Rede des Präsidenten des Staates Israel Shimon Peres im Deutschen Bundestag am 27. Januar 2010
- ES GILT DAS GESPROCHENE WORT -
Ich stehe heute vor Ihnen als Präsident des Staates Israel, der Heimstätte des jüdischen Volkes.
Und während es mein Herz zerreißt, wenn ich an die Gräueltaten der Vergangenheit denke, blicken meine Augen in die gemeinsame Zukunft einer Welt von jungen Menschen, in der es keinen Platz für Hass gibt. Eine Welt, in der die Worte „Krieg“ und „Antisemitismus“ nicht mehr existieren.
Sehr verehrte Anwesende,
in unserer Jahrtausende alten jüdischen Tradition findet sich ein Gebet in der aramäischen Sprache, dass in Erinnerung an die Toten gesagt wird, im Andenken an Väter und Mütter, Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern.
Dieses weit über tausend Jahre alte jüdische Gebet konnten weder die Mütter sprechen, deren Säuglinge ihrer Armen entrissen wurden, noch die Väter, die ihren Kindern einen letzten Blick zuwarfen, bevor sie in die Gaskammern gepfercht wurden, noch hörten es die Kinder, die im Krematorium in Rauch aufgingen.
Ich möchte, meine Damen und Herren, jetzt und hier die ersten Worte dieses Kaddisch-Gebets im Namen des jüdischen Volkes, und zu Ehren und im Andenken an die sechs Millionen Juden, die zu Asche wurden, zu rezitieren:
„Erhoben und geheiligt werde Sein großer Name in der Welt,
die Er nach Seinem Willen erschaffen,
und Sein Reich erstehe in eurem Leben und in euren Tagen,
und dem Leben des ganzen Hauses Israel, schnell und in naher Zeit.
Sprechet: Amen“
Das Gebet endet mit den folgenden Worten, die im Staat Israel zum Symbol geworden sind und zu einem Traum für das jüdische Volk schlechthin wurden:
„Der der Frieden in seinen Himmelshöhen stiftet, stifte Frieden unter uns und ganz Israel. Sprechet: Amen“
Meine Freunde, Gesandte des deutschen Volkes und dessen Vertreter,
im Staat Israel und überall auf der Welt weilen immer weniger Überlebende der Shoa unter uns. Ihre Zahl nimmt täglich ab.
Und gleichzeitig leben auf deutschem Boden, in Europa und anderswo auf der Welt noch immer Menschen, die damals dieses schrecklichste Ziel verfolgten - den Völkermord. Ich bitte Sie: tun Sie alles, um diesen Verbrechern ihre gerechte Strafe zu erteilen.
In unseren Augen handelt es sich nicht um Rache. Es geht um Erziehung. Es sollte eine Stunde der Gnade für die jüngeren Generation sein. Die Jugend muss sich erinnern, darf nicht vergessen und muss wissen, was geschehen ist. Sie darf niemals, wirklich niemals, an etwas anderes glauben, sich andere Ziele setzen als Frieden, Versöhnung und Liebe.
Heute begehen wir den internationalen Gedenktag für die Opfer der Shoa. Genau heute vor 65 Jahren schien nach sechs Jahren Dunkelheit zum ersten Mal die Sonne. Die ersten Sonnenstrahlen legten das Ausmaß der Zerstörung, die mein Volk erlitten hatte, für alle bloß.
An diesem Tag stieg der Rauch noch aus den Krematorien auf, und Blut und Asche bedeckten das Lager Auschwitz-Birkenau. Jetzt war es still auf dem Bahnsteig. Die „Selektionsrampe“ war menschenleer. Im Tal des grauenhaften Mordes breitete sich trügerische Ruhe aus. Das Ohr nahm nur die Stille wahr, doch aus den Tiefen der vereisten Erde wurde ein Schrei hörbar, der das menschliche Herz zerriss und bis zum gleichgültig schweigenden Himmel aufstieg.
Der 27. Januar 1945 kam zu spät. Sechs Millionen Juden waren bereits nicht mehr unter den Lebenden. Dieser Tag symbolisiert nicht nur die Erinnerung an die Ermordeten, nicht nur das Schuldgefühl der Menschheit im Angesicht dieser nicht fassbaren Schreckenstaten, sondern auch die Tragödie des Versäumnisses.
Dies ist unsere Lehre aus einer Zeit, als die in Flammen lodernde Welt derartig abgelenkt war, dass die Mordmaschine tagein-tagaus weiterarbeiten konnte, jahrein-jahraus, ungestört.
Drei Jahre zuvor, am 20. Januar 1942, kam unweit von hier in der „Villa am Wannsee“, am Ufer dieses schönen Sees, eine Gruppe hochrangiger Offiziere und Beamte unter Reinhard Heydrich zusammen, um die „Endlösung der Judenfrage“ zu planen und in die Tat umzusetzen.
Adolf Eichmann arbeitete fleißig an einem Dokument zur Erfassung der Zielbevölkerung, die zur Vertreibung und Ausrottung bestimmt war. Dazu zählte die gesamte Judenheit Europas. Von den drei Millionen polnischen, ukrainischen und sowjetischen Juden, bis zu den 200, die im kleinen Albanien lebten. Elf Millionen Juden wurden zum Tode verurteilt. Die Nazis arbeiteten effizient, und der Weg führte von der „Villa am Wannsee“ direkt in die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz.
Ich stehe heute, an diesem Gedenktag, vor Ihnen, verehrte Zuhörer, vor Führungspersönlichkeiten und Vertretern eines anderen, demokratischen Deutschlands - als Vertreter des jüdischen Staates, des Staates der Überlebenden, des Staates Israel. Mir sind die Tragweite und die erschütternde Bedeutung dieser Sitzung bewusst, und ich hoffe und bin sicher, Ihnen geht es ebenso.
Vor meinem geistigen Auge steht die prächtige Gestalt meines von mir so bewunderten Großvaters, Rabbi Zwi Meltzer, ein würdiger und schöner Mann, dessen Lieblingsenkel ich war. Er war mein Lehrer und Erzieher.
Er lehrte mich die Thora. Ich sehe ihn noch vor mir mit seinem weißen Bart und seinen dunklen Augenbrauen, eingehüllt in den Gebetsmantel, inmitten aller Betenden in der Synagoge, in meinem Geburtsstädtchen Wiszniewo in Weißrussland.
Ich hüllte mich damals ebenfalls in den Gebetsmantel meines Großvaters und lauschte aufgeregt seiner schönen klaren Stimme. Noch heute klingt das Echo seiner Stimme in meinem Ohr, das „Kol Nidrei“ Gebet am Versöhnungstag, in den Stunden und Momenten, wo nach dem jüdischen Glauben das Schicksal jedes Einzelnen vom Allerheiligsten festgelegt wird, ob ihn der Tod oder das Leben erwartet.
Ich erinnere mich, wie er am Bahnsteig stand, von wo aus der Zug mich, den elfjährigen Jungen, von unserem Dorf ins Heilige Land Israel bringen sollte. Ich erinnere mich an seine überschwängliche Umarmung. Und ich erinnere mich an seine letzten Worte, die mir befahlen: „Mein Junge, bleib immer ein Jude!“
Die Lokomotive pfiff und die Bahn fuhr los. Ich blickte meinem Großvater durchs Fenster nach, bis seine Gestalt verschwand.
Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.
Als die Nazis in Wiszniewo einmarschierten, befahlen sie allen Juden, sich in der Synagoge zu versammeln. Mein Großvater ging als erster hinein, eingehüllt in denselben Gebetsmantel, in den ich mich als Kind schon eingewickelt hatte. Seine Familie folgte ihm. Die Türen wurden von draußen verriegelt, und das Holzgebäude wurde angezündet. Von der gesamten Gemeinde blieben nur glühende Asche und Rauch.
Keiner hat überlebt.
Meine verehrten Anwesenden,
die Shoa wirft schwierige Fragen zur tiefsten Seele des Menschen auf. Wie böse kann der Mensch sein? Wie gelähmt ein ganzes Volk? Ein kulturelles Volk, das auch die Philosophie respektierte?
Zu welchen Gräueltaten ist der Mensch fähig? Wie kann er seinen moralischen Kompass abstellen? Die Logik lähmen? Wie kann ein Volk sich als „Herrenrasse“ betrachten, und den Mitmenschen als null und nichtig?
Noch heute stellt sich die Frage, weshalb die Nazis in der Existenz der Juden eine solche Gefahr und Bedrohung sahen. Was brachte sie dazu, in diese Todesindustrie derart viel zu investieren? Wieso setzten die Nazis ihren Plan bis zum bitteren Ende fort, obwohl die Niederlage sich schon längst am Horizont abzeichnete? Waren die Juden eine Bedrohung für das „Tausendjährige Reich“? Konnte ein verfolgtes Volk, von den Stiefeln der Täter zertrampelt, die mörderische Kriegsmaschine der Nazis aufhalten? Wie viele Divisionen standen den Juden Europas zur Verfügung? Wie viele Panzerwagen, Kampfflugzeuge, wie viele Gewehre?
Meine Damen und Herren,
der Hass der Nazis lässt sich durch reinen „Antisemitismus“ nicht erklären. Der Antisemitismus ist ein abgedroschener Begriff und keine Erklärung für die mörderische, bestialische Begeisterung, die zwanghafte Entschlossenheit des Nazi-Regimes, die Judenheit auszurotten.
Der eigentliche Zweck des Krieges war doch die Erlangung der Macht über Europa und nicht die Begleichung einer historischen Rechnung mit den Juden.
Und wenn wir Juden in den Augen des Hitler-Regimes eine so bedrohliche Gefahr waren, dann handelte es sich doch bestimmt um keine militärische, sondern eine moralische Bedrohung. Dabei wurde auch der Glaube geleugnet, dass jeder Mensch im Antlitz Gottes erschaffen ist; dass jeder Mensch vor Gott gleich ist, dass alle Menschen ebenbürtig sind.
Selbst unbewaffnet wird ein Jude für die Heiligkeit des göttlichen Namens einstehen. Seit Anbeginn seiner Existenz ist das jüdische Volk den Geboten: „Morde nicht!“, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ und „Suche den Frieden und jage ihm nach!“ verpflichtet. - Unter allen Umständen und überall.
Den gutgläubigen Juden, der an diese Gebote glaubt, sehe ich jetzt vor mir in Gestalt meines gütigen Großvaters, des wertvollsten und ehrlichsten Menschen, den es je gab. Die Nazis wollten ihn entmenschlichen. Sie verbrannten ihn und seine Brüder lebendig. Das Feuer vertilgte ihren Körper, doch nicht ihren Geist.
Die Nazis versuchten, uns Juden in ihren schrecklichen Propagandafilmen und im „Stürmer“ als Parasiten, Höhlenratten und Verbreiter von Krankheiten darzustellen. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, die Werte von Gerechtigkeit und Gnade zu vergessen und sie in Vergessenheit geraten zu lassen.
Als Jude trage ich für immer den Stempel des Schmerzes über den Mord an meinen Brüdern und Schwestern. Als Israeli beweine ich die tragische Verzögerung der Entstehung des Staates Israel, weswegen mein Volk ohne Zufluchtsstätte blieb.
Als Großvater kann ich den Verlust von 1,5 Millionen Kindern nicht verschmerzen - das ungeheure menschliche Potenzial, ohne dessen Verlust das Schicksal Israels anders ausgesehen hätte.
Ich bin stolz darauf, dass wir der Erzfeind der Nazi-Verbrechen sind. Ich bin stolz auf das Erbe unserer Väter - das Gegenteil jeder Rassenlehre. Ich bin stolz auf die Gründung des Staates Israel, die moralische und historische Antwort auf den Versuch, das jüdische Volk von der Erde zu tilgen.
Ich danke dem Allerheiligsten für diejenigen Völker, die diesem Wahnsinn, dem Bösen und der Grausamkeit ein Ende setzten.
Die Shoa muss dem menschlichen Gewissen stets als ewiges Warnzeichen vor Augen stehen; als Verpflichtung zur Heiligkeit des Lebens, zur Gleichberechtigung aller Menschen, zu Freiheit und Frieden. Die Ermordung der Juden Europas durch Nazi-Deutschland darf nicht als ein astronomisches „schwarzes Loch“ betrachtet werden, als ein Todesstern, der das Licht schluckt und die Vergangenheit gemeinsam mit der Zukunft verschlingt.
Die Shoa darf uns aber auch nicht davon abhalten, an das Gute zu glauben. An die Hoffnung, an das Leben.
Heute, am internationalen Gedenktag für die Opfer der Shoa, frage ich mich, wie die Juden Europas in unserem Gedächtnis hätten verbleiben wollen. Nur durch den Rauch der Krematorien? Sollten wir uns nicht auch das Leben vor der Shoa in Erinnerung rufen?
Würden die Millionen Juden Europas über eine kollektive Stimme verfügen, würde diese Stimme uns und Sie alle auffordern, den Blick auf die Zukunft zu richten. Zu verwirklichen, was diese Opfer hätten tun können, wenn ihnen nicht die Gelegenheit dazu genommen worden wäre. Neu zu erschaffen, was wir durch ihren Tod verloren haben.
Nehmen wir als Beispiel den Schöpfungsgeist der deutschen Juden, die sich mit ihrem Heimatland identifizierten, und deren Beitrag zur Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und für Deutschland überhaupt so bedeutungsvoll war, dass er in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Größe der jüdischen Gemeinde stand.
Die Juden Europas haben die Wissenschaft, Technologie, Wirtschaft, Literatur und Kunst dieses Kontinents ungemein bereichert, da sie nach der Vertreibung aus verschiedenen europäischen Ländern zu einem belesenen Nomadenvolk von Handwerkern und mehrsprachigen Kaufleuten wurden. Ein Volk von Ärzten, Schriftstellern, Wissenschaftlern und Künstlern. Ein Volk, das mit Persönlichkeiten gesegnet war, welche die deutsche Kultur, und die Welt im Allgemeinen, bereicherten.
Ich bin überwältigt, wenn ich an die vielen Philosophen und Erfinder denke, die aus den jüdischen Dörfern, den jüdischen Ghettos und dem jüdischen Bürgertum in die Universitäten strömten, sobald ihnen der Zugang gewährt wurde.
Wie durch ein Wunder erschienen Albert Einstein, Sigmund Freud, Martin Buber, Karl Marx, Hermann Cohen, Hannah Arendt, Heinrich Heine und Moses Mendelssohn, Rosa Luxemburg, Walther Rathenau, Stefan Zweig und Walter Benjamin.
Trotz ihrer Verschiedenheit ist allen der nicht zu unterschätzende Beitrag zum menschlichen Gedankengut gemein, sowie ihr außergewöhnlicher Einfluss auf die Moderne. Sie richteten den Blick Deutschlands, Europas, ja, der gesamten Welt auf eine neue Zukunft.
Und nun zur bedeutendsten aller Lehren: „Nie wieder“. Nie wieder eine Rassenlehre. Nie wieder ein Gefühl von Überlegenheit. Nie wieder eine scheinbar gottgegebene Berechtigung zur Hetze, zum Totschlag, zur Erhebung über das Recht. Nie wieder zur Verleugnung Gottes und der Shoa.
Nie wieder dürfen blutrünstige Diktatoren ignoriert werden, die sich hinter demagogischen Masken verbergen und mörderische Parolen von sich geben.
Meine Freunde, Vertreter des deutschen Volkes,
die Drohungen, unser Volk und unseren Staat zu zerstören, werden im Schatten von Massenvernichtungswaffen ausgestoßen, die im Besitz irrationaler Menschen sind, die nicht zurechnungsfähig sind und die nicht die Wahrheit sprechen.
Um eine zweite Shoa zu verhindern, ist es an uns, unsere Kinder zu lehren, Menschenleben zu achten und Frieden mit anderen Ländern zu wahren. Die junge Generation muss lernen, jede einzelne Kultur, und die universellen Werte zu respektieren. Die Zehn Gebote müssen immer wieder neu gedruckt werden.
Lasst uns Licht ins Dunkel bringen; lasst uns Teleskope und Mikroskope auf die Geheimnisse der Wissenschaft richten, die dem menschlichen Körper und Geist Heilung bringen können. Wir benötigen Nahrung für die Hungrigen, Wasser für die Durstigen, Luft zum Atmen und Weisheit für die Menschheit.
Mit dem Ende des Britischen Mandats rief David Ben-Gurion, der Wegbereiter der sich erneuernden Nation, den Staat Israel aus. Die Araber wiesen die UNO-Resolution zurück und ihre Armeen griffen Israel an. Und so griffen sieben arabische Heere Israel nur wenige Stunden nach seiner Unabhängigkeitserklärung an, um den noch kaum entstandenen Staat sofort wieder zu zerstören.
Wir standen ihnen alleine gegenüber. Wir hatten keine Verbündeten, und waren trotz allem die letzte Hoffnung des jüdischen Volkes auf Sicherheit. Hätten wir den Krieg verloren, wäre dies vielleicht das Ende unseres Volkes gewesen.
Die israelische Armee siegte in diesem aussichtslosen Kampf, in dem historische Gerechtigkeit und menschlicher Mut sich vereinten. In den Reihen der israelischen Streitkräfte kämpften bereits in diesem Krieg Überlebende der Shoa, die erst kurz zuvor die sichere Küste Israels erreicht hatten und sich schon während der Schlachten den anderen Soldaten anschlossen. Einige fielen an der Front.
Während Israel noch die Kriegswunden leckte, begann das kleine Land bereits, als erste Priorität, seine Tore den Überlebenden der Shoa und den vielen jüdischen Flüchtlinge aus arabischen Ländern zu öffnen. Alle anderen Tore blieben für sie verschlossen.
Meine sehr verehrten Anwesenden,
wir erinnern uns noch gut, wie uns damals, als unsere Wunden noch bluteten, von unerwarteter Seite Hilfe angeboten wurde - nämlich vom neuen Deutschland.
Zwei historische Persönlichkeiten reichten sich über dem Abgrund die Hand:
Kanzler Konrad Adenauer, der Vater der demokratischen Bundesrepublik, und David Ben-Gurion, Gründer und erster Ministerpräsident des Staates Israel.
Am 27. September 1951 hielt Kanzler Adenauer eine Rede im Bundestag. Er sprach von der Verantwortung des deutschen Volkes für die Verbrechen des Dritten Reiches, seine Verantwortung dem jüdischen Volk gegenüber, und über die Bereitschaft seiner Regierung, die Juden für den Raub ihres Besitzes zu entschädigen und dem jungen Staat beim Aufbau unter die Arme zu greifen.
Der Entschluss der israelischen Regierung, mit der deutschen Regierung direkt zu verhandeln, führte zu einer noch nie dagewesenen Protestwelle unter den Juden in der Welt. Überlebende mit eintätowierten Todesnummern der Vernichtungslager bewarfen das israelische Parlament mit Steinen, aber es gab auch solche, die Ben-Gurion unterstützten.
Doch Ben-Gurion bestand auf seinem Entschluss: Es gibt ein anderes Deutschland, mit dem wir über die Zukunft, und nicht nur über die Vergangenheit reden müssen. Schweren Herzens stimmte die Knesset zu. Die Reparationen aus Deutschland halfen Israel aus seiner Notlage und leisteten einen wesentlichen Beitrag zur schnellen Entwicklung des Landes.
Ich hatte damals, als junger Mann, die Ehre, Ben-Gurions Assistent und später im Verteidigungsministerium sein Stellvertreter zu werden. Ich lernte, dass das sich im Aufbau befindende Israel seine Kinder beschützen muss.
Auch in diesem Fall zeigten die Deutschen Verständnis für uns und belieferten uns mit Ausrüstung zu unserer Verteidigung. Zwischen Deutschland und Israel hat sich seither eine einzigartige Freundschaft entwickelt.
Diese Freundschaft führt aber nicht dazu, dass wir die Shoa vergessen, sondern wir sind uns der Finsternis, die im Todestal der Vergangenheit herrschte, bewusst; auch im Angesicht der gemeinsamen, klaren Entscheidung, unseren Blick nach vorne zu richten - zum Horizont der Hoffnung und in eine bessere Welt.
Die Brücke über dem Abgrund wurde mit schmerzenden Händen und Schultern, die dem Gewicht der Erinnerung kaum standhielten, aufgebaut und sie steht auf starken, moralischen Grundfesten.
Unseren ermordeten Brüdern und Schwestern haben wir ein lebendiges Mahnmal errichtet: Mit den Pflügen, die eine Wüste in fruchtbare Plantagen umwandeln. Mit Labors, die neues Leben entdecken. Mit Waffen, die unsere Existenz sichern. Und mit einer kompromisslosen Demokratie.
Wir waren und sind der Überzeugung, dass das neue Deutschland alles in seiner Macht Stehende tun wird, damit der jüdische Staat sich nie mehr alleine einer Gefahr ausgesetzt sehen muss. Mörderische und überhebliche Diktaturen sollen ihr böses Haupt nicht wieder erheben dürfen.
Ich danke Ihnen.
Von Konrad Adenauer, der mit David Ben-Gurion eine gemeinsame Sprache fand, bis zum Kniefall Willy Brandts im Andenken an die Helden des Warschauer Ghettos. Und Sie, Abgeordnete des Bundestages und des Bundesrates, von Helmut Schmidt bis Helmut Kohl, und andere Führungspersönlichkeiten, Sie haben die Grundmauern gefestigt und dem Bau noch weitere Steine der Freundschaft hinzugefügt.
Gesellschaftspolitische Institutionen, Wirtschaftsorganisationen, Kulturzentren, Intellektuelle, Entscheidungsträger und Praktiker - sie alle haben dieses außergewöhnliche Freundschaftsgewebe bereichert.
Danke und nochmals vielen Dank.
Sie, Herr Bundespräsident Horst Köhler, sagten in der Knesset in Jerusalem „Die Verantwortung für die Shoa ist Teil der deutschen Identität“. Wir rechnen Ihnen das hoch an.
Und Sie, Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel, haben die Herzen unseres Volkes mit Ihrer Aufrichtigkeit und Wärme erobert. Sie erklärten vor den beiden Kammern des US-amerikanischen Kongresses: „Ein Angriff auf Israel kommt einem Angriff auf Deutschland gleich“. Diese bewegenden Worte unverbrüchlicher Unterstützung werden wir niemals vergessen.
Meine sehr verehrten Anwesenden, meine Damen und Herren,
beinahe 62 Jahre sind seit der Gründung des Staates Israel vergangen. Wir haben die Prüfung von neun Kriegen überstanden. Wir haben Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien geschlossen.
Den Ländern, mit denen wir in Frieden leben, haben wir alle Gebiete, die uns während der Kriege in die Hände fielen, zurückgegeben. Jetzt sind wir ein kleines Land mit wenigen Rohstoffen. Unsere Erde ist sehr störrisch. Und dennoch ist uns die Entwicklung einer Landwirtschaft gelungen, die zu den weltbesten zählt. Statt der Rohstoffe haben wir technologisches und wissenschaftliches Know-How, das uns an die Spitze der wissenschaftlichen Forschung katapultiert hat und die Größe unseres Landes kompensiert.
Unser Volk kam aus allen Ecken der Diaspora. Heute befindet sich die Mehrheit der Juden in Israel. Wir sind zu unserer Sprache zurückgekehrt. Wir sind das einzige Land in unserer Region, dessen Kinder sich in derselben antiken Sprache wie ihre Vorfahren vor über 3000 Jahren unterhalten - in Hebräisch, der Sprache des Alten Testaments.
Die jüdische Geschichte verläuft weiterhin auf zwei parallelen Achsen:
Auf der einen Seite die ethische, die bereits in den Zehn Geboten festgehalten ist, diesem Dokument, das vor ungefähr 3500 Jahren niedergeschrieben wurde und seither nicht mehr redigiert werden musste. Es gehört zum Fundament der westlichen Kultur.
Und andererseits die wissenschaftliche Achse, deren Ziel die Ergründung der Geheimnisse ist, die dem menschlichen Auge bisher verborgen blieben, und die unser Leben zu ändern vermögen.
Israel ist ein jüdischer und demokratischer Staat, in dem rund 1,5 Millionen gleichberechtigte arabische Bürger leben. Wir werden es nicht zulassen, dass jemand wegen seiner Nationalität oder Religion diskriminiert wird.
Wir haben die Weltwirtschaftskrise überwunden und befinden uns wieder im Wachstum. Unsere Kultur ist gleichermaßen modern wie traditionell. Die israelische Demokratie ist lebendig. Bei uns gibt es keine Flauten, und selbst in Kriegszeiten bleibt diese Demokratie bestehen.
Unsere Siege haben jedoch den Gefahren kein Ende gesetzt. Es gelüstet uns nicht nach Gebieten, die uns nicht gehören. Und wir hegen auch kein Interesse, ein anderes Volk zu beherrschen, dürfen aber unsere Augen trotz allem nicht verschließen. Unser nationales Begehren ist klar und eindeutig: Frieden mit unseren Nachbarn zu erreichen.
Meine Damen und Herren,
Sie wissen, dass Israel dem Grundsatz „zwei Staaten für zwei Völker“ zustimmt. Wir haben im Krieg einen Preis bezahlt, und zögerten nicht, auch für den Frieden einen Preis zu zahlen.
Auch jetzt sind wir bereit, auf Gebiete zu verzichten, um mit den Palästinensern Frieden zu schließen. Sie sollen einen eigenen Staat errichten, einen unabhängigen, gedeihenden und friedliebenden Staat.
Ebenso wie unsere Nachbarn identifizieren auch wir uns mit den Millionen Iranern, die gegen die Diktatur und Gewalt rebellieren. Genau wie sie lehnen wir ein fanatisches Regime ab, das die Charta der Vereinten Nationen missachtet. Ein Regime, das mit Zerstörung droht und Atomkraftwerke und Nuklearraketen besitzt, mit denen es sein eigenes Land wie auch andere Länder terrorisiert. Ein solches Regime ist eine Gefahr für die ganze Welt.
Wir möchten von der Europäischen Gemeinschaft lernen. Sie, die den Kontinent von tausend Jahren Krieg und Not befreit und jungen Menschen ermöglicht hat, den Hass ihrer Vorväter gegen Solidarität unter den Jungen einzutauschen. Wir können viel aus Ihrer Erfahrung lernen, und möchten von einem Nahen Osten träumen, in dem alle Länder bereit sind, den Konflikt ihrer Eltern gegen den Frieden für ihre Nachkommen einzutauschen.
Wir möchten eine regionale moderne Wirtschaft aufbauen, um aktuellen Problemen, die uns allen gemeinsam sind, zu begegnen: Hunger, Verwüstung, Krankheit, Terror. Eine Zusammenarbeit bei wissenschaftlichen Projekten würde die Lebensqualität und den Lebensstandard aller verbessern.
Der uns allen gemeinsame Gott ist der Gott des Friedens. Nicht der Gott des Krieges.
Sehr verehrte Anwesende,
ich stehe heute vor Ihnen im Glauben, dass es in Ihrer und auch unserer Macht steht, den Lauf der Geschichte zu ändern. Ich glaube daran, dass der Frieden in Reichweite ist. Drohungen gegen Israel werden uns nicht von diesem Weg abbringen.
Ich stehe heute vor Ihnen als Sohn eines Volkes, das bereit ist, alles Menschenmögliche zu tun, um eine bessere Welt zu schaffen, in welcher der Mensch dem Menschen ein Mensch ist.
Der internationale Gedenktag für die Opfer der Shoa ist ein Tag der Andacht und des In-Sich-Gehens. Eine Stunde der Erziehung und der Hoffnung.
Ich habe mit dem Kaddisch-Gebet begonnen, und möchte mit unserer Nationalhymne, der „Hatikwa“ - der Hoffnung - schließen:
„Solange ist unsere Hoffnung nicht verloren,
die Hoffnung, 2000 Jahre alt,
zu sein ein freies Volk in unserem Land,
im Lande Zion und Jerusalem!“
Wir wagen den Traum, und ich bin überzeugt, Sie wagen ihn mit uns: Gemeinsam werden wir diesen Traum auch verwirklichen.