Geschichte

Chorgesang im Bundestag am 9. November 1989

Am Abend des 9. November 1989 einem Donnerstag, teilen sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht in Fraktionen, sondern in Sopran, Alt, Tenor und Bass (Video). Als um kurz nach 20 Uhr die Nachricht vom Mauerfall in Berlin nach Bonn durchdringt, wird die Sitzung unterbrochen. Die Abgeordneten applaudieren, und singen spontan die Nationalhymne. Ihr Gesang wird in die Geschichte eingehen.

Normalität im Bundestag

Als die Abgeordneten der elften Wahlperiode zur 174. Sitzung im Bundestag eintreffen, ahnen sie noch nicht, dass sich die Politik Deutschlands wenige Stunden später von Grund auf verändern wird. Es ist eine Sitzung wie jede andere, die Abgeordneten verabschieden Reformgesetze zur Rentenversicherung und zur Beamtenversorgung (Drucksachen 11/4124, 11/4452).

Die Renten werden an die Entwicklung der Nettolöhne gekoppelt, die Altersgrenze schrittweise auf 65 Jahre angehoben. Zudem beraten sie über die Änderung des Beamtenversorgungsgesetzes und sonstiger dienst- und versorgungsrechtlicher Vorschriften (Drucksachen 11/5372, 11/5537).

Unverhofft kommt wie gehofft

Am Abend wird im Bonner Plenarsaal im Wasserwerk zum Thema „Verbesserung und Vereinfachung der Vereinsbesteuerung“ debattiert, als Günter Schabowski, Sprecher des SED-Zentralkomitees, in Berlin Geschichte schreibt. Schabowski verkündet auf seiner abendlichen Pressekonferenz überraschend die Öffnung der Grenze zur Bundesrepublik und zu West-Berlin. Kurz zuvor hatte ihm Egon Krenz, SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender der DDR, die neue Reiseregelung auf einem Zettel mitgegeben, allerdings mit einer Sperrfrist für den nächsten Tag.

Es ist etwa 20 Uhr als die Neuigkeit vom Mauerfall in den Bundestag dringt und Karl-Heinz Spilker, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die Meldung im Bonner Plenarsaal verliest: „Ab sofort können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen.“ Minutenlang hallt der Applaus der Abgeordneten durch den Saal. Dann hält Spilker, wie ursprünglich vorgesehen, seine Rede zum Vereinsförderungsgesetz. 

Um 20.22 Uhr unterbricht Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg (FDP) die Sitzung auf Wunsch der Fraktionsvorsitzenden bis 20.46 Uhr. In der Zwischenzeit informieren sich die Mitglieder des Bundestages über die Neuigkeiten. Kanzleramtschef Rudolf Seiters (CDU) und die Fraktionsvorsitzenden Dr. Alfred Dregger (CDU/CSU), Wolfgang Mischnick (FDP) und Dr. Hans-Jochen Vogel (SPD) eilen ins Plenum. Sie haben im Kanzleramt über den massiven Zustrom von DDR-Übersiedlern der vergangenen Wochen beraten.

Deutschland im Freudentaumel, auch im Bundestag

Bundesminister Rudolf Seiters gibt eine Regierungserklärung ab und sagt, dass die vorläufige Freigabe von Besuchsreisen und Ausreisen aus der DDR ein „Schritt von überragender Bedeutung“  sei. Im Anschluss würdigen die Fraktionsvorsitzenden aller Parteien den Ost-Berliner Reisebeschluss. Die Mauer habe nach 28 Jahren ihre Funktion verloren, sagt Hans-Jochen Vogel (SPD). Auch Alfred Dregger (CDU/CSU) begrüßt den Erfolg, den die Demonstranten in der DDR mit dem Ende der Mauer erreicht haben: „Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.“

Dr. Helmut Lippelt (Die Grünen) fügt hinzu, dass damit der unwürdige Weg über Drittländer überflüssig geworden sei. Zuletzt spricht FDP-Fraktionsvorsitzender Mischnick über Mut, Entschlossenheit und freie Wahlen. Nach Mischnicks Rede stimmen drei Abgeordnete der Union spontan die Nationalhymne an – die CDU-Abgeordneten Hermann Josef Unland aus Nordrhein-Westfalen (1929-2015) und Franz Sauter aus Baden-Württemberg sowie der CSU-Abgeordnete Ernst Hinsken aus Bayern.

Jochen Feilcke erinnert sich

So hat es der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hans-Peter Schwarz (1934-2017) in dem von ihm herausgegebenen Buch „Die Fraktion als Machtfaktor“ dargestellt (S. 177 ff.). Das Buch erschien 2009 zum 60. Jubiläum der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Eine andere Erinnerung hat der ehemalige Berliner CDU-Bundestagsabgeordnete Jochen Feilcke, der dem Bundestag von 1983 bis 1998 angehörte.

In der „spannungsgeladenen Sitzung“ habe er sich mit seinem Hamburger Fraktionskollegen Gunnar Uldall (1940-2017) unterhalten. Uldall habe ihn gefragt: „Was hätten wohl unsere Vorväter in einer derartigen Situation getan?“ Er habe spontan geantwortet: „Sie hätten die Hymne gesungen.“ Feilcke daraufhin: „Nach der Rede von Rudolf Seiters werden wir die Hymne anstimmen.“ 

Gespannt hätten sie das Ende der Reden abgewartet, um dann sofort das Lied der Deutschen anzustimmen: „Zwar nicht mit schmetterndem Gesang, aber doch unüberhörbar.“ Feilcke bedauernd: „Leider kann Gunnar Uldall diese Version nicht mehr bezeugen – aber sie stimmt. Jeder von uns war damals mit Begeisterung dabei (...).“

Willy Brandt kämpft mit den Tränen

Jedenfalls erheben sich damals die Abgeordneten von ihren Plätzen und singen mit. Eine sichtlich gerührte Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger (SPD) bricht auf Antrag des Parlamentarischen Geschäftsführers der SPD-Fraktion, Dr. Gerhard Jahn, unter allgemeinem Beifall die Sitzung um zehn nach neun ab. Willy Brandt (SPD), der als Regierender Bürgermeister von Berlin den Mauerbau miterlebt hat, kämpft mit den Tränen.

Kohl am falschen Ort

Während in Bonn gesungen wird, ist Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl auf einem Staatsbankett in Warschau. „Herr Bundeskanzler, im Augenblick fällt gerade die Mauer“, teilt ihm sein Vertrauter Eduard Ackermann am Telefon aus Bonn mit. Als sein Regierungssprecher Hans Klein ihm die Nachricht kurz zuvor mitgeteilt hat, ist Kohl zu überrascht, um ihm zu glauben. Kohl fühlt sich zur falschen Zeit am falschen Ort und bricht seinen Besuch in Polen ab.

Am folgenden Abend spricht er bei einer zentralen Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin zu Zehntausenden Menschen aus Ost- und West-Berlin. Zum Abschluss der Kundgebung stimmt Kohl gemeinsam mit Altbundeskanzler Willy Brandt die dritte Strophe des Deutschlandlieds an. Politisch wurde ab November 1989 bis Oktober 1990 in der DDR und in der Bundesrepublik der Weg in Richtung deutsche Einheit beschritten.

Ein Stück Mauer im Bundestag

In der Nacht zum 13. August 1961 verriegelt die DDR mit Stacheldraht und Ziegelmauern die Grenzen zum Westen. Mehr als 150 Kilometer Mauer teilen die Millionenstadt Berlin. Die Sperranlagen und das „freie Schussfeld“ sind bis zum 9. November 1989 Normalität. Mindestens 136 Menschen sterben an der Mauer, vor allem in den ersten Jahren kommen fluchtwillige Ost-Berliner an Grenzübergängen ums Leben, als sie versuchen die DDR zu verlassen.

Die SED-Führung behauptete stets, die Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“ diene der Friedenssicherung. Heute ist die Mauer aus dem öffentlichen Raum fast ganz verschwunden. Nur kleine Reststücke erinnern nach 25 Jahren noch an sie. Auch im Deutschen Bundestag erinnert ein Mauer-Mahnmal an die Vergangenheit. Es liegt im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus am Ostufer der Spree – und damit direkt auf dem einstigen Mauerstreifen. Aus dem einstigen Bauwerk ist ein Baudenkmal geworden. (mas/vom/06.11.2024)