zuwendung strengen an, und gelegentlich konnte man Horst Köhler ansehen, wie viel Kraft ihn das Amt kostete, das eben nicht bequem ist - auch nicht für den Amtsinhaber. Und schon gar nicht für seine Ehefrau, die an der Wahrnehmung der Aufgaben des Bundespräsidenten eine in der Regel unauffälligen, aber wichtigen Anteil hat. Ihnen, verehrte Frau Köhler, möchte ich im Namen des Bundestages ganz herzlich für Ihr soziales Engagement und Ihren persönlichen Beitrag zum Wohle und Ansehen unseres Landes danken.

Bundespräsident Horst Köhler hat es sich nicht leicht gemacht und der sogenannten politischen Klasse manchmal auch nicht. Das hat viel mit der ihm eigenen Beharrlichkeit zu tun. Oft waren es Details, aus denen das große Bild entstand, und es waren bisweilen einfache Gesten, die Wirkung hatten. Seine Rede in der Knesset, die er auf Hebräisch begann; eine Berliner Hauptschule als Ort seiner ersten „Berliner Rede“ zum Thema Bildung; die besondere Hinwendung zum Behinderten-Sport, seine Worte bei der Trauerfeier für die Opfer des Amoklaufs in Winnenden.

„Zu ermutigen und zu warnen, das ist die entscheidende Aufgabe des Bundespräsidenten“, hat der erste Amtsinhaber Theodor Heuss einmal gesagt. Und genau so hat auch Horst Köhler sein Amt verstanden. Er hat es ganz sicher nicht leichten Herzens aufgegeben, sondern weil er unter den gegebenen Umständen keine Möglichkeit mehr sah, es so auszuüben, wie es seinen eigenen Ansprüchen entsprach.

Immer wieder ist geschrieben worden von dem „Glück“, das unser Land mit seinen Bundespräsidenten gehabt habe. Tatsächlich hatten wir hervorragende Bundespräsidenten: Persönlichkeiten, die auf ihre ganz persönliche Weise das Amt ausgefüllt und geprägt haben.

Horst Köhler hat sich um unser Land verdient gemacht. Wir danken ihm und seiner Frau für ihr Engagement und für alles, was sie beide getan haben für unser Land und „alle Menschen, die hier leben“.

Herr Bundespräsident Professor Dr. Köhler, im Namen der hier versammelten Vertreter des Deutschen Volkes danke ich Ihnen für die Arbeit, die Sie für unser Land geleistet haben.

Das Wort hat nun der Präsident des Bundesrates, Jens Böhrnsen, der in den letzten Wochen die Befugnisse des Bundespräsidenten ebenso diskret wie überzeugend wahrgenommen hat: ruhig, sachlich und unaufgeregt, wie die Bremer so sind.

Das verdient unseren Dank und unseren Respekt.

Parlament

Eröffnungsrede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert anlässlich der 14. Bundesversammlung am 30. Juni 2010

Sehr geehrte Mitglieder der Bundesversammlung!
Exzellenzen!
Verehrte Gäste!

Ich eröffne die 14. Bundesversammlung zur Wahl des zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland und heiße Sie alle im Reichstagsgebäude in Berlin herzlich willkommen.

Mein besonderer Gruß gilt den Vertretern der Verfassungsorgane, den Mitgliedern der Bundesregierung, des Bundesrates und des Bundestages, den von den Landtagen gewählten Wahlmännern und Wahlfrauen und den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts. Stellvertretend für sie alle nenne ich namentlich den Präsidenten des Bundesrates, Jens Böhrnsen, dem ich für die überzeugende Wahrnehmung der Befugnisse des Bundespräsidenten in den vergangenen Wochen unseren Dank und Respekt aussprechen möchte.

(Beifall)

Besonders gerne begrüße ich den Bundespräsidenten Roman Herzog und seine Gattin sowie die langjährige Präsidentin des Bundestages, Rita Süssmuth, die auf der Ehrentribüne Platz genommen haben.

(Beifall)

Ich freue mich, dass die heutige Wahl im Inland wie im Ausland so großes Interesse findet, und heiße die zahlreichen Botschafter und Repräsentanten vieler befreundeter Länder herzlich willkommen.

(Beifall)

Schließlich begrüße ich alle, die diese Bundesversammlung im Rundfunk, im Fernsehen oder im Internetangebot des Deutschen Bundestages verfolgen.

Meine Damen und Herren, seit der letzten Bundesversammlung ist gerade ein gutes Jahr vergangen; sie traf sich hier am 23. Mai 2009, auf den Tag genau 60 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes, der besten Verfassung, die wir Deutschen je hatten. Deshalb war die 13. Bundesversammlung in gewisser Weise auch eine Feierstunde der Demokratie und des Parlamentarismus. Auch im 61. Jahr, gerade in den vergangenen Wochen und Monaten, haben sich unsere Demokratie und das parlamentarische System auch bei unvorhersehbaren Herausforderungen als handlungsfähig erwiesen. Es ist eine gute und wichtige Erfahrung, dass die Verfassungsorgane zu gemeinsamer Verantwortung bereit und in der Lage sind.

Auch der Rücktritt des Bundespräsidenten hat zwar manche Enttäuschung und einige Turbulenzen ausgelöst - alles andere als ein normaler Vorgang, aber keine Staatskrise. Diese Bundesversammlung findet statt, weil der Bundespräsident sein Amt niedergelegt hat, mit sofortiger Wirkung - ein in der Geschichte der Bundesrepublik, ja in der Demokratiegeschichte unseres Landes einmaliger Vorgang. Diese Entscheidung und ihre Gründe haben wir zu respektieren, auch wenn viele von uns sie noch immer nicht wirklich verstehen können. Die vom Bundespräsidenten Professor Köhler für unser Land geleistete Arbeit will ich in seiner Anwesenheit am Freitag anlässlich der Vereidigung seines Nachfolgers oder seiner Nachfolgerin würdigen.

Meine Damen und Herren, auch für Ausnahmesituationen gibt es eine Vorkehrung in unserer Verfassung, hier mit der Festlegung des Grundgesetzes, die Bundesversammlung innerhalb von 30 Tagen einzuberufen. Der eine oder andere mag - wie ich -wegen der kurzen Fristen zunächst erschrocken gewesen sein; dennoch können wir den Architekten des Grundgesetzes dankbar sein für diese Regelung, die uns eine monatelange Diskussion um Wahltermin und Kandidaten erspart.

Der überraschende Amtsverzicht hat in der Öffentlichkeit manche Fragen aufgeworfen, die nach Antworten suchen. Er hat zugleich - jedenfalls nach meiner Wahrnehmung - eine Nachdenklichkeit erzeugt, die allen direkt und indirekt Beteiligten Anlass auch zur selbstkritischen Befassung mit ihrer eigenen Rolle und zum Umgang mit öffentlichen Ämtern gibt. Dies gilt für Amtsinhaber wie Bewerber, für politische Parteien wie für die Medien.

Das Amt des Bundespräsidenten halten manche Kommentatoren für einen „besonderen Glücksfall“ unserer Verfassung, andere bezeichnen es als „das vielleicht schwierigste Amt, das in der Bundesrepublik zu vergeben ist“. Beides ist wohl richtig. Die Erwartungen an den Bundespräsidenten hat die Präsidentin der 9. Bundesversammlung, Rita Süssmuth, am 23. Mai 1989 folgendermaßen beschrieben: Der Bundespräsident habe die Aufgabe - Zitat -,

… durch sein Wort und kraft seiner Persönlichkeit zu verdeutlichen, daß neben den geteilten Gewalten und unabhängig von den widerstreitenden Kräften in Regierung und Opposition in der Demokratie eine Basis der Gemeinsamkeit besteht, die alle verbindet. Deshalb kann und soll der Präsident klärend, versöhnend und friedensstiftend wirken. Er kann so Mittler im System der Gewaltenteilung sein.

„Mittler im System“. Der Bundespräsident ist Teil des Verfassungsgefüges. Auch die Bundesversammlung ist ein Teil unseres politischen Systems.

Gewählt wird das Staatsoberhaupt nach Art. 54 des Grundgesetzes von einer Versammlung, die nur zu diesem Zweck zusammentritt und die durch ihre verfassungsmäßige Zusammensetzung die politischen Kräfteverhältnisse im Bund wie in den Ländern so aktuell und verlässlich wie möglich wiedergibt. Das war übrigens auch bei den 13 bisherigen Bundesversammlungen nicht anders, ebenso wie das freie Mandat für die Mitglieder des Bundestages wie für die durch die Landtage gewählten Wahlmänner und Wahlfrauen, die an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind. Jede Bundesversammlung ist neu zusammengesetzt; für jede Bundesversammlung gelten die gleichen Prinzipien und Regeln.

Meine Damen und Herren, in einigen westlichen Demokratien - Demokratien - ist die staatliche Spitze durch eine erbliche Monarchie besetzt, mit dem durchaus beachtlichen Argument mancher Staatsrechtler, es sei klug, auch und gerade in einer Demokratie das Amt des Staatsoberhauptes dem Ehrgeiz der Parteien und gesellschaftlichen Gruppen zu entziehen und nicht der sonst unverzichtbaren Mehrheitsregel zu unterwerfen.

(Vereinzelt Beifall - Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr gut! - Gegenruf von Sigmar Gabriel (SPD): Claudia, jetzt hast du dich geoutet! Jetzt wirst du Prinzessin! Wir haben es immer geahnt!)

- Ich bin nicht sicher, ob die Stenografen jetzt alle begeisterten Anhänger einer Erbmonarchie namentlich erfasst haben.

(Heiterkeit und Beifall)

Bei Ihnen, Frau Löhrmann, ist es mir jedenfalls aufgefallen, was mit Blick auf die Bildung einer neuen Staatsspitze in Nordrhein-Westfalen zu den schönsten Spekulationen Anlass gibt.

(Heiterkeit und Beifall)

Meine Damen und Herren, das Grundgesetz hat sich für ein Wahlamt entschieden: Der Bundespräsident wird für fünf Jahre gewählt. Das Amt des Staatsoberhauptes unterliegt damit genau denselben Regeln demokratischer Legitimation wie jedes andere öffentliche Amt. Für alle demokratischen Wahlämter gilt: Die Person prägt das Amt, aber sie geht nicht in ihm auf, so wenig wie das Amt sich durch den jeweiligen Amtsinhaber definiert. Mit diesem keineswegs banalen Spannungsverhältnis müssen der Amtsinhaber wie die Öffentlichkeit leben - beide tun sich damit nicht immer leicht.

Die Übernahme eines Amtes macht aus der Person keinen Würdenträger, aber mit der Annahme der Wahl eben mehr als eine Privatperson. Das hat Folgen für die Wahrnehmung der übertragenen Aufgaben und Funktionen. Niemand muss öffentliche Ämter übernehmen. Wer kandidiert und gewählt wird, übernimmt allerdings eine Verantwortung, die er mit aller Kraft, nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen hat. Niemand von uns steht unter Denkmalschutz,

(Vereinzelt Heiterkeit)

weder die Parlamente noch die Regierungen, nicht einmal das Staatsoberhaupt. Kritik muss sein,

(Vereinzelt Beifall)

aber den Anspruch auf „Wahrhaftigkeit und Respekt“ hat Bundespräsident Köhler mit vollem Recht nicht nur für sich, sondern für die politische Kultur unseres Landes im Ganzen reklamiert.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, verehrte Mitglieder der Bundesversammlung, wir alle, die wir uns heute versammelt haben, gehören verschiedenen Parteien oder gar keinen an, haben unterschiedliche Auffassungen zu wichtigen Themen, unterstützen verschiedene Kandidaten für öffentliche Ämter. Aber wir teilen die gemeinsame Verantwortung für unser Land, die sich mit der Wahl eines Bundespräsidenten nicht erledigt, schon gar nicht in schwierigen Zeiten, die wir jetzt haben, mit vielen Unsicherheiten und Ängsten, die keineswegs nur eingebildet sind.

Am 30. Juni 1990, heute auf den Tag genau vor 20 Jahren - es war der Vorabend der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion -, sagte der damalige DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière in einer Fernsehansprache:

Der Blick zurück ist ein Blick im Zorn. Der Blick nach vorn ist ein Blick mit Zuversicht und Hoffnung.

Mit Ablauf dieses Tages, heute vor 20 Jahren, wurden die Grenzüberwachung und die Grenzkontrollen an der innerdeutschen Grenze eingestellt. Der Freiheitswille der Menschen hatte gesiegt.

(Beifall)

In einer friedlichen Revolution gegen politische Bevormundung und Entmündigung war es der Bürgerrechtsbewegung und am Ende Hunderttausenden mutigen DDR-Bürgern gelungen, eine Diktatur zu stürzen.

(Beifall)

Wenn wir heute im 20. Jahr der deutschen Einheit den zehnten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland wählen, dann können wir das mit großer Dankbarkeit, aber auch mit berechtigtem Stolz auf die Verfassung eines glücklichen Landes tun, das zu einer gefestigten Demokratie in Einheit und Freiheit geworden ist.

(Beifall)

Dies, meine Damen und Herren, ist ein hinreichender Grund für einen aufgeklärten, fröhlichen Patriotismus, nicht nur in Zeiten von Fußballweltmeisterschaften, sondern ganzjährig und schon gar an einem Tag wie heute, an dem wir ein neues Staatsoberhaupt wählen.

(Beifall)

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit, die ich nun auch für die Hinweise zum Verfahren der Wahl erbitte.

Parlament

Gedenkstunde des Deutschen Bundestages anlässlich des 57. Jahrestages des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrte Gäste!
Sehr geehrte Frau Schwan!

Der 17. Juni ist nicht irgendein Tag im Jahreskalender, sondern ein herausragendes Datum der deutschen Freiheits- und Einheitsgeschichte. Heute, auf den Tag genau vor 200 Jahren, am 17. Juni 1810, wurde Ferdinand Freiligrath geboren, neben Heinrich Heine und Georg Herwegh der wohl populärste deutschsprachige Lyriker zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Freiligrath begann seine Karriere als freier Schriftsteller. Auf Empfehlung Alexander von Humboldts erhielt er 1842 ein Stipendium vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. Nachdem er begann, politische Gedichte zu schreiben, verzichtete er schon nach zwei Jahren auf den königlichen Ehrensold und auf eine mögliche Anstellung am Hof von Weimar, verließ wegen der Gefahr polizeilicher Verfolgung Deutschland und siedelte 1845 nach Brüssel über, wo er Karl Marx begegnete. Aus der sicheren Schweiz heraus begrüßte er die 1848er‑Revolution in Deutschland, wollte anders als Herwegh aber keine Freischar bilden. Zitat:

Ich bin nicht zum General geboren, ich will nur ein Trompeter der Revolution sein.

Trotzdem kehrte er nach Deutschland zurück, schrieb Verse wie:

Pulver ist schwarz,
Blut ist roth,
Golden flackert die Flamme.

Er wurde wegen Anstiftung zum Hochverrat verhaftet, aber am 3. Oktober 1848 unter dem Jubel der aufgeregten Menschenmenge in Düsseldorf von den Geschworenen freigesprochen. Freiligrath wurde Mitglied im Bund der Kommunisten und war für kurze Zeit auch Mitherausgeber der Neuen Rheinischen Zeitung von Marx und Engels.

Nach der gescheiterten Revolution verebbte Freiligraths Begeisterung für Klassenkampf und Proletariat. Er siedelte nach London über, wo er ausgerechnet für eine Schweizer Bank arbeitete, die obendrein einige Zeit später zusammenbrach.

(Heiterkeit)

Wieder zurück in Deutschland, schloss er sich der nationalen Begeisterungswelle an und antwortete auf die französische Kriegserklärung 1870 mit einem „Hurrah Germania!“.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, den berühmt-berüchtigten Hurra-Patriotismus haben wir nach den Erfahrungen der jüngeren deutschen Geschichte längst hinter uns gelassen. Heute vor 20 Jahren, am 17. Juni 1990, kamen Abgeordnete des Deutschen Bundestages und der frei gewählten Volkskammer zusammen, um gemeinsam des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der DDR zu gedenken. Damals, fast 40 Jahre nach dem Volksaufstand, begannen sich die Wünsche und Forderungen derer zu erfüllen, die 1953 auf die Straße gegangen waren und deren Hoffnungen damals gewaltsam niedergeschlagen wurden. Es erfüllten sich damit auch die Hoffnungen derer, die 1848 auf die Straße gegangen waren, nämlich Freiheit und Demokratie für ganz Deutschland.

Ausgelöst durch eine Normerhöhung, machte sich die aufgestaute Wut in der Bevölkerung Luft. In einem spontanen und sich rasant ausbreitenden Aufstand erhoben sich ‑ nicht nur, aber vor allem ‑ Arbeiter und Bauern gegen die Partei, die sich selbst Arbeiter- und Bauernpartei nannte. Aus der Sicht des Regimes stand fortan der größte Feind im eigenen Land: das Volk selbst.

Der 17. Juni 1953 ist ein Schlüsselereignis der deutschen und der europäischen Nachkriegsgeschichte. „Deutschland und der Westen sind an diesem Tage zum ersten Mal seit 150 Jahren nicht Gegner gewesen, sondern Verbündete“, kommentierte die BBC acht Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, und auf den Pariser Boulevards lösten die Ereignisse in der DDR spontane Solidaritätsbekundungen aus. Der Volksaufstand gegen die kommunistische Herrschaft in der DDR war damals eine gesamtdeutsche Erfahrung. Für die Erinnerung im geteilten Deutschland des Kalten Krieges galt diese Gemeinsamkeit allerdings nicht mehr. Dort, wo mutige Deutsche ein eindrucksvolles Bekenntnis zum Wunsch nach Freiheit und Einheit abgelegt hatten, verunglimpfte das angegriffene Regime den Volksaufstand als vom Klassenfeind gesteuerten faschistischen Putsch. Und im Westen? Hier verlor sich der symbolisch begangene Tag der deutschen Einheit bis in die 80er-Jahre zunehmend im fröhlichen Familienausflug ins Grüne.

„Der 17. Juni hat unwiderlegbar bewiesen, daß die Einheit Deutschlands eine historische Notwendigkeit ist“, hatte Marion Gräfin Dönhoff nur eine knappe Woche nach diesen Ereignissen in der Zeit geschrieben:

Wir wissen jetzt, daß der Tag kommen wird, an dem Berlin wieder die deutsche Hauptstadt ist. Die ostdeutschen Arbeiter haben uns diesen Glauben wiedergegeben, und Glauben ist der höchste Grad der Gewißheit.

Dass diese vermeintliche Gewissheit Wirklichkeit geworden ist, verdanken wir der Bürgerrechtsbewegung in der DDR, der sich 1989 Hunderttausende anschlossen.

Meine Damen und Herren, der gescheiterte Volksaufstand von 1953 mit der deprimierenden Gewalterfahrung und die geglückte Revolution von 1989/90 sind die zwei Seiten derselben Medaille. Sie zeigen den Mut der Bürger, den unbändigen Willen zur Freiheit und das Bekenntnis zur deutschen Einheit. In der Rückschau erkennen wir, dass die dramatischen Ereignisse von 1953 und der Aufbruch 1989 Teil einer großen Befreiungsbewegung waren. Der 17. Juni steht am Anfang einer ganzen Reihe von Aufständen in Mittel- und Osteuropa gegen Unfreiheit und kommunistische Herrschaft: in Ungarn 1956, in Prag 1968, in Polen 1980. Und ‑ bei allen Einschränkungen historischer Parallelen ‑: Der 17. Juni steht auch für die Wiederaufnahme deutscher Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie, die Menschen wie Ferdinand Freiligrath im Revolutionsjahr 1848 angetrieben hatte.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, der 17. Juni mahnt, an die Opfer zu denken, die der Kampf um die Freiheit gefordert hat, in Deutschland, aber auch anderswo.Unsere Solidarität und Unterstützung gilt den Menschen im Iran, in Thailand, in Ägypten und überall in der Welt, die für ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpfen, für die scheinbare Selbstverständlichkeit, selbst zu bestimmen, von wem sie regiert werden wollen. Nichts wiegt dabei stärker als die Anerkennung durch ein Volk, das den Erzählungen über das Erlebte zuhört und nicht vergisst.

Der Deutsche Bundestag fühlt sich dem Andenken an diejenigen verpflichtet, die in der DDR für Freiheit und Einheit Opfer gebracht haben. Deshalb erinnern wir auch in diesem Jahr an die herausragende Bedeutung des 17. Juni 1953. Wir alle sind gefordert, das Wissen um den Volksaufstand lebendig zu halten. Und wir haben allen Grund dazu; denn es ist auch ein Tag der Ermutigung. Wir können uns an diesem Tag mit Stolz einer Traditionslinie deutscher und europäischer Freiheitsgeschichte vergewissern, die länger als anderthalb Jahrhunderte zurückreicht. Im vergangen Jahr haben wir diese europäischen Bezüge mit der Enthüllung eines Teils der Danziger Werftmauer am Reichstagsgebäude besonders gewürdigt.

Sie, sehr geehrte Frau Professor Schwan, sind Polen und unseren östlichen Nachbarländern in besonderer Weise verbunden und haben sich als Wissenschaftlerin seit langem intensiv mit den Kräften der Zivilgesellschaft im demokratischen Staat beschäftigt. Dies werden Sie gewiss in Ihrem neuen Amt als Präsidentin der Berliner Humboldt-Viadrina School of Governance fortsetzen. Am 9. November 2008 haben Sie in einer Rede auf die besondere Bedeutung von Erinnerung für den Einzelnen wie die Gemeinschaft hingewiesen. Sie haben damals gesagt:

Freiheit ist, dies kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, das größte Menschheitsthema.

Nichts anderes lehrt uns die Erinnerung an den 17. Juni 1953. Ich danke Ihnen, dass Sie in diesem Jahr zu uns sprechen werden.

Herzlichen Dank.

Parlament

Festvortrag zur Verleihung des Max-Weber-Preises des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln zum Thema „Mehr Moral durch mehr Markt oder mehr Staat? Welchen Beitrag kann die Politik leisten?“ am 18. Mai 2010 in Berlin, Brandenburgische Akademie der Wissenschaften

Sehr geehrter Herr Professor Hüther,
sehr geehrter Herr Tesch,
liebe Preisträgerinnen und Preisträger,
meine Damen und Herren,

vor inzwischen mehr als einhundert Jahren hat Max Weber mit der ihm eigenen maßstabsetzenden Prägnanz die inneren Zusammenhänge zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus entdeckt und öffentlich dargestellt. Seitdem hat sich - freundlich formuliert - der Geist des Kapitalismus noch dynamischer entwickelt als die protestantische Ethik. Vom Glanz und Elend der Eigendynamik kapitalgesteuerter Wirtschaftsprozesse hat uns nicht nur das 20. Jahrhundert, sondern auch der Auftakt des 21. Jahrhunderts manche anschaulichen Beispiele geliefert. Zu einer nüchternen Betrachtung gehört, dass es neben erstaunlichen Aufstiegen auch bemerkenswerte Abstürze gegeben hat, und dass Weltwirtschaftskrisen, tatsächliche und Beinahe-Zusammenbrüche von Finanz- und Gütermärkten nicht nur Statistiken ruiniert haben, sondern auch Biographien. Alleine deswegen lohnt es, eine Frage wiederzuentdecken, die in der Tat keineswegs neu ist, aber offensichtlich nicht überholt. Das wird allein mit der Vergabe von Preisen sicher auch nicht gelingen, aber die regelmäßige Ausschreibung und Vergabe von Preisen, die sich genau diesem Zusammenhang widmen, sind sicher ein wichtiger Beitrag dazu, eine Fragestellung ins öffentliche Bewusstsein zu heben und dort zu halten, für die wir heute mindestens soviel Bedarf haben wie für strategische ökonomische Erwägungen und Überlegungen: Gesinnung ist in der Tat keine ökonomische Kategorie, aber allein der Begriff „Wirtschaftsethik“ macht nur Sinn, wenn sich damit die Bereitschaft verbindet, ethisches Verhalten für eine nicht weniger relevante Kategorie zu halten als ökonomisches Kalkül - was zugegebenermaßen die Frage, wie man das eine mit dem anderen überzeugend verbinden kann, noch nicht beantwortet.

Deswegen möchte ich gleich zu Beginn herzlich dem Stifter für seine damalige Initiative danken und den Preisträgerinnen und Preisträgern zu ihrer später folgenden Auszeichnung herzlich gratulieren, verbunden mit der ausdrücklichen Bitte um Verständnis dafür, dass ich dann nicht mehr da sein werde, da ich dringend zu einem weiteren auswärtigen Termin muss, den ich sonst nicht mehr erreiche.

Ob es so etwas wie Wirtschaftsethik überhaupt gibt, nicht nur geben soll, sondern auch geben kann, darüber haben sich schon manche klugen Leute bemerkenswerte Gedanken gemacht. Niklas Luhmann, beispielsweise, hat ausdrücklich seine Zweifel daran angemeldet, ob es so etwas wirklich geben könnte: „(…) meine Vermutung ist, dass sie zu der Sorte von Erscheinungen gehört wie auch die Staatsräson oder die englische Küche, die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheim halten müssen, dass sie gar nicht existieren.“

Nun könnte man unter dem Eindruck aktueller Entwicklungen hinzufügen, dass der Glaube an die Existenz der englischen Küche inzwischen weiter verbreitet ist als die Gewissheit vom Wirken der Staatsräson und schon gar der Verfügbarkeit von Wirtschaftsethik, was allerdings die Relevanz dieser Bemühungen nur unterstreicht.

Ich habe vor einigen Wochen ein Positionspapier des Präsidiums des Bundesverbandes der Deutschen Arbeitgeberverbände in die Hand bekommen mit dem Titel „Wirtschaft mit Werten - Für alle ein Gewinn“. In diesem Positionspapier findet sich der beachtliche Hinweis, Ethik und Ökonomie seien keine erst mühsam zu überbrückenden Gegensätze, verbunden mit dem noch bemerkenswerteren Hinweis: „Gutes Wirtschaften setzt sich zusammen aus ethisch und ökonomisch richtigem Handeln.“

Sie werden, meine verehrten Damen und Herren, vermutlich noch niemandem getroffen haben, der diesem hoffnungslos richtigen Satz widersprechen wollte. Nun werden Sie zugleich meine Vermutung teilen, dass damit immer noch nicht die Frage beantwortet ist,  was denn eigentlich ethisch und ökonomisch richtiges Handeln ist. Mit anderen Worten: es fällt uns allen entschieden leichter, das hier beschriebene Spannungsverhältnis auf der Ebene von Abstraktionen schlüssig zu beantworten als in der Realität konkreter, täglicher Aufgabenstellungen und Entscheidungssituationen.

Wir machen ganz sicher nicht erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts die wiederholte Erfahrung, dass auch in stabilen demokratischen und funktionierenden marktwirtschaftlichen Systemen Fehlentwicklungen und Fehlleistungen möglich sind und dass sie sogar in den höchsten Rängen von Politik und Wirtschaft tatsächlich stattfinden. Daran ist nichts zu beschönigen. Es lässt sich aber immerhin ergänzen, dass es unter den bisher bekannten politischen wie ökonomischen Systemen keine ausgewiesenen Alternativen gibt, die schneller und wirkungsvoller als Demokratie und Marktwirtschaft Fehlentwicklungen und Fehlleistungen offenbaren und Veränderungen erzwingen.

Helmut Schmidt hat immer wieder darauf hingewiesen, der Markt selber könne weder soziale Sicherheit schaffen noch steuerliche Gerechtigkeit gewährleisten. Und erzeuge auch weder kollektiven noch individuellen Anstand. Immerhin: Die Fähigkeit der beiden Systeme Demokratie und Markt, Transparenz zu erzwingen, Irrtürmer zu korrigieren und falsche Entwicklungen abzustellen, ist im Angesicht konkreter Fehlentwicklungen natürlich kein hinreichender Trost, aber gleichwohl ein keineswegs bedeutungsloses Merkmal für die Leistungsfähigkeit von Ordnungssystemen.

Der Umgang mit moralischen Ansprüchen im Verhältnis zu kodifizierten politischen und ökonomischen Systemen ist in diesem Zusammenhang eine besonders delikate Herausforderung. Ich persönlich bin - wie der bedeutende Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning - der Überzeugung, dass man diejenigen politischen und ökonomischen Systeme allen anderen Varianten vorziehen sollte, die mit den geringsten Ansprüchen an die individuelle Moral auskommen. Diese auf den ersten Blick verblüffende Auskunft, die man schon gar bei einem Theologen für einen Anflug von Zynismus halten könnte, ist bei genauerem Hinsehen sehr gut durchdacht. Ein System, ob in der Wirtschaft oder in der Politik, das nur dann funktioniert, wenn alle Beteiligten hohe moralische Ansprüche an ihr eigenes Verhalten und natürlich vor allem an das Verhalten anderer stellt, funktioniert in der Regel überhaupt nicht. Denn es belohnt diejenigen, die sich dem erwarteten Moralkodex nicht beugen und nur den eigenen Vorteil verfolgen, was - wie wir wissen - nicht nur eine theoretische Spekulation ist. Dies ist ganz offenkundig kein erfundenes, sondern ein reales Problem und auch deshalb will ich meine Skepsis gegenüber gesetzlichen Regelungen moralischer Ansprüche ausdrücklich zu Protokoll geben. Eine Gesellschaft, die moralische Ansprüche kodifizieren muss, und die in gesetzliche Verpflichtungen umsetzen muss, was sie an sozialem Verhalten von ihren Mitgliedern erwartet, hat schon verloren. Diese Schlacht kann auf dem Feld der Gesetzgebung sicher nicht gewonnen werden. Allerdings: so wenig, wie Gesetze moralische Standards und ethische Verhaltensmuster substituieren können, so wenig kann umgekehrt das Regelsystem einer Gesellschaft alleine auf die freiwillige Akzeptanz der Gesellschaftsmitglieder begründet sein. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir insbesondere nach den Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit dringenden Anlass haben, darüber nachzudenken, ob das Maß an moralischen Standards und Verhaltensmustern, ohne das Verfassungsinstitutionen wie Wirtschaftsunternehmen zwar nicht notwendigerweise ihre Funktionsfähigkeit, ganz sicher aber ihre Glaubwürdigkeit riskieren, in unserer Gesellschaft hinreichend gesichert ist. 

Ich möchte dazu ein paar wenige Bemerkungen machen, beginnend mit dem Thema Gleichheit und Ungleichheit in unserer Gesellschaft: Offenkundig handelt es sich hier um zwei sich heftig im Wege stehende Orientierungen, ganz besonders in modernen Gesellschaften, die sich normativ durch den für unantastbar erklärten Gleichheitsgrundsatz und statistisch durch ein wachsendes Maß an Ungleichheit auszeichnen. Wie gehen moderne Gesellschaften mit diesem Spannungsverhältnis um? Ich persönlich glaube nicht, dass es ein generelles Bedürfnis der Menschen nach Gleichheit der tatsächlichen Lebensverhältnisse gibt. Oder, anders formuliert: ich habe den Eindruck, dass die allermeisten Menschen mit der gerade erwähnten statistischen Ungleichheiten im Prinzip relativ gut zurande kommen. Und als leichtfertige Verschärfung will ich hinzufügen, dass die Menschheit völlig anders und vermutlich nicht besser aussähe, wenn es nicht die Erfahrung der Ungleichheit mit ihren stimulierenden Wirkungen einschließlich der Frustrationserfahrungen gäbe. Ungleichheit, meine Damen und Herren, wird aber immer dann ein Problem - schon gar im Kontext einer demokratisch verfassten, marktwirtschaftlich geregelten Ordnung -, wenn es keinen plausiblen, erkennbaren Zusammenhang zwischen individueller Leistung und individuellem Einkommen und Vermögen gibt, wenn der Eindruck entsteht, dass selbst bei verweigerter Leistung oder bei nachgewiesenen Fehlleistungen die Bezahlungen oder Abfindungen besonders üppig ausfallen.

Die zunehmend aus dem Lot geratenen Einkommensproportionen in unserer Gesellschaft sind ein objektiv großes Problem, das nach meiner festen Überzeugung das Selbstverständnis dieser Gesellschaft in zunehmendem Maße strapaziert. Das Verhältnis der Vorstandsgehälter zu den Einkommen der übrigen Beschäftigten desselben Unternehmens hat sich bei uns in den vergangenen Jahren in erstaunlicher Weise verselbständigt. In Deutschland ist das Verhältnis des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens zwischen Vorstand und Mitarbeitern der DAX-30-Unternehmen in den vergangenen zwanzig Jahren vom 14fachen auf das jetzt knapp 50fache gestiegen. Dabei verteilt sich dieser Anstieg keineswegs kontinuierlich über die genannte Zeit, sondern ist vor allem seit Mitte der 90er Jahre deutlich festzustellen.

Nach einer im März dieses Jahres veröffentlichten Studie sind die Gehälter der Vorstandsmitglieder selbst gegenüber der zweithöchsten Hierarchieebene des gleichen Unternehmens durchschnittlich um das 20fache höher. Das sind - ich rede hier für niemanden außer für mich -absurde Einkommensrelationen, die im globalen Maßstab übrigens zum Teil noch frappierender sind. Der Vorstandsvorsitzende einer großen amerikanischen Kaufhauskette hat vor einigen Jahren nachweislich der eigenen Unternehmensbilanz das rund 900-fache des Durchschnittseinkommens der Beschäftigten seines Unternehmens „verdient“ - bekommen, wollte ich sagen.

Selbst als überzeugter Anhänger des Prinzips der Ungleichheit kann ich dafür keine überzeugende Begründung finden. Die Leistungsdifferenzen in unserer Gesellschaft sind bei weitem nicht so groß wie die Einkommens- und Vermögensdifferenzen. Wenn aber das Leistungsprinzip auf diese Weise zunehmend und scheinbar systematisch konterkariert wird, wenn zwischen Leistung und Entlohnung entweder kein Zusammenhang mehr besteht oder er jedenfalls immer weniger erkennbar, immer weniger nachvollziehbar wird, dann steht die Legitimation dieser Ordnung zur Debatte.

Auch mit den Boni von Investmentbankern, die mit vernünftigen Leistungsprämien, die aus gutem Grunde in vielen Unternehmen längst gang und gäbe sind, nur noch eine sehr entfernte Ähnlichkeit haben, habe ich meine Probleme. In der Regel verdienen Investmentbanker ein ordentliches Gehalt, das deutlich über dem durchschnittlichen Einkommen vergleichbarer Tätigkeiten liegt. Mit dem Einsatz von Geldern, die ihnen nicht gehören, erzielen sie im Erfolgsfall fürstliche Honorare und werden bei gescheiterten Geschäften von Bürgschaften und Einlagen der Steuerzahler unterstützt, die selber weder von den Einkommen noch von den Prämien auch nur träumen können, die im Misserferfolgsfall von der Gesellschaft im ganzen abgedeckt werden müssen, um nach dem staatlich verhinderten Kollaps - unbelehrt und scheinbar unberührt - ihre finanziellen Wetten wieder aufzunehmen, die sie sich wieder mit neuen Boni vergüten lassen.

Wenn irgend jemand von ihnen meint, das sei unangenehm, werde diese Ordnung aber nicht im Kern aus den Angeln heben, dann halte ich das für einen unbegründeten fröhlichen Optimismus: Dies erodiert die Wirtschaftsordnung. Jedenfalls eine Wirtschaftsordnung, die sich seit mehr als 60 Jahren eben nicht als eine kapitalistische Wirtschaftsordnung versteht, sondern als eine, die die Prinzipien des Wettbewerbs mit sozialstaatlichen Rahmenbedingungen auch deshalb versehen hat, weil sie neben ökonomischen Kalkülen ein Mindestmaß von gesellschaftlichen, sozialen Erwartungen und Verpflichtungen zum Bestandteil dieser Organisations- und Wirtschaftsordnung machen will.

Ich habe vor einigen Wochen mit großem Interesse von einer Studie der Universität Zürich gelesen, die bei der Analyse von Unternehmen und den Einkommensstrukturen von Vorstandsmitgliedern zu dem Ergebnis kam, dass zwischen den wirtschaftlichen Erfolgen dieser Unternehmen und der Höhe der ausgeschütteten Boni und Aktienoptionen überhaupt kein statistisch signifikanter Zusammenhang zu finden war.

Zwei Drittel der Bevölkerung hier in Deutschland empfinden die Verteilung von Einkommen und Vermögen inzwischen als hoch ungerecht. Dagegen lässt sich einwenden, dass das immer schon so war - das ist nicht ganz falsch, trifft dennoch nicht die Lage, denn in den letzten Jahren ist der Anteil der Skeptiker gegenüber der Einkommens- und Vermögensverteilung signifikant gestiegen. Vor wenigen Jahren lag der Anteil der Skeptiker noch ungefähr bei der Hälfte, inzwischen liegt er bei gut zwei Drittel. Ich könnte ihnen das jetzt auch aufgeschlüsselt nach den Anhängern unterschiedlicher politischer Parteien vortragen, trage ihnen aber nur den Saldo vor: Der geringste Anteil der Skeptiker findet sich unter den FDP-Wählern, da liegt er bei 65 Prozent.

Also machen wir uns mal nichts vor: Wir haben in dieser Frage eine virtuell verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit in der deutschen Bevölkerung, was die Einschätzung der Akzeptanz der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland betrifft. Und da ich heute ausdrücklich nicht als Ökonom rede, will ich mir noch einen zweiten Hinweis erlauben, bei dem mir als mindestens angelerntem Ökonomen die einschlägigen Kalküle zwar hinreichend vertraut sind, mir aber die direkten und indirekten wirtschaftspolitischen und gesellschaftspolitischen Folgen gleichwohl schwer akzeptabel erscheinen. Warenterminbörsen für Rohstoffe - ein konkretes Beispiel:  Jedes Jahr werden weltweit zwischen etwa drei und rund vier Millionen Tonnen Kakao produziert und verbraucht. Da stehen Angebot und Nachfrage Jahr für Jahr in einem - im Großen und Ganzen - erstaunlich ausgeglichenen Verhältnis zueinander. Es wird ziemlich genauso viel produziert wie auch nachgefragt wird. In der jüngsten Zeit ist der Kakaopreis so hoch gewesen wie in den letzten dreißig Jahren nicht mehr. Das hat mit der Angebots- und Nachfragesituation des Produktes überhaupt nichts zu tun, wohl aber mit der Spekulation mit diesem Rohstoff. Es werden nämlich jährlich etwa 60 Millionen Tonnen Kakao, das ist etwa das 20fache der Jahresproduktion, über Terminkontrakte gehandelt. Dass da gute Geschäfte gemacht werden, daran habe ich keinen Zweifel, dass das eine Errungenschaft unserer Zivilisation sei, bestreite ich ausdrücklich. Zumal zwischen den Profiten derer, die sich für die Begünstigten dieser Wettgeschäfte halten dürfen, und den Einkommens- und Vermögensverhältnissen derjenigen, die zu den Herstellern des Produkts gehören, das Gegenstand von Wettgeschäften ist, so dramatische Missverhältnisse bestehen, dass ich das jedenfalls als überzeugter Anhänger einer sozialen Marktwirtschaft nicht vertreten kann.

Wir haben - Herr Professor Hüther hat das ja auch in seiner Begrüßung angedeutet - in den vergangenen Jahren besonders dramatische Erfahrungen auf den Weltfinanzmärkten gemacht, die sich in einer so atemberaubenden Art und Weise von den Gütermärkten entfernt haben, dass wir hilfsweise schon durch den erstaunlichen Begriff „Realwirtschaft“ die Unterscheidung zwischen realen und virtuellen Prozessen wieder in den Blick genommen haben. Die meisten von ihnen kennen die einschlägigen Relationen. In den letzten gut 25 Jahren - Anfang/Mitte der 80er Jahre - hat sich das Volumen der täglichen Finanztransaktionen auf den Weltfinanzmärkten rund verfünfzigfacht. Ihr Umfang macht heute mehr als das 20-fache der täglichen Finanztransaktionen im Anlagekapital aus. Das, was auf den internationalen Finanzmärkten über die Jahre hinweg stattfindet, ist - wiederum zugespitzt formuliert - nicht Wertschöpfung, sondern Simulation von Wertschöpfung, die so lange hält, wie die Einbildung stabil bleibt. Das ist ökonomisch virtuos, hoch akrobatisch, aber ethisch grenzwertig. Zumal die Chancen und Risiken ja natürlich nicht und offenkundig nicht gleichmäßig, schon gar nicht gerecht verteilt sind, sondern sich zunehmend auf die heimliche Erwartung gründen, dass, je größer die Risiken dieser Geschäfte werden, desto unvermeidlicher der Staat am Ende als Bürge für gescheiterte Geschäfte eintreten muss.

Der dramatische Höhepunkt der Eigendynamik dieser Entwicklung war vor anderthalb Jahren erreicht, als die internationalen Finanzmärkte zu kollabieren drohten, weil sich alle Banken weltweit wechselseitig ihr Misstrauen ausgesprochen hatten. Und als letzter denkbarer Rettungsanker wurde die Institution wiederentdeckt, die nach Auffassung der gleichen Branchen nun seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten, die letzte verbliebene Hürde für das ultimative Maß an ökonomischer Effizienz sein sollte, nämlich der Staat. Seitdem gibt es eine Reihe von neuen Ansichten, übrigens auch von neuen Versuchungen. Zu den neuen und hoffentlich stabilen Einsichten gehört, dass der Höhepunkt, der Gipfelpunkt der ökonomischen Leistungsfähigkeit offenkundig nicht dann erreicht ist, wenn es den Staat nur noch als nostalgischen Erinnerungsposten an frühere Epochen der Wirtschaftsgeschichte gibt, sondern, dass Märkte ganz offensichtlich genauso ihre belastbaren, durchsetzbaren Regeln brauchen wie andere Sozialsysteme auch. Zu den neuen Versuchungen gehört, dass beim einen oder anderen die Vorstellung sich verselbständigt, am besten übernehme der Staat gleich auch die Organisation der Gütermärkte und stelle selber wieder Autos und Oberhemden und elektronische Geräte oder was auch immer her, jedenfalls dann, wenn sie in privatwirtschaftlicher Trägerschaft und hier, und dort in Turbulenzen geraten.

Wir befinden uns im Augenblick mitten in einer Woche, in der wir zu unserer eigenen Überraschung einmal wieder über ein staatlich und auf europäischer Ebene vereinbartes Paket von Hilfsmaßnahmen beraten und entscheiden müssen, von dem wir uns noch vor einer Woche oder 14 Tagen kaum hätten vorstellen mögen, dass uns allein eine solche Fragestellung erreichen könnte. Und ich habe keine Illusion darüber, dass ein immer geringerer Teil der deutschen Öffentlichkeit begreift, warum - wenn sich die Probleme auf diese Weise akkumulieren - ein Wochenende reicht, um Hilfspakete von 750 Mrd. Euro zu vereinbaren, aber anderthalb Jahre nicht ausreichen, um die Einsichten umzusetzen, die wir beim ersten drohenden Kollaps gemeinsam als unverzichtbare Konsequenzen der verselbständigten Finanzmärkte formuliert haben. Ich will hinzufügen: Ohne die Umsetzung dieser Einsicht sind die Rettungspakete in der Sache auch gar nicht zu verantworten, denn sie vertagen ja das Problem nur, das sie durch die Zusage der Mittel allein ganz offenkundig nicht lösen können. In diesem Zusammenhang nur nachrichtlich der Hinweis, dass die Hedgefonds und andere spekulativ orientierte Kapitalgeschäfte weltweit im Augenblick ein Anlagevolumen bewegen, das sich in der Größenordnung etwa von 2,6 Billionen Dollar beläuft. Das ist ziemlich genau die Größenordnung unseres jährlichen Sozialprodukts. Zu glauben, wir könnten mit Wochenendaktionen des Auslobens von Steuergeldern dieser Spekulation wirksam entgegentreten, halte ich für eine fröhliche Illusion. Wir werden dem mit Erfolg nur entgegentreten, wenn wir uns darüber verständigen, was wir für zulässige Geschäfte halten und was eben nicht. Und da fallen mir eine Reihe von Geschäften ein, die ich für unanständig halte und deswegen für unzulässig und die ich nach meinem Verständnis einer sozialen Marktwirtschaft gesetzlich untersagen möchte. Selbst wenn ich solche Geschäfte ökonomisch spannend fände, fühlte ich mich zu dieser Konsequenz auch deswegen verpflichtet, weil wir die Folgen der Verselbständigung dieser Systeme doch offenkundig nicht anders beherrschen können und weder vor uns selbst noch vor nachfolgenden Generationen die absehbaren Folgen solcher Versäumnisse vertreten können.

Von Ludwig Erhard, von dem immerhin noch einige wissen, dass es ihn einmal gegeben hat, und der nicht gänzlich zu unrecht für den Vater unseres sogenannten „Wirtschaftswunders“ gehalten wird, jedenfalls der „sozialen Marktwirtschaft, ohne die es dieses vermeintliche Wunder sicher nicht gegeben hätte, stammt der bedenkenswerte Satz “Freiheit, die sozialökonomisch oder politisch nicht in ein umfassendes Ordnungssystem eingespannt und damit gebändigt ist, oder auch Freiheit, die um keine moralische Bindung weiß, wird immer im Chaotischen entarten„. Ohne die Bereitschaft des längst abgeschriebenen Staates zur Intervention in kollabierende Finanzmärkte hätten wir in den vergangenen Monaten erstaunliche neue Aufschlüsse zur Chaostheorie gewinnen können.

Lassen sie mich zum Schluss nach Max Weber zu Beginn einen anderen bedeutenden zeitgenössischen Philosophen zitieren: Peter Sloterdijk hat in seinem Buch “Im Weltinnenraum des Kapitals„ folgenden interessanten und denkwürdigen Satz geschrieben: “Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne, sondern dass das Geld um die Erde läuft.„ Er hat, meine Damen und Herren, nicht von der Hauptsache, sondern von der Haupttatsache gesprochen und aus gutem Grund das eine vom anderen getrennt. Meine Empfehlung ist, diese Unterscheidung dringend im Auge zu behalten.

Parlament

Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zum 20. Jahrestag der freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990

Frau Bundeskanzlerin! Herr Bundesratspräsident! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts! - Ihnen, lieber Herr Professor Voßkuhle, gratuliere ich im Namen des ganzen Hauses herzlich zur Übernahme Ihres hohen Amtes in dieser Woche und wünsche Ihnen für Ihre Amtszeit eine glückliche Hand, ein sicheres Urteil und Gottes Segen.

Mein besonderer Gruß gilt allen Mitgliedern der 10. Volkskammer und, an Ihrer Spitze, der damaligen Präsidentin, Frau Dr. Bergmann-Pohl.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Exzellenzen! Verehrte Gäste!

Wer Wahlergebnisse vorfertigt oder verfälscht oder vorgefertigte oder verfälschte in Umlauf bringt, wird mit einer AUSREISEQUOTE nicht unter 50 000, mit einer BOTSCHAFTSBESETZUNG nicht unter 3 Monaten und einer PROTESTDEMONSTRATION ... nicht unter 10 000 Teilnehmern bestraft.

Meine Damen und Herren, dieser Protestaufruf zu einer Demonstration gegen die gefälschten Kommunalwahlen in der DDR vom Mai 1989 ließe sich im Rückblick noch ergänzen: Wer einem Volk sein elementares Recht auf freie Wahlen vorenthält, den jagt am Ende das Volk davon.

Die SED-Diktatur wurde zwar nicht allein mit Demonstrationen und Flugblättern entwaffnet, aber gewiss auch und nicht zuletzt mit bissiger Ironie. Die Hintergründe dafür waren jedoch alles andere als witzig. Die mehr oder weniger subtilen Mechanismen des Überwachungs- und Unterdrückungsstaates ließen 40 Jahre keine freien Wahlen und geheimen Abstimmungen zu. Einheitslisten degradierten die Bürger in Wahlen ohne Auswahl zum bloßen „Zettelfalten“. Der Wahlausgang war das Ergebnis dreister Fälschungen.

Statt der propagierten Identität von Herrschern und Beherrschten legten im Mai 1989 nach den erneut manipulierten Kommunalwahlergebnissen einzelne Bürger vor aller Augen den Bruch zwischen Partei und Volk offen. Sie machten Wahlbehinderung, Wahlbeeinflussung und Wahlfälschung öffentlich. Diese heute zu Unrecht weitgehend Vergessenen nahmen Drangsalierungen in Kauf; sie riskierten, abgehört, beobachtet und unter Druck gesetzt zu werden.

Der Protest gegen die letzten gefälschten DDR-Wahlen schlug einen Funken, der im Herbst des gleichen Jahres Massenproteste entzündete. Nun waren es nicht mehr wenige, auch nicht die angedrohten 10 000 Teilnehmer, sondern am Ende Hunderttausende, die sich gegen die Missachtung elementarer Bürger- und Menschenrechte in der DDR zur Wehr setzten. Sie forderten: „Freie Wahlen - wahre Zahlen!“ Das mutige Engagement einer Minderheit ermöglichte am Ende der Mehrheit, ihre eigene Stimme zu finden und am 18. März 1990, heute vor genau 20 Jahren, in wirklich freien, allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen an die Urnen zu tragen.

Die autoritäre Führung dieser zweifellos deutschen, aber sicher nicht demokratischen Republik baute auf Bevormundung und Unterdrückung, auf häufig erzwungene Teilnahme; sie gewährte aber keine echte Teilhabe, schon gar keinen ernsthaften politischen Einfluss. Das galt auch für ein Parlament, das selten zusammentrat, und, wenn doch, die Abgeordneten zu bloßen Statisten unter Regie der Einheitspartei machte.

Die DDR-Zeitschrift Staat und Recht urteilte 1978 über die Volkskammer, dieses - Zitat - „oberste staatliche Machtorgan der DDR“ sei nicht mit den Maßstäben des bürgerlichen Parlamentarismus messbar und bewertbar. Das ist sicher wahr, aber in Bezug auf selbstbeanspruchte demokratische Grundsätze eben doch. Das „große Sprech- und Horchinstrument“, das Bertolt Brecht 1954 vorgeschwebt hatte, ist die Volkskammer bis zu den Wahlen am 18. März 1990 sicher nie gewesen.

Meine Damen und Herren, was ein politisches System als Demokratie qualifiziert, ist die Existenz und gefestigte Rolle eines frei gewählten Parlamentes im Verfassungsgefüge wie in der politischen Realität. Regiert wird immer und überall auf der Welt, mal mit und auch heute noch allzu oft ohne demokratische Legitimation. Ein frei gewähltes, demokratisches Parlament macht den Unterschied. Es ist das Forum der Nation zur öffentlichen Auseinandersetzung, Beratung und Entscheidung aller wichtigen Angelegenheiten.

„Wir sind das Volk“: Das bedeutete 1989, sich von der Entmündigung zu befreien und die Dinge selbst in die Hand nehmen zu wollen. Allein die beachtliche Wahlbeteiligung bei den Volkskammerwahlen vor 20 Jahren - mehr als 93 Prozent - war ein bemerkenswerter Beleg für das neu gewonnene demokratische Selbstbewusstsein der Bürger in der DDR.

Der 18. März war kein Geschenk, keine himmlische Fügung, sondern ein hart errungenes Ergebnis der Friedlichen Revolution.

So hat Wolfgang Thierse in diesen Tagen die damaligen Ereignisse beschrieben und hinzugefügt:

Er war das großartige Werk jener mutigen, mutig gewordenen Menschen, die im Herbst 1989 ihre Sprache wiederfanden, sich in den Bürgerrechtsbewegungen sammelten und in jenen Tagen ihre Freiheit … selbst erkämpft haben!

Ihren Beitrag zur deutschen Demokratie- und Parlamentarismusgeschichte wollen wir heute würdigen. Der Deutsche Bundestag hat dafür seine Haushaltsberatungen unterbrochen. Ich hätte mir gewünscht, dass auch unsere öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten den Rang dieses Ereignisses dadurch gewürdigt hätten, dass sie nicht nur im Spartenkanal Phoenix ihre alltäglichen Vormittagsprogrammehierfür für eine ganze Stunde einem breiten Publikum geöffnet hätten.

Das ZDFhat sich nach mehrfacher Rückfrage unsererseits am Ende gegen die Übertragung entschieden. In der Drehscheibe Deutschland sind nach eigener Programmauskunft jetzt zeitgleich Berichte über die Angst vor Genkartoffeln, über geprellte Bauherren und über einen Melkwettbewerb in Niedersachsen zu sehen.

So viel zu einem Thema, das wir bei anderer Gelegenheit ganz offenkundig vertiefen müssen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte den 18. März 1990, die Welt sei an diesem Tag zum zweiten Mal Zeuge eines Aktes deutscher Selbstbefreiung geworden. Der erste habe auf der Straße gespielt, der zweite in der Wahlkabine. Mit den Wahlen schloss sich die DDR der Verfassungstradition westlicher Demokratien an.

Sie, verehrter Lothar de Maizière, haben als frei gewählter Ministerpräsident der DDR in Ihrer Regierungserklärung am 19. April 1990 vor den Abgeordneten der Volkskammer gesagt - ich zitiere -:

Das Volk ist sich seiner selbst bewußt geworden. Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben sich die Menschen in der DDR als Volk konstituiert.

Die Dimension, die die Wahl heute vor 20 Jahren für jeden Einzelnen, jede Einzelne hatte, haben Sie später oft in einer historischen Rechnung eindrücklich aufgemacht: Man musste damals weit über 70 Jahre alt sein, um bereits einmal im Leben in diesem Teil Deutschlands frei gewählt zu haben - 1932, bei den letzten Reichstagswahlen, die diese Bezeichnung verdienen. Sie selbst waren damals gerade 50 Jahre alt geworden. Das ist ein besonders schöner Anlass, Ihnen heute, 20 Jahre später, im Deutschen Bundestag zu Ihrem 70. Geburtstag zu gratulieren, den Sie vor wenigen Tagen begangen haben, und zugleich zu dem Beitrag, den Sie persönlich zur Vollendung der demokratischen Revolution in der DDR geleistet haben.

Meine Damen und Herren, der Wahlausgang damals erfüllte nicht die Hoffnungen aller; er überraschte viele und entsprach damit mindestens den Erwartungen an eine wirklich freie und geheime Wahl. Vertreter der Bürgerrechtsbewegung, die mit ihrem Widerstand die freien Wahlen ermöglicht hatten, fanden sich in der parlamentarischen Opposition wieder. Das war für viele eine schmerzhafte Erfahrung. Ihre Bedeutung war in dieser Rolle indes kaum weniger groß als zuvor. Denn die demokratische Reife eines politischen Systems zeigt sich vor allem am Vorhandensein einer Opposition und an ihren politischen Wirkungsmöglichkeiten. Sie erst machen ein Parlament zur Vertretung des ganzen Volkes.

Die freien Wahlen beendeten in der DDR das Schattendasein des jahrzehntelang dem eigenen Anspruch Hohn sprechenden Parlaments. Erst jetzt wurde es zu einer echten Kammer des Volkes und zur politischen Herzkammer der in der friedlichen Revolution neu gewonnenen Demokratie. Der Zentrale Runde Tisch, dem das Verdienst gebührt, die DDR friedlich in ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen überführt zu haben, stützte sich zwar auf eine politische, jedenfalls moralische Legitimierung durch einen Großteil der Bevölkerung. Doch erst die aus freien Wahlen hervorgegangene Volksvertretung schuf die Voraussetzung für eine demokratisch legitimierte Regierung, deren Handlungsfähigkeit dabei das Ergebnis großen Verantwortungsbewusstseins unter den damaligen politischen Akteuren war.

So überraschend der Wahlausgang gewesen ist, so eindeutig und unmissverständlich war hingegen dessen politische Botschaft: Er bedeutete das Mandat zur deutschen Einheit. Reinhard Höppner hat diese Bedeutung des Wahlausgangs in einem heute erschienenen Interview als - ich zitiere - „Plebiszit über die deutsche Einheit“ bezeichnet.

Der 18. März 1990 wies den Abgeordneten der 10. Volkskammer damit über Nacht eine der Hauptrollen auf der Bühne der Weltpolitik zu. Von insgesamt 409 Abgeordneten - einschließlich der Nachrücker - gehörten nur ganze 3 Prozent bereits der 9. Volkskammer an. Die allermeisten traten über Nacht in eine Aufgabe, von der sie selber nur begrenzte Vorstellungen haben konnten. Sie gingen teilweise hohe berufliche Risiken ein und brachten über Monate erhebliche private Opfer. Viele von ihnen, darunter viele heute vergessene, stille Helden der Revolution, haben die politische Bühne längst wieder verlassen. Deshalb begrüße ich heute besonders herzlich alle damaligen Mitglieder der Volkskammer im Deutschen Bundestag, der ohne ihr politisches Wirken heute weder in Berlin tagen noch das ganze deutsche Volk vertreten könnte.

Die 10. Volkskammer ist sicher nicht nur eines der fleißigsten, sondern auch eines der wirkungsmächtigsten Parlamente in der deutschen Demokratie- und Parlamentarismusgeschichte gewesen. Ich freue mich, dass ab heute von der Website des Deutschen Bundestages aus auf eine Onlinedatenbank zugegriffen werden kann, in der die verfügbaren biografischen Kurzinformationen zu allen Abgeordneten der 10. Volkskammer zusammengetragen sind. Dafür danke ich dem Leiter des Zentrums für Historische Sozialforschung an der Universität zu Köln, Herrn Professor Dr. Schröder, der dies im Auftrag des Bundestages kurzfristig realisiert hat.

Meine Damen und Herren, die freie Volkskammer hat damals viele Kommentierungen, gelegentlich gönnerhafte Attribute bekommen. Heute ist für manche damalige Mitglieder sicher auch ein Anlass zur selbstkritischen Rückschau. Den Abgeordneten wurde ein immenses Arbeitsprogramm abverlangt. Während die Volkskammer in den 80er-Jahren im Schnitt nicht einmal zu drei Sitzungen im Jahr zusammentrat, wurden zwischen April und September 1990 in 38 Tagungen 164 Gesetze und 93 Beschlüsse beraten und verabschiedet. Dass die Abgeordneten dabei um Dialog und Konsens bemüht waren, erschien westlichen Beobachtern oft als ungewöhnlich. Manches, was damals naiv erschien - auch Abstimmungen quer durch die Fraktionen -, lässt sich durchaus auch als vorbildlich begreifen.

Auch das ist ein Punkt, den wir bei anderer Gelegenheit vertiefen können und müssen.

Nicht vorbildlich waren sicher damals die Arbeitsbedingungen, die etwa die Vorbereitungen zu Koalitionsgesprächen nur auf Fluren zuließen, wie sich Richard Schröder immer wieder erinnert. Als damaliger Fraktionsvorsitzender der SPD bekam er erst im August ein Telefon in seine Wohnung. Bis dahin konnte er zwar mit einem ausgeliehenen Funktelefon mühelos bis Honolulu, aber nicht von Ostberlin nach Leipzig telefonieren.

Die Abgeordneten standen vor der Doppelaufgabe, ein arbeits- und funktionsfähiges Parlament zu schaffen und zugleich unter enormem Zeitdruck gesetzgebende Entscheidungen von bislang ungekannter Tragweite zu treffen. Hinter der durchaus untypischen Arbeitsplatzbeschreibung der Abgeordneten, sich möglichst schnell „überflüssig“ zu machen, stand nicht weniger als die Aufgabe, eine jahrhundertealte deutsche Hoffnung und ein vier Jahrzehnte währendes Versprechen einzulösen: die Verbindung von Einigkeit und Recht und Freiheit.

Der 18. März 1990 steht als Datum in einer bemerkenswerten Traditionslinie der deutschen Geschichte. Ich denke an die Proklamation der „Mainzer Republik“ am 18. März 1793 unter dem Eindruck und Einfluss der französischen Revolution und an den Aufbruch zur Freiheit in den Berliner Barrikadenkämpfen 1848, wiederum am 18. März. Der Unterschied zu früheren Daten: Mit dem 18. März 1990 gingen die Deutschen den Weg zur deutschen Einheit in Frieden und Freiheit erfolgreich zu Ende.

1989/90 übte der Parlamentarismus geradezu magnetische Kraft auf die Bürgerrechtsbewegungen des Ostblocks aus. Auch die Deutschen erlebten vor 20 Jahren Sternstunden des Parlamentarismus - zu einer Zeit, als im Westen Parlamentarismuskritik zum vermeintlich guten Ton zu werden schien.

Ich freue mich auch deshalb ganz besonders, dass von heute an das Internetangebot des Deutschen Bundestages allen interessierten Bürgerinnen und Bürgern erstmals sämtliche Plenarverhandlungen der 10. Volkskammer in Ton, Bild und als Druckdokumente verfügbar macht: über 200 Stunden Fernsehaufzeichnungen der Plenarsitzungen und über 6 000 Seiten mit Protokollen und Drucksachen der Volkskammer. Ermöglicht hat dies eine schnelle und glückliche Kooperation mit dem Bundesarchiv und dem Deutschen Rundfunkarchiv, für die ich allen daran Beteiligten herzlich danke.

Der Deutsche Bundestag stellt damit der politischen Bildungsarbeit, den Schulen, der Wissenschaft und den Medien einmalige Quellen aus einer der interessantesten Phasen deutscher Parlamentsgeschichte zur Verfügung. Mit der Präsentation im Internet kann sich nun jeder diese spannenden Tage zwischen April und Oktober 1990 noch einmal lebhaft in Erinnerung rufen, und ich hoffe, dass davon reger Gebrauch gemacht werden wird. Aus knapp 200 Stunden aufgezeichneter und nun im Internet vollständig abrufbarer Debatten hat das Referat Parlamentsfernsehen der Bundestagsverwaltung für unsere heutige Veranstaltung einen Zusammenschnitt von acht Minuten gefertigt, den wir jetzt sehen werden.

Ich danke Ihnen, verehrter Herr de Maizière, dass Sie uns anschließend aus der Perspektive eines damals Handelnden Einblicke in diese aufregende Zeit und Einsichten in ihre Bedeutung vermitteln, und vielleicht auch in die persönliche Bilanz eines der herausragenden Akteure, der sich - zusammen mit vielen bekannten und noch mehr unbekannten Mitstreitern - um die deutsche Einheit bleibende Verdienste erworben hat. Ihnen allen, wo immer sie heute leben und wirken, gelten unser Dank und unser Respekt.

(Filmbeitrag „Ein Parlament auf dem Weg zur deutschen Einheit“)

Parlament

Rede von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert zum „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ am 27. Januar 2010

Sehr geehrter Herr Staatspräsident! Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Repräsentanten aller Verfassungsorgane! Exzellenzen! Herr Professor Tych! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Anfang Mai wird hier in Berlin die „Topographie des Terrors“ eröffnet. Die neue Dokumentationsstätte steht auf den Fundamenten der ehemaligen Hauptquartiere von Gestapo und SS sowie des sogenannten Reichssicherheitshauptamts. Vermutlich gibt es keinen anderen Ort, von dem aus in so diabolischer Weise Mord und Terror geplant und organisiert wurden. Auch der Völkermord an den europäischen Juden wurde von dort aus geleitet - nur wenige Hundert Meter von hier entfernt und scheinbar Lichtjahre weit weg.

Als Auschwitz am 27. Januar 1945 befreit wurde, hatte das Lager fünf Jahre, fünf unendlich lange Jahre, bestanden. In dieser Zeit wurden allein dort mehr als eine Million Menschen ermordet.

Wir gedenken heute, am 65. Jahrestag der Befreiung, aller Opfer, die in die Verfolgungs- und Tötungsmaschinerie des nationalsozialistischen Regimes gerieten. Wir gedenken aller, die um ihre Würde, ihre Gesundheit, ihr Hab und Gut, am Ende um ihr Leben gebracht wurden: europäische Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Homosexuelle, politisch Andersdenkende, Künstler, Wissenschaftler, alle, die als sogenannte Feinde des Nationalsozialismus herabgewürdigt wurden. Wir erinnern auch an diejenigen, die deshalb schikaniert, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden, weil sie Widerstand leisteten oder verfolgten Menschen Schutz und Hilfe gewährten.

Wir erneuern unser Versprechen, dass wir das, was in der Vergangenheit geschehen ist, nicht vergessen. Wir wissen um die Verpflichtung, jede Form von Hass, Intoleranz, Diskriminierung, Ausgrenzung und Antisemitismus entschieden zu bekämpfen.

Meine Damen und Herren, unter den Opfern von Auschwitz stellen die Juden Europas und Polen die zahlenmäßig größten Gruppen. Umso dankbarer sind wir, dass wir heute jeweils einen Gast aus Polen und Israel bei uns haben. Ich begrüße aus Israel den Staatspräsidenten, Herrn Schimon Peres, und ich begrüße aus Polen den Historiker Herrn Professor Feliks Tych.

Bis 1942 - dies entnehme ich einer Veröffentlichung von Professor Tych - hat es nirgendwo sonst auf der Welt eine so große geschlossene jüdische Bevölkerung gegeben wie in Polen. Dort waren von der Gesamtbevölkerung 10 Prozent und von der Stadtbevölkerung sogar 40 Prozent Juden - beinahe 3,5 Millionen Menschen. Bis 1939 galt Warschau als eine Hochburg jüdischer Kultur in der Welt; allein hier lebten fast 400 000 Juden. Zum Vergleich: In ganz Deutschland lebten bis 1933 rund 500 000 Juden. Viele Juden, wo immer sie heute leben, haben polnische Wurzeln, und dies trifft auch auf Herrn Staatspräsident Peres zu, der in der ehemals polnischen - heute weißrussischen Stadt Wiszniew - geboren wurde und nach traumatischen Erlebnissen 1934 mit seiner Familie nach Tel Aviv auswanderte.

Es kommt nicht häufig vor, dass ein ausländisches Staatsoberhaupt eingeladen wird, vor dem Deutschen Bundestag zu sprechen. Wenn mit Schimon Peres nun bereits zum dritten Mal ein israelischer Staatspräsident vor dem Deutschen Bundestag spricht, zumal an einem so herausgehobenen Tag, unterstreicht das die besonderen Beziehungen zwischen unseren Staaten, für die es keine Parallele gibt. Es sind in der Tat keine „normalen“ Beziehungen, weil das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland nie „normal“ war und deshalb auch nicht „normal“ werden muss oder soll. Unsere Beziehungen werden immer von den beispiellosen historischen Erfahrungen geprägt sein. Israel ist auf der Asche des Holocaust gegründet. Für die zweite Demokratie in Deutschland gehört die Auseinandersetzung mit dem Holocaust gewissermaßen zu den Grundlagen unserer Verfassung, nachdem ein totalitäres System die Würde der Menschen in beispielloser Weise angetastet und in einer diabolischen Verbindung von Menschenverachtung und Größenwahn am Ende das eigene Land politisch, ökonomisch und moralisch ruiniert und Millionen Opfer zurückgelassen hatte.

In den 65 Jahren nach der Befreiung der Konzentrationslager hat sich zwischen Israel und Deutschland eine Freundschaft entwickelt, die niemand ernsthaft erhoffen durfte. „In unserem jungen Staat“, hat Schimon Peres einmal gesagt, „überwog die Auffassung, dass der Bruch mit Deutschland endgültig und für ewig sein müsse.“ Vor dem Hintergrund, dass unter den Staatsgründern Israels die Überlebenden der Todeslager und die Vertriebenen aus den zerstörten Gettos waren, ist das eine ebenso deprimierende wie nachvollziehbare Einstellung. Umso mehr müssen wir David Ben-Gurion und Konrad Adenauer, den ersten Regierungschefs beider Länder, dankbar sein, dass trotz der tiefen Gräben zwischen beiden Völkern wieder Vertrauen aufgebaut wurde und die Grundlagen dafür gelegt wurden, was man heute im Positiven die „besonderen Beziehungen“ zwischen Deutschland und Israel nennt: Wir Deutsche tragen eine Mitverantwortung für den Staat Israel. Wo sein Existenzrecht und die Sicherheit seiner Bevölkerung bedroht sind, wo das Recht, in sicheren Grenzen zu leben, gefährdet ist, gibt es für uns Deutsche keine Neutralität. Wir Deutsche haben für die Existenz und die Sicherheit Israels eine historisch begründete besondere Verantwortung. Manches ist verhandelbar, das Existenzrecht Israels nicht.

Ein atomar bewaffneter Staat in seiner Nachbarschaft, geführt von einem offen antisemitisch orientierten Regime, ist nicht nur für Israel unerträglich. Die Weltgemeinschaft darf eine solche Bedrohung nicht dulden.

Sosehr Israel und Deutschland durch die Erfahrung des Holocaust verbunden sind, es wäre zu kurz gegriffen, unsere Beziehungen ausschließlich auf die historische Dimension zu verkürzen. Wir arbeiten intensiv zusammen, um die Zukunft zu gestalten. Über 100 Städtepartnerschaften gibt es zwischen deutschen und israelischen Kommunen, Dutzende von Hochschul- und Wissenschaftskooperationen. Es gibt einen lebhaften, wechselseitig befruchtenden Kulturaustausch und intensive, weiter wachsende Handelsbeziehungen sowie inzwischen regelmäßige Regierungskonsultationen zwischen unseren beiden Ländern. An all das war vor 65 oder 60 Jahren nicht einmal zu denken gewesen.

Ganz besonders beeindruckend, geradezu wunderbar: Jüdisches Leben ist nach Deutschland zurückgekehrt. Nach der Schoah schien es unvorstellbar, dass es in Deutschland jemals wieder blühende jüdische Gemeinden geben könnte. Mittlerweile wachsen die jüdischen Gemeinden in Deutschland, und jede Synagoge, die neu oder wieder eröffnet wird, bringt uns ein Stück näher zu dem Ziel, das Paul Spiegel hoffnungsvoll die „Renaissance des Judentums“ genannt hat. Wir sind dankbar für jede junge Pflanze wiedererwachenden jüdischen Lebens und jüdischer Kultur.

Ihnen, Herr Staatspräsident, sind wir besonders dankbar, dass Sie an diesem Tag zu uns sprechen werden.

Meine Damen und Herren, Feliks Tych hat den Holocaust überlebt. Er überlebte dank falscher Papiere als angeblich verwaister Neffe einer polnischen Lehrerin. Seine Eltern und seine Geschwister wurden ermordet. In seiner Person treffen sich die Dimensionen von persönlichem Schicksal und akademisch-distanzierter Analyse, weil Herr Tych Opfer, Zeitzeuge und Historiker zugleich ist.

Professor Tych hat in Warschau das Jüdische Historische Institut geleitet und zu einem eindrucksvollen archivalischen und musealen Zentrum entwickelt, mit der Aufarbeitung der Bestände des Untergrundarchivs des Warschauer Gettos. Er hat das erste polnische Schulbuch über den Holocaust im besetzten Polen redigiert. Intensiv hat er sich mit der Frage befasst, welche Folgen der Holocaust für die Gesellschaften Polens und anderer mittel- und osteuropäischer Staaten hatte und bis heute hat. „Der lange Schatten des Holocaust“, so lautet der Titel eines seiner Bücher.

Vor allem ist Professor Tych auch der Frage nachgegangen, was es für das polnische Volk bedeutet, gezwungenermaßen zu unmittelbarer Zeugenschaft eines Völkermordes zu werden. Ich darf ihn zitieren:

Wem [in Deutschland] sehr daran lag, nicht zu wissen,
zu welchem Zweck oder mit welchem Ziel die Juden
aus Deutschland, Österreich, Holland, Belgien oder
Frankreich nach Osten abtransportiert wurden, musste
es nicht wissen oder konnte vorgeben, nichts zu
wissen. Diese Tatsache war - wie wir alle sehr wohl
wissen - von beträchtlichem Einfluss auf die
Erinnerungen aus der Kriegszeit. Doch in Polen, im
Baltikum, in der Ukraine oder in Weißrussland war es
unmöglich, nichts zu wissen; selbst vortäuschen
konnte man sich nichts.

Dies hat die Bevölkerung in den besetzten Staaten - ich zitiere weiter Professor Tych -

am stärksten den moralischen Folgen des Holocaust
ausgesetzt. In diesem Sinne gehören die Polen …
unbewusst zu den moralischen Opfern des Holocaust,
während die Juden seine physischen Opfer waren.

Ende eines bemerkenswerten Zitats.

Auch in den deutsch-polnischen Beziehungen sind der Holocaust, die Verbrechen des nationalsozialitischen Regimes auf immer Teil der Geschichte, vor der wir die Augen nicht verschließen. Für Ihre erhellenden, klugen Analysen danken wir Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Tych, und besonders für Ihre Bereitschaft, heute zu uns zu sprechen.

Meine Damen und Herren, Holocaust und Massenmord waren keine Naturkatastrophe; auch keine höhere Macht ist dafür verantwortlich zu machen. Daran müssen wir uns stets erinnern und Wege finden, diese Verbrechen der nachwachsenden Generation zu erklären. Erfreulicherweise gibt es heute unter jungen Leuten ein großes Interesse daran. Junge Leute wollen wissen, was geschehen ist und warum es geschehen konnte. Auch in diesem Jahr hat der Deutsche Bundestag deshalb wieder rund 80 junge Leute zu einer Jugendbegegnung eingeladen. Sie alle begrüße ich herzlich und mit besonderem Respekt - stellvertretend für alle Ehrengäste dieser Veranstaltung - Maria Blitz, die mit ihren Söhnen Leo und Andrew sowie dem Enkel Brian mit jetzt beinahe 92 Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben nach Berlin gekommen ist.

Maria Blitz überlebte das Krakauer Getto, die Konzentrationslager sowie das Arbeitslager. Schließlich konnte sie dem Todesmarsch von Königsberg zur Samländischen Ostseeküste und so dem Massaker von Palmnicken Anfang 1945 entfliehen. Seit 1949 lebt sie in den USA.

Je weiter der Holocaust in die Vergangenheit rückt, je weniger Zeitzeugen unter uns leben, je mehr Menschen in unserer Gesellschaft leben, die anderer Herkunft sind, andere kulturelle Wurzeln und eine andere Sozialisation haben, desto wichtiger wird es, das Bewusstsein für die besondere geschichtliche Verantwortung Deutschlands wachzuhalten. Dazu gehören der Erhalt und die Pflege authentischer Orte, Orte, an denen wir dem Leid der Opfer nachspüren können, genauso wie Orte, an denen sich die Verbrechen der Täter dokumentieren lassen. Ein solcher Ort wird die Dokumentationsstätte „Topographie des Terrors“ sein. Hier werden nationalsozialistischen Verbrechen konkrete Adressen und Personen zugeordnet, hier wird die europäische Dimension der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft sichtbar, hier wird erfahrbar, von wo aus und von wem die Befehle zu millionenfachem Mord ausgingen; darunter auch der Befehl, Auschwitz zu errichten, Anfang 1940, vor genau 70 Jahren.

Meine Damen und Herren, es ist erst 70 Jahre her, und daran wollen wir auch und gerade 20 Jahre nach Wiederherstellung der Einheit unseres Landes erinnern.